Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Kampagnen, Schweiz

Schweiz: Nichts bewegt sich bezüglich Lohnungleichheit

Eingereicht on 19. Juni 2023 – 16:31

Der Historiker Jean-François Marquis analysiert im folgenden Interview die Hintergründe der Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern und dekonstruiert einige gängige Vorstellungen zu diesem hartnäckigen und brennenden Problem. Das Gespräch wurde im Vorfeld des feministischen Streiks vom Mittwoch den 14. Juni von Achille Karangwa geführt.

Sind die Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen im Laufe des Lebens oder innerhalb von Unternehmen, sowie zwischen Sektoren, in denen mehrheitlich Männer oder mehrheitlich Frauen arbeiten, auf unterschiedliche Entscheidungen der beiden Geschlechter zurückzuführen? Sind sie zum Teil unerklärbar? Wie steht es um die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern in der Schweiz?

Der Bundesrat hat 2022 einen Bericht veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass im Jahr 2018 die Gesamtlücke beim Arbeitseinkommen während des gesamten Lebens 43,2 % betrug. Dies ist der dritthöchste Wert in Europa. Zum Vergleich: In Schweden liegt diese Lücke bei 23,5 %. Diese Unterschiede wirken sich auch auf die Rente aus: Die Rentenlücke zwischen Männern und Frauen betrug 2018 34,6%. Um diesen Unterschied einzuordnen, muss man sich auch vor Augen halten, dass laut den Daten des Bundesamtes für Statistik (BFS) die Gesamtarbeitszeit von Frauen, einschliesslich bezahlter und unbezahlter Arbeit, heute höher ist als die der Männer, nämlich 8,9 Milliarden Stunden gegenüber 8,5 Milliarden Stunden im Jahr 2020.

Die Lohnlücke betrug laut der jüngsten Analyse des BFS im Jahr 2020 18%. In diesem Fall wird der standardisierte Durchschnittslohn verglichen, der für die gleiche Anzahl Stunden berechnet wird und alle seine Komponenten (13. Monatslohn, Prämien usw.) einschliesst. Das macht für eine Frau 1’500 Franken weniger pro Monat aus für eine Vollzeitstelle! Seit 2014 gibt es keine wirkliche Verbesserung und es wird noch Generationen dauern, bis die lohnmässige Gleichstellung erreicht sein wird.

Man spricht vom erklärbaren und unerklärbaren Teil der Lohnlücke? Ist das überhaupt eine sinnvolle Unterscheidung?

Diese Unterscheidung ist Teil der Standardanalysemethoden. Das Problem ist ihre Interpretation! Sie geht davon aus, dass es zwischen Männern und Frauen Unterschiede in Bezug auf Alter, Funktion, Branche usw. gibt, die sich auf den Lohn auswirken: Chefs verdienen mehr als andere Lohnabhängige. Diese Unterschiede sollten berücksichtigt werden, um zu „isolieren“, was sich „nur“ durch den Geschlechterunterschied erklären lässt. Laut BFS bleibt die Hälfte der 18% Lohndifferenz „unerklärbar“, wenn man diese verschiedenen „erklärenden“ Faktoren berücksichtigt.

Das Problem ist, dass ein grosser Teil dieser Unterschiede auf Diskriminierung zurückzuführen ist. Beispielsweise stossen Frauen beim Zugang zu Führungspositionen an die gläserne Decke. Wenn man also erklärt, dass ein Teil des Lohngefälles durch die unterschiedliche Funktion erklärt wird, stellt man Unterschiede, die auf Diskriminierung zurückzuführen sind, als „normal“ dar.

Nach Ansicht der Rechten und der Unternehmer lässt sich zumindest ein Teil der Lohnlücke durch die Entscheidungen der Frauen erklären.

Die Mobilisierung der Frauen stellt für die Unternehmer und deren politische Agenturen eine Herausforderung dar, da sie die Macht der Unternehmer, die Löhne nach eigenem Ermessen festzulegen, teilweise einschränken will. Deshalb wollen sie die Gründe für diese Mobilisierung der Frauen in Frage stellen.

Zudem behaupten sie, dass die Lohnanalysen nicht genügend „erklärende“ Faktoren berücksichtigen würden. Ein freisinniger Nationalrat forderte beispielsweise, die Mutterschaft zu berücksichtigen… Das läuft darauf hinaus, dass Frauen weniger verdienen…  eben weil sie Frauen sind!

Zweitens behaupten sie, dass die niedrigen Löhne von Frauen die Folge ihrer Entscheidungen seien. Beispielsweise würden sie aus Bequemlichkeit Teilzeit arbeiten; dies würde ihre Möglichkeiten, Karriere zu machen oder Erfahrung zu sammeln, einschränken, was wiederum eine bessere Lohnentwicklung behindern würde. Aber wie sieht es in Wirklichkeit aus? Selbst wenn die Teilzeitarbeit „gewählt“ wird, um sich um die Kinder zu kümmern, stellt sich die Frage, ob sie nicht vielmehr durch die Rahmenbedingungen, insbesondere durch die hohe Wochenarbeitszeit bei einer Vollzeitbeschäftigung, sowie den Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen und deren Kosten, erzwungen wird.

Sehr häufig wird Teilzeitarbeit erzwungen. Im Verkauf, bei Reinigungsdiensten, in Pflegeheimen oder in der häuslichen Pflege ist Teilzeitarbeit von den Unternehmen gewollt, da dies für sie die profitabelste Art ist, die Arbeitskräfte zu verwalten, gerade zu Spitzenzeiten Personal zur Verfügung zu haben und dieses nicht bezahlen zu müssen, wenn die Arbeitsbelastung geringer ist. Darüber hinaus bietet es maximale Flexibilität: Bei einem Anstieg des Arbeitsvolumens müssen keine neuen Arbeitskräfte eingestellt werden, sondern die Teilzeitkräfte können einfach Überstunden machen. In anderen Branchen ist es immer weniger erträglich, Vollzeit zu arbeiten. Denken Sie an das Pflegepersonal in Krankenhäusern. Die Arbeitsbelastung ist dort so hoch, dass 80% zu den neuen 100% geworden sind.

Warum verdienen Frauen im Durchschnitt immer noch 18% weniger?

Von den Mechanismen, die dabei eine Rolle spielen, scheint mir einer sehr wichtig zu sein: die systematische Abwertung der Arbeit von Frauen, die Nichtanerkennung ihrer Bedeutung und der Fähigkeiten, die sie erfordert. Das ist funktional für die Aufrechterhaltung ganzer Archipele von Niedriglöhnen. Ein Beispiel: Die Reinigungsbranche ist auf die Arbeit von sehr schlecht bezahlten und prekarisierten Arbeitskräften angewiesen, von denen die meisten Frauen sind. Dies kommt den privaten Unternehmen, aber auch dem öffentlichen Sektor entgegen, die diese Arbeit zu sehr niedrigen Preisen auslagern. Dabei ist diese Arbeit mühsam und körperlich anstrengend. Sie erfordert viel mehr Fähigkeiten, als man uns glauben machen will. Sie bringt Verantwortung mit sich: Die Reinigung von Krankenhäusern ist ein wichtiges Glied im Kampf gegen nosokomiale Krankheiten.

Dies zu verschleiern, dient dazu, niedrige Löhne zu rechtfertigen. Dasselbe gilt für die Arbeit im Pflegebereich oder in der Kinderbetreuung: Fast jede vierte Frau arbeitet im Gesundheits- und Sozialwesen. Wir haben sowohl eine horizontale Segregation der Arbeitsplätze, bei der sich Frauen auf Berufe mit niedrigen Löhnen konzentrieren, die aufgewertet werden sollten, als auch eine vertikale Segregation (oder gläserne Decke), da männliche Karrieremuster bevorzugt werden.

Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten müssen bis Ende Juni eine Analyse der Lohnungleichheit durchführen. Ist das eine gute Nachricht?

Leider nicht wirklich. Dafür gibt es drei Gründe. Erstens ist nur ein sehr kleiner Teil der Unternehmen betroffen. Zweitens wurde eine Toleranzschwelle von 5 % Lohnunterschied festgelegt. Diese Toleranzschwelle hat jedoch keine statistische Grundlage: Die gängigen Analysen berechnen bereits ein Konfidenzintervall, um die Unsicherheiten der Daten zu berücksichtigen. Laut einer Studie des Waadtländer Büros für die Gleichstellung von Frauen und Männern, die 2022 veröffentlicht wurde, würden mit dieser Toleranzschwelle nur 19% der Unternehmen als Unternehmen mit einem nicht gesetzeskonformen Lohnunterschied angesehen werden.

Wenn man diese Schwelle jedoch abschafft, ist es jedes zweite Unternehmen, das nicht konform ist. Schliesslich gibt es keine Verpflichtung für private Unternehmen, ihre Ergebnisse zu veröffentlichen (es reicht, wenn sie die Belegschaft informieren), keine zentrale Sammlung von Informationen, um einen Überblick zu erhalten, und es gibt auch keine Sanktionen. Um strengere Massnahmen zu verhindern, führen die Unternehmer eine Kampagne zur Diskreditierung von Lohnanalysen durch.

Quelle: alencontre.org… vom 19. Juni 2023; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

Tags: , ,