Michael Gorbatschow – eine tragische Figur der Weltgeschichte
Martin Suchanek. Im Alter von 91 Jahren verstarb Michael Gorbatschow am 30. August in Moskau – der letzte Staatspräsident der Sowjetunion und Parteichef der KPdSU.
Putins Beileidsbekundung
Auch wenn Gorbatschow und Putin wenig Sympathie füreinander hegten, so weiß der Präsident des „neuen“, kapitalistischen und imperialistischen Russland nur zu gut, dass es weitaus klüger ist, den politischen Nachlass des Verstorbenen selbst auszuschlachten, als ihn den westlichen Staaten zu überlassen.
So bezeichnete Putin bekanntermaßen die Auflösung der Sowjetunion 2014 als „gesamtnationale Tragödie von gewaltigen Ausmaßen“ und 2015 „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Dabei meinte er nicht die Wiedereinführung des Kapitalismus, wohl aber den Verlust ganzer Staaten und Nationen, deren Unabhängigkeit und Selbstbestimmung den imperialen großrussischen Ambitionen im Wege stehen. Die reaktionäre, nationalistische Kritik hindert Putin freilich nicht, den Toten nachträglich vorsichtig zu würdigen. In einem Beileidstelegramm heißt es, der Verstorbene hätte „großen Einfluss auf den Lauf der Weltgeschichte“ gehabt und das Land „durch komplexe, dramatische Veränderungen, große außenpolitische, wirtschaftliche und soziale Herausforderungen geführt“.
Putin weiß, dass Gorbatschow politisch schon längst, genauer seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und Jelzins Machtübernahme, keine Rolle mehr spielte. Die Trauerreden, Nachrufe, Beileidstelegramme und Statements westlicher wie östlicher Politiker:innen drehen sich vor allem darum, die historische Rolle des Verstorbenen für sich zu vereinnahmen, sein „Vermächtnis“ noch einmal für sich zu reklamieren und auszuschlachten.
Nur in diesem Kalkül machen Putins wohlwollende Worte gegenüber einem Mann Sinn, dem er eigentlich eine negative Rolle zuschreibt. Warum aber sollte er die „Würdigung“, also die Vereinnahmung Gorbatschows einem Joe Biden oder Boris Johnson, einem Olaf Scholz oder Emmanuel Macron überlassen? Lieber bringt die russische Administration die Sanktionspolitiker:innen des Westens in die Verlegenheit, Gorbatschows Begräbnis fernzubleiben oder nach Russland zu reisen und womöglich Seit an Seit mit Putin dem Toten die letzte Ehre zu erweisen.
Westliche Trauer – nicht minder zynisch
Nicht minder zynisch fällt freilich die westliche Trauer aus. Joe Biden spricht von einem „Visionär“, Emmanuel Macron von einem „Mann des Friedens“. Olaf Scholz streicht einmal mehr Gorbatschows Verdienste um die Vereinigung Deutschlands heraus. Für seine Bemühungen um Reformen der Sowjetunion, das Ende des Kalten Krieges und einen friedlichen Systemwechsel in Osteuropa, den Abzug der Roten Armee wurde Gorbatschow mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt.
Das gleicht dem Trostpreis eines Verlierers. Der Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion sowie die Restauration des Kapitalismus markieren einen Wendepunkt der Geschichte. Der Kalte Krieg war zugunsten der USA und ihrer westlichen Verbündeten entscheiden, eine neue historische Periode begann.
Die Würdigungen eines George Bush sen., einer Margaret Thatcher, eines François Mitterrand und Helmut Kohl für „unseren“ Gorbatschow waren wenig mehr als Festreden der Sieger:innen für den Besiegten.
Gorbatschow mag an seine eigenen „Visionen“ von einem geeinten „Haus Europa“, von einer globalen Ordnung auf „Augenhöhe“, von einer Demilitarisierung Europas geglaubt haben. Im realen Leben entpuppten sie sich als utopische Konzepte. Gorbatschows „Friedenpolitik“ war nur die letzte Strophe des Liedes von der „friedlichen Koexistenz“, einer Politik, die immer schon von den Klasseninteressen der imperialistischen Bourgeoisie abstrahierte.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion, der vergleichsweise friedliche Übergang zum Kapitalismus, die Entstehung einer neuen, zu einem beträchtlichen Teil aus der alten Staatsbürokratie geborenen Klasse von Privateigentümer:innen inklusive einer neuen russischen Oligarchie und die Auflösung des Warschauer Pakets spielten alle dem Westen in die Karten.
Das US-amerikanische und europäische, allen voran das deutsche Kapital, erschlossen in wenigen Jahren neue, halbkoloniale Ausbeutungsgebiete in Osteuropa sowie einen Zugang zum russischen Markt. Die NATO, wiewohl deren Expansion 1991 noch offiziell ausgeschlossen wurde, schob sich langsam, aber umso sicherer gegen Osten. Und die kapitalistische Wiedervereinigung formte Deutschland zur ökonomisch führenden imperialistischen Macht Europas, die seither ihre eigenen Machtansprüche weltweit anmeldet.
Keine Frage, ohne Gorbatschow wäre das Ende des Kalten Krieges wahrscheinlich anders verlaufen, hätte der weitgehend friedliche, gewaltfreie Übergang zum Kapitalismus womöglich gewaltsamere Formen angenommen.
Kämpfe wie jene um die baltischen Republiken, vor allem aber der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, der blutige Aufstand gegen das Ceaușescu-Regime oder der verunglückte Janajew-Putsch 1991 verdeutlichen, dass auch in der ehemaligen Sowjetunion bzw. in der von ihr kontrollierten Einflusssphäre ein anderer Gang der Geschichte möglich gewesen wäre.
Die grundlegenden Entwicklungslinien hätte das jedoch nicht geändert. Selbst eine erfolgreiche Niederschlagung von antibürokratischen Massenbewegungen hätte keineswegs eine Rückkehr zum „alten“, krisengeschütteten wirtschaftlichen und politisch maroden System der bürokratischen Arbeiter:innenstaaten bedeutet, wie ein Blick nach China nahelegt. Dort zerschlug die Bürokratie die von der Arbeiter:innenklasse und der Intelligenz getragene Bewegung am Tian’anmen-Platz im Juni 1989. Tausende fielen diesem Massaker zum Opfer. Doch nicht der „Sozialismus“ wurde gerettet, sondern der Restauration des Kapitalismus wurde unter Beibehaltung des politischen Monopols der KP der Weg geebnet.
Gorbatschow und die Krise der Sowjetunion
So wenig wie Gorbatschows Rolle beim Zusammenbruch der Sowjetunion vernachlässigt werden kann, so wenig darf sie überhöht werden. Der letzte Staatschef der Sowjetunion war nicht Treibender, sondern Getriebener.
Gorbatschow wurde 1985 Generalsekretär der KPdSU vor dem Hintergrund einer tiefen, strukturellen ökonomischen Krise und einer langjährigen Stagnation der Gesellschaft. Unter Breschnew fiel das Land, damals immerhin die zweitgrößte Ökonomie der Welt, wirtschaftlich und technologisch immer mehr zurück. Das unter Reagan forcierte Wettrüsten kostete die Sowjetunion immer größere Teile ihre gesamten Ressourcen. Zugleich stagnierte der Lebensstandard der Lohnabhängigen, die in der Sowjetunion und Osteuropa unter einem Mangel an Konsumgütern litten.
Vor diesem Hintergrund wurde das System einer starren bürokratischen Planwirtschaft und der umfassenden, tief in die Gesellschaft eindringenden politischen Diktatur über die Arbeiter:innenklasse immer unhaltbarer. Der ökonomische Niedergang verringerte die Möglichkeiten zur sozialen Befriedigung der Massen. Deren Entfremdung von der „sozialistischen“ Gesellschaft trat viel stärker ins Bewusstsein angesichts eines größer werdenden Gegensatzes zwischen stagnierenden oder schlechter werdenden Lebensbedingungen der Massen und den Privilegien der Bürokratie.
Diese Lage beförderte auch die politische Unzufriedenheit – sei es der Intelligenz, der Arbeiter:innenklasse oder der unterdrückten Nationen und Nationalitäten, sei es in der Sowjetunion oder in den von ihr kontrollierten Gebieten.
Schließlich entwickelten sich auch die Gegensätze in der herrschenden bürokratischen Kaste selbst. In den KPen und Staatsapparaten bildeten sich zwei politische Flügel – die sog. „Konservativen“ oder „Hardliner:innen“, die starr am bestehenden System festhalten wollten, und die sog. „Reformer:innen“, die diesem durch begrenzte, von oben kontrollierte wirtschaftliche, soziale und auch politische Reformen eine neue Dynamik zu verleihen hofften.
Anders als in den kapitalistischen Ländern, wo die freie Konkurrenz und der damit verbundene Zwang, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, für die Steigerung der Arbeitsproduktivität, Disziplin und „Motivation“ der Lohnabhängigen quasi automatisch sorgt, fehlte in den bürokratischen Planwirtschaften dieser Hebel weitgehend. Im Gegensatz zur Stalinära, wo die Arbeitsdisziplin despotisch durchgesetzt wurde, herrschte in der Sowjetunion oder auch Osteuropa der 1970er und 1980er Jahre eine weitgehende soziale Sicherheit vor mit Vollbeschäftigung, Wohnungen und garantierter Gesundheits- und Altersvorsorge.
Andererseits sorgte die zunehmende Entfremdung der Arbeiter:innen von der bürokratischen Planwirtschaft, von „ihren“ Staaten dafür, dass ihr Antrieb zur Verbesserung und Fortentwicklung des ökonomischen und sozialen Systems längst erloschen war. Wo dies noch nicht der Fall war, lief er sich im bürokratischen Getriebe tot.
Um diese Stagnation zu durchbrechen, war es aufgrund der technologischen Entwicklung und der gestiegenen Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitskraft ökonomisch faktisch unmöglich, zu den Methoden der Stalinzeit zurückzukehren. Gesellschaftlich und sozial hätten sie womöglich das System noch mehr destabilisiert – und dessen war sich auch die Bürokratie bewusst.
Daher entflammte innerhalb dieser Kaste der Konflikt um die Frage, welche und wie weit gehende ökonomische soziale und politische Reformen durchgeführt bzw. zugelassen werden sollten. Ein Hin und Her kennzeichnete schon die Auseinandersetzungen vor Gorbatschow und die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität war auch mehr oder minder unstrittig. Keineswegs galt dies jedoch bezüglich politischer Reformen.
Als Gorbatschow 1985 Generalsekretär wurde, markierte dies eine Kräfteverschiebung zugunsten des Reformlagers in der Sowjetunion und im Ostblock. „Perestroika“ (Umbau) und „Glasnost“ (Offenheit) wurden zu den Schlagworten, Kampfbegriffen, um die Veränderungen der Gesellschaft voranzutreiben.
Dabei stellten beide von Beginn an keine klar umrissenen Konzepte dar, sondern eine Reihe von Reformmaßnahmen, die selbst im Laufe der Jahre modifiziert wurden und auf Veränderungen in der Gesellschaft eine Antwort zu geben versuchten.
Grundsätzlich zielte die Perestroika darauf, marktwirtschaftliche Mechanismen und Konkurrenz im Rahmen der Planwirtschaft zu deren Belebung einzusetzen, darunter einzelbetriebliche Kostenrechnung, Formen des Leistungslohns, Ausweitung der privatwirtschaftlichen Tätigkeit und begrenztes Wirken von Joint Ventures. Glasnost bezog sich vor allem auf die öffentliche und politische Ebene und sah eine begrenzte Lockerung der Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit vor.
Hinzu kam ein neuer außenpolitischer Kurs der Abrüstung und Entspannung. 1989 zog die Sowjetunion ihre Truppen aus Afghanistan zurück. Für Europa wurde eine neue Friedensordnung, ein „gemeinsames Haus“ propagiert.
Glasnost und Perestroika kamen jedoch wie die gesamte Politik Gorbatschows (und des gesamten Flügels der Bürokratie, auf den er sich stützte) von Beginn an einer Quadratur des Kreises gleich. Einerseits sollte die Gesellschaft geöffnet, andererseits jedoch die Herrschaft der Bürokratie und deren System der Planung beibehalten werden.
Diese Konzeption war im engen Wortsinn utopisch. Die Politik Gorbatschows löste nicht die inneren Widersprüche des Systems, dessen Krise ihn zum Generalsekretär gemacht hatte, sondern spitzte sie vielmehr weiter zu.
Und zwar auf allen Ebenen. Die ökonomischen Reformen belebten die Wirtschaft nicht, sondern verstärkten den Gegensatz zwischen den Elementen der bürokratischen Planung und der Marktwirtschaft. Sie verbesserten die Lage der Massen nicht, schufen aber zugleich eine Schicht von Manager:innen, Bürokrat:innen, neuen Eigentümer:innen, die Appetit auf mehr, auf die Restauration des Kapitalismus entwickelte.
Die begrenzten Elemente der Presse- und Meinungsfreiheit stießen ihrerseits auf Schritt und Tritt auf die Schranken des Systems, an die Grenzen der bürokratischen Diktatur und der führenden Rolle der Partei. Ähnlich wie die Perestroika schuf aber auch Glasnost die Forderung nach mehr Freiheit, nach mehr demokratischen Rechten, wenn auch über eine ganze Zeit im politischen Windschatten des Reformflügels. So entstand die scheinbar paradoxe Situation, dass der Generalsekretär der KPdSU, also der oberste und mächtigste Exponent der Bürokratie, Mitte bis Ende der 1980er Jahre zum Hoffnungsträger und zur Symbolfigur antibürokratischer Massenstimmungen und -bewegungen geriet. „Gorbi“ mutierte zur Identifikationsfigur und zugleich zum Schrecken mancher besonders reformunwilliger Bürokrat:innen.
Politisch glich Gorbatschow freilich Goethes Zauberlehrling. Die Geister, die er rief, wurde er nicht los – und anders als im Werk des großen Dichters rettete ihn auch kein mächtiger Zauberer.
Der scheinbar mächtige Führer der KPdSU und Sowjetunion erwies sich als tragische, geschichtlich ohnmächtige Figur. Das von ihm verfolgte Ziel einer reformierten, mit Glasnost und Perestroika aufpolierten Sowjetunion, eines reformierten degenerierten Arbeiter:innenstaates erwies sich als reinste Utopie, die die Interessen keiner einzigen gesellschaftlichen Kraft des alten wie des neuen, entstehenden kapitalistischen Systems befriedigen konnte.
Kein Wunder also, dass Gorbatschows Stern noch schneller unterging, als er aufgestiegen war. Er wurde faktisch zum Vorbereiter der Restauration des Kapitalismus, zum Vordringen der westlichen imperialistischen Staaten und – seines eigenen Sturzes.
1991 versuchten die konservativen Schichten der Bürokratie, mit einem halbherzigen Putsch noch einmal das Rad der Geschichte in der Sowjetunion zurückzudrehen – und scheiterten kläglich. Doch mit ihnen wurde auch Gorbatschow faktisch entmachtet. Die offen restaurationistischen Kräfte der Bürokratie um Jelzin und Sobtschak ergriffen die Initiative, mobilisierten die Massen gegen den Putsch und offenbarten damit zugleich die Ohnmacht Gorbatschows. Am 25. Dezember trat er als Präsident der Sowjetunion ab und damit faktisch von der geschichtlichen Bühne.
Seither wandelt Gorbatschow als mehr oder minder dekoratives Relikt der Geschichte durch die Welt. Als Vorsitzender der nach ihm benannten Stiftung kommentierte er weiter das Weltgeschehen und versuchte sich in der russischen Zivilgesellschaft. Politisch verstand er sich als Sozialdemokrat, kritisierte die innerrussischen Verhältnisse, aber auch den Westen und dessen „Machtarroganz“ und -politik und George W. Bush und Co.
Im Grunde bewegte sich seine ganze Kritik auf der Oberfläche gesellschaftlicher Erscheinungsformen. „Arroganz“, Machtpolitik, also subjektive politische Ausrichtungen und Charakterzüge von Herrschenden stellten für ihn den eigentlichen Kern der politischen Probleme unserer Zeit dar, ob im Westen oder in Russland. Die grundlegenden Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächte, der Kampf um die Neuaufteilung der Welt erwuchs für ihn nicht aus den Krisen des Kapitalismus, ja diese objektiven Entwicklungen stellten für ihn letztlich nebensächliche Faktoren dar, die durch guten (Verhandlungs-)Willen aus der Welt zu räumen gewesen wären.
Selbst hier entpuppt sich Gorbatschow noch als tragische Figur, die den Illusionen einer längst vergangenen Zeit nachhing und bis zum Ende von einem idealistischen Verständnis von Gesellschaft und Geschichte geprägt war.
Mythologisierung
Allerdings war Gorbatschow schon zu Lebzeiten von verschiedenen Seiten zur Projektionsfläche ihrer eigenen Sicht der Geschichte geworden.
Für die westlichen Mächte und die demokratische Öffentlichkeit war er der „gute“ Sowjetführer, denn schließlich trug er zur Niederlage des „Kommunismus“ und zum Sieg im Kalten Krieg bei. Nach 1991 schien es außerdem, dass in Russland nicht nur der Kapitalismus wieder Einzug halten würde, sondern es auch ökonomisch und politisch vom Westen dominiert werden könnte. Mit der Stabilisierung des Putin-Regimes sind die Hoffnungen verflogen.
Die posthume Würdigung Gorbatschows soll gewissermaßen auch die Vorstellung am Leben halten, dass ein prowestlicher russischer Führer möglich sei. Und nebenbei wird das klägliche Scheitern Gorbatschows in Russland auch noch uminterpretiert. Die Verhältnisse und die Schwäche der bürgerlichen Demokratie dort sollen partout nicht auf die Krise der Sowjetgesellschaft und die katastrophalen sozialen und politischen Auswirkungen der kapitalistischen Restauration zurückgeführt werden. Vielmehr wird der russischen Nation eine Neigung zum Autoritarismus und zur Diktatur unterstellt, eine „Unreife“ in Sachen Demokratie, der Gorbatschow und Co. zum Opfer gefallen wären. Daher erscheint der Verstorbene als seltener Glücksfall, den es zugunsten von Demokratie und Marktwirtschaft auszunutzen galt, solange er Einfluss ausübte.
Doch auch Teile der Linken nutzen Gorbatschow bis heute als Projektionsfläche eines verqueren Geschichtsbildes. Ihnen zufolge wären uns der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks, der gesamte Sieg des Westens im Kalten Krieg erspart geblieben, wenn Gorbatschow den Pfad von Glasnost und Perestroika nicht beschritten oder wenigstens die Staaten Osteuropas oder ehemalige Sowjetrepubliken nicht in die Unabhängigkeit entlassen hätte. Dieser Sicht zufolge verkörperten Gorbatschow und sein Aufstieg nicht Ausdruck einer tiefen Todeskrise des Stalinismus, sondern deren Ursache. Die Krise der Sowjetgesellschaft, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Restauration des Kapitalismus werden so zum weltgeschichtlichen Verrat eines großen, bösen Mannes und noch böserer westlicher Hintermänner. An idealistischer Geschichtsverdrehung stehen sie damit ironischer Weise den westlichen (und auch russischen) Ideolog:innen wenig nach.
Arbeiter:innenklasse
Bemerkenswert und bezeichnend an den verschiedenen posthumen Würdigungen und Nachrufen, sei es von offizieller russischer Seite, westlichen Politiker:innen oder selbst stalinistischen Kräften, bleibt, dass die Arbeiter:innenklasse als gesellschaftliche Kraft nicht vorkommt. Die Lohnabhängigen treten entweder als Unterstützer:innen und zunehmend undankbare Versorgungsobjekte der Bürokratie auf oder als bloße Fußtruppe von Reformer:innen und der westlichen Demokratie.
Diese Sicht verkürzt nicht nur die reale geschichtliche Entwicklung, sondern verkennt auch das Potential der Umbrüche, die sich 1989 zu einer historischen politischen Krise der bürokratischen Herrschaft bündelten.
Die Entwicklung, die Gorbatschow seit 1985 mit den Mitteln bürokratischer Reformen von oben unter Kontrolle zu kriegen versuchte, führte auch zu einer Belebung und einem Erwachen der Arbeiter:innenklasse. In der Sowjetunion entstand Ende der 1980er Jahre eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung, zum Beispiel unter den Bergarbeiter:innen. Die antibürokratischen Bewegungen stützten sich 1989 sozial auf Massenunterstützung in der Arbeiter:innenklasse und in einigen Ländern bildeten sich auch betriebliche Organisationen der Klasse. Hinzu kamen politische Differenzierungs- und Gärungsprozesse innerhalb der von der Bürokratie kontrollierten Massenorganisationen wie den Gewerkschaften, teilweise auch in der Staatspartei.
Aber aufgrund der Zerstörung des Bewusstseins der Arbeiter:innenklasse nach Jahrzehnten der bürokratischen Diktatur und der damit eng verbundenen Entfremdung der Lohnabhängigen von „ihrem“ Staat und „ihrer“ Wirtschaft, also aufgrund der Ausprägung der Führungskrise des Proletariats in den damaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, dominierten zuerst kleinbürgerliche und bald offen bürgerliche Kräfte die Bewegung.
Wie der Arabische Frühling zeigt, lässt sich dieses Phänomen natürlich nicht nur an der Todeskrise des Stalinismus beobachten. Im Jahr 1989 standen die Sowjetunion und alle Länder Osteuropas vor der historischen Alternative: entweder Sturz der Bürokratie durch die politische Revolution der Arbeiter:innenklasse oder Restauration des Kapitalismus.
Und wie immer, wenn eine Revolution nur halb durchgeführt wird, endet sie in einer ganzen Konterrevolution. Daran ändert auch der Fakt nichts, dass diese eine bürgerlich-demokratische Form annahm. Nachdem Gorbatschow ihr den Weg bereitet hatte, wurde er selbst von ihr hinweggefegt. Am 30. August verstarb dieser Zauberlehrling der Weltgeschichte.
Es gibt keinen Grund, seine konterrevolutionäre Rolle zu beschönigen, aber auch keinen, sie zu überhöhen. Nicht Gorbatschow bildete das eigentliche Problem, sondern die Schwäche der revolutionären Kräfte und Tiefe der Krise der Arbeiter:innenklasse. Letztere manifestierte sich 1989 weitaus stärker als in vorangegangenen Revolutionen und Erhebungen gegen die bürokratische Herrschaft in Osteuropa. So brachten die ungarische Revolution, der Arbeiter:innenaufstand in der DDR oder der Kampf der polnischen Arbeiter:innenklasse klassenbasierte Doppelmachtorgane oder Ansätze in diese Richtung in viel stärkerem Maße hervor als 1989. Dieser Tatsache lagen vor allem zwei miteinander verbundene Ursachen zugrunde. Erstens die viel tiefere innere Krise der bürokratischen Planwirtschaft und damit auch der gesellschaftlichen Basis der Bürokratie, was generell die restaurationistischen Tendenzen schon lange vor 1989 vorbereitet und gestärkt hatte. Zweitens die Entfremdung und Zerstörung von Klassenbewusstsein der Arbeiter:innenklasse, was die spontane Tendenz zur Selbstorganisation und Schaffung eigener klassenspezifischer Organisationen schwächte (auch wenn solche durchaus entstanden).
Hinzu kam aber noch ein Drittes. Weltweit gab es keine revolutionäre Internationale der Arbeiter:innenklasse, die ein kämpfender, politischer Bezugspunkt für die Lohnabhängigen in der Sowjetunion und Osteuropa hätte sein können. Allenfalls existierte sie in Form zersplitterter Kleingruppen, die im Wesentlichen nur propagandistisch in die Ereignisse eingreifen konnten. Diese Führungskrise hat sich seit 1989 eher noch vergrößert. Sie bildet das zentrale Problem nicht nur vor und um 1989, sondern auch in unserer Zeit.
Quelle: arbeiterinnenmacht.de… vom 2. September 2022
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitswelt, Imperialismus, Lenin, Neoliberalismus, Polen, Politische Ökonomie, Russische Revolution, Russland, Sowjetunion, Stalinismus, Strategie, Trotzki, Ukraine
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