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Israel wird zum Monster – und niemand schreitet ein

Eingereicht on 17. April 2016 – 11:37

Gideon Levy. Israel gibt sich gerade eine neue nationale Identität. Bereits die vorangehende Identität war problematisch, die neue jedoch ist unverbesserlich. Es geht da nicht um eine vorübergehende Phantasie, sie entspricht einem Zeitgeist und Ortsgeist. Sie ist offensichtlich unumkehrbar. Ein Teil des kulturellen Niederganges ist dem Umstand geschuldet, dass selbst diejenigen, die die Hinrichtung eines unbewaffneten Palästinensers durch einen israelischen Soldaten[i] nicht billigen, kein Einsehen in die Ernsthaftigkeit der Lage zeigen.

Diese Blindheit kommt teilweise von der Lähmung derjenigen, die diejenigen erfasst hat, die nicht vor dem Militärgericht in Castina demonstriert haben [die Demonstrierenden – unterstützt durch Avigdor Liebermann, dem Präsidenten von Israel Beitenu und durch Oren Haza, einem Abgeordneten des Likud, der sich offen für die Zerstörung der A-Aqsa Moschee ausspricht – skandierten «lasst unsere Soldate nicht im Stich» und «befreit den Helden»]. Die neue Lage, für die der Soldat aus Hebron nur ein Symptom ist, ist unumkehrbar, da niemand da ist, der sie ändern könnte. Man könnte denken, dass die Dinge in Ordnung gebracht werden können, dass die Einstellung sich verändert, wenn die Regierung wechselt.  Aber die Situation wird sich nicht verändern, da niemand da ist, der dies tun könnte, nicht jetzt und nicht in abschätzbarer Zeit.

Jeder Versuch, ein anderes, optimistischeres Szenario zu beschreiben, das uns Hoffnung einflössen könnte, ist im Keime getötet worden. Versucht es mal und Ihr werdet sehen. Es existiert kein Szenario dieser Art, es ist sogar unmöglich, sich ein solches vorzustellen.

Wer wird den vor unseren kaum erstaunten Augen sich abspielenden Niedergang aufhalten? Dieser verändert den Ortsgeist zur selben Zeit wie auch die Nation und ihre ursprünglichen Werte in einem entfesselten Rhythmus. Es wird nahezu unmöglich sein, diese Veränderungen rückgängig zu machen. Wer sind diejenigen, die in Beit Shemesh [Gemeinde, wo eine Demonstration zur Unterstützung des mörderischen Soldaten stattfand] protestiert haben? Wer sind die Schurken, die in Ma’aleh Adumin gewütet haben, in Ramleh und in Castina, die auf Facebook geschrieben haben, dass die Ermordung von Arabern moralisch wertvoll sei? Sie stellen die nächste Generation von Israelis dar, das Gesicht der Zukunft dieses Landes. Es ist unwahrscheinlich, dass eine dermassen heruntergekommene Nation wiederaufgerichtet werden könnte. Ein Volk, das seinen moralischen Kompass und seine Scham verloren hat, wird diese nie mehr finden. Wie würde es dies auch tun und weshalb? Niemand scheint dies auch nur zu versuchen.

Nicht alle Israelis jedoch sind zu Monstren geworden. Die Schlimmsten, diejenigen, die den Schlächtersoldaten als nationalen Helden betrachten, sind noch nicht in der Mehrheit. Aber diejenigen, die denken: «Tod den Arabern»; diejenigen, die überzeugt sind, ein auserwähltes Volk zu sein und dass die Souveränität ein göttliches Versprechen ist; diejenigen, die denken, dass die Palästinenser keinerlei Rechte hätten und dass die israelische Armee die moralischste Armee der Welt sei – all diese werden in erschreckendem Tempo immer stärker und zahlreicher. Und niemand tritt ihnen gegenüber.

Nach der Blutorgie von 1967 [Besetzung von Cisjordanien und dem Gazastreifen nach dem sogenannten Sechstage-Krieg] kam es zur Wende der Operation «geschützte Grenzen»: im Sommer 2014 erstarb die Toleranz und wurde durch die Gewalt ersetzt. Der Dämon des religiösen Zionismus kam frei und es ist niemand da, ihn wieder einzufangen. Alle gesellschaftlichen Akteure, die die Gesellschaft schützen sollten, wurden geschwächt oder sind zusammengebrochen, nichts ist übriggeblieben. Die Politiker des linken Zentrums stehen gelähmt vor Angst vor dem Tiger, der zum Sprung ansetzt, während diejenigen auf der Rechten den Tiger reiten und sich vor ihm verbeugen, um temporäre Gewinne zu machen. Am Ende wird der Tiger sich auch ihrer entledigen.

Die Medien haben sich beinahe vollständig aus ihrer wirklichen Aufgabe verabschiedet. Israel braucht keinen Propagandaminister mehr, da die Medien diese Aufgabe übernommen haben; sie arbeiten mit der Regierung zusammen, um die Zivilgesellschaft in die Tiefe zu ziehen. Das Justizsystem folgt ihnen auf dem Fusse. So wird B’Tselem, das israelische Zentrum für Menschenrechte des Verrats bezichtigt, während man der Auffassung ist, dass Lehava, die israelische Organisation, die die Ehe zwischen Juden und Nicht-Juden verhindern will, oder La Familia, eine Gruppe zur Unterstützung von Anti-Islamisten und Anti-Arabern, wirkliche Grundsätze hätten. Was ist dem noch beizufügen? Wer wird dem Einhalt gebieten? Politische Persönlichkeiten wie Isaac Herzog, Yair Lapid, Gabi Ashkenazi oder Gideon Sa’ar? Bringt mich nicht zum Lachen. Der Oberste Gerichtshof? Der Armeechef? Das System der Militärjustiz? Die durch die Tageszeitung Yedioth Ahronoth unterstützte Konferenz gegen die internationale Bewegung für Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS)? Die Fernsehketten Channel 2 und «Fact», nach Abschluss der Untersuchungen, wie sie durch die rechte israelische Gruppe Ad Kan in Auftrag gegeben wurden [siehe dazu den Artikel von Haggai Matar auf der israelischen webseite +972 http://972mag.com/the-israeli-media-is-branding-breaking-the-silence-as-traitors/118008/]? Wer wird also all das beenden?

Es gibt giftiges Saatgut, das, einmal ausgesät, nicht mehr ausgerottet werden kann. Es gibt Epidemien, deren Ausbreitung nicht verhindert werden kann. Dies entspricht genau der Lage, in der wir uns jetzt befinden. Sobald die Hinrichtung eines tödlich verletzten Palästinensers zu einem moralischen Wert wird, verschwinden alle anderen moralischen Werte und Hoffnungen. Es wurde ein neues Volk geschaffen, zwischen der ultra-nationalistischen Rechten und der religiösen Rechten einerseits und der apathischen Mehrheit andererseits. Das israelische Volk lebt und wird weiterleben, sein Land ist stark und unerschütterlich und wird offensichtlich auf immer weiterbestehen. Aber dieses Land wird unmöglich und unerträglich werden für alle, die anders denken. Und niemand tritt dieser Entwicklung in den Weg.

Quelle: alencontre.org… vom 6. April, Übersetzung aus dem Französischen Redaktion maulwuerfe.ch

[i] Dieser 29-jährige israelisch-französische Soldat hat am 24. März mit einem Kopfschuss einen bereits durch Kugeln getroffenen Palästinenser «erledigt», nach einer Messerattacke bei Hebron, im besetzten Cisjordanien. Er lag im Sterben und stellte für die anwesenden Soldaten und Sanitätskräfte keinerlei Gefahr dar, sogar gemäss den Aussagen zahlreicher israelischer Medien. Es handelte sich um eine «kaltblütige Hinrichtung», wie Gideon Levy schreibt (Anmerkung der Redaktion A l’Encontre)

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