Venezuela: Über die These der „Bolibourgeoisie“ hinaus
Eine genauere Analyse der Beziehungen zwischen Regierung und Privatsektor zeigt die komplexe Natur der gegenwärtigen Krise in Venezuela.
Die Gegner des sozialistischen Projekts behaupten: „Eine neue Kaste regiert jetzt das Land“
Steve Ellner. „Nicht Öl ruinierte Venezuelas Volkswirtschaft, sondern der Sozialismus.“ Das schrieb Pascal-Emmanuel Gobry vom Washingtoner konservativen Think Tank Ethics and Public Policy Center unlängst in seiner Reflexion über Venezuelas gravierender werdende Wirtschaftskrise. Gobry, ein produktiver Schreiber für Forbes, The Wall Street Journal und andere Publikationen, fuhr fort, die venezolanischen Analysten zu kritisieren, welche alles aufs Erdöl schieben, auch wenn er anerkannte, dass fallende Ölpreise die Schwierigkeiten der Nation verschärften. „Der Übeltäter steht klar und deutllich fest,“ behauptet Gobry. „Das Problem ist Venezuelas autoritärer Sozialismus.“
Die Verschlechterung der Lebensqualität in Venezuela fügt sich ein in Gobrys knallharte Aussagen, wie auch derjenigen der venezolanischen Opposition. Die drängenden Probleme, vor denen Venezuela steht, von dreistelliger Inflation bis zu stundenlangem Warten in Schlangen, um alltägliche Waren zu kaufen – ganz zu schweigen von den sichtbaren Fällen der Korruption – versorgten in der Tat die Opposition des Landes mit Munition zur Diskreditierung des politischen und wirtschaftlichen Projekts der Linken. Ob ausdrücklich oder zwischen den Zeilen rühmt diese entstehende Erzählweise den Neoliberalismus auf der Basis der Annahme, dass staatliche Intervention in der Wirtschaft, ein besonderes Merkmal der 14-jährigen Regierung von Hugo Chávez, zum Scheitern verdammt ist – egal in welcher Form. Gemäß einiger Kritiker des Chavismus war das unausweichliche Nebenprodukt von Chávez‘ wirtschaftspolitischen Maßnahmen das Aufblühen von Korruption durch die Hände von chavistischen Bürokraten, unter Teilhaberschaft von korrupten chavistischen Geschäftsleuten.
Während die venezolanische Regierung nicht von ihren schwerwiegenden politischen Fehlern zu entbinden ist, zeigt eine genauere Analyse der Beziehungen zwischen der chavistischen Regierung und dem Privatsektor die komplexe Natur der gegenwärtigen Krise. Eine solche Untersuchung dient dazu, die neoliberale Behauptung über den innewohnenden Konstruktionsfehler des linken Modells Venezuelas zu entlarven. Sie wirft auch Fragen auf, welche es wert sind, diskutiert zu werden, um Lehren zu ziehen aus der reichhaltigen Erfahrung der chavistischen Regierung.
Eine Hauptschlussfolgerung ist, dass äußere Umstände, einschließlich Putschversuchen, die Chavistas zwangen, Zugeständnisse zu machen und taktische Bündnisse mit wirtschaftlichen Gruppen zu schließen, die nicht die ausgegebenen Ziele der breiteren chavistischen Bewegung teilten. Diese Übereinkünfte waren kein Fehler; der Fehler war, nicht genug zu tun, um die einzige Kraft zu stärken, die fähig ist, Missbräuche einzudämmen, die man hätte vorhersehen müssen: Die breite Masse des Chavismus und die sozialen Basisbewegungen des Landes.
Die antisozialistische Erzählweise
Konservative in Venezuela sind weitgehend derselben Meinung wie ausländische Experten wie Gobry. Der Think Tank Cedice mit Sitz in Caracas (ein Partner des Cato Institute) verschmolz Sozialismus und Keynesianismus und kommt auf diese Weise zu ähnlichen Schlussfolgerungen über die Gefahren von staatlicher Intervention, was deutlich zum Ausdruck kommt. Cedice-Ökonomen schrieben die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Venezuela den „politischen Maßnahmen zu, welche in einem Staat angewandt werden, in welchem totale [staatliche] Kontrolle über die Wirtschaft besteht, zusammen mit einer totalen Abwesenheit von Kapitalismus, was somit Armut und Arbeitslosigkeit erzeugt.“ Ein Großteil der organisierten Opposition akzeptiert diese eindeutig neoliberale Linie. Der ehemalige Zentralbank-Ökonom José Guerra, der jetzt ein Parlamentarier und der Wortführer der Opposition in Wirtschaftsfragen ist, sagte kürzlich im Nachrichtenkanal Televen, dass „der Sozialismus des 21. Jahrhunderts das venezolanische Volk ruiniert hat.“ Einigermaßen bemerkenswert ist, dass die antisozialistische Erzählweise von Guerra und vielen anderen die Tatsache ignoriert, dass weiterhin über 70 Prozent der venezolanischen Wirtschaft in privater Hand sind.
Der Standpunkt, von dem aus Sozialismus oder sogar Keynesianismus beschuldigt werden für die akute Knappheit von Grundgütern, welche über die letzten beiden Jahre Venezuelas drängendstes wirtschaftliches Problem war, übergeht die tatsächlichen konkreten Faktoren, die im Spiel sind. Hauptgründe sind der Absturz des internationalen Ölpreises und der gut dokumentierte „Wirtschaftskrieg“, bestehend aus politisch verursachter Fehlinvestition im privaten Sektor.
Ein dritter Faktor ist komplizierter. Er umfasst die Ungleichheit zwischen staatlich regulierten Preisen und Schwarzmarktpreisen für Güter (einschließlich Fremdwährungen). Das System der regulierten Preise ist oft eine effektive Maßnahme, um populare Sektoren zu bevorzugen. Aber wenn die Schwarzmarktpreise mehr als das Doppelte der offiziellen Preise für stark nachgefragte Produkte betragen, wie es in Venezuela seit Ende 2012 war, werden Korruption und Schmuggel normal. Der ehemalige Planungsminister Jorge Giordani schätzt, dass allein 2012 Firmen die Regierung um 20 Milliarden US-Dollar durch den Ankauf billiger Dollars von der Zentralbank für vorgetäuschte oder überteuerte Importe betrogen haben. Diese Unternehmen konnten dann stattliche Gewinne machen, indem sie die Währung auf dem Schwarzmarkt verkauften.
Oppositionsführer sind vorsichtig, um nicht ihre Verbündeten im Privatsektor für diese Art der betrügerischen Machenschaften zu beschuldigen. Stattdessen zeigen sie mit den Fingern ausschließlich auf die sogenannte „Bolibourgeoisie“ – das heißt, diejenigen venezolanischen Geschäftsleute, welche mit der chavistischen Bewegung in Verbindung gebracht werden, und sich außerhalb der Gemeinschaft der traditionellen Bourgeoisie befinden. Carlos Tablante, ein früherer Gouverneur und Mitglied der damals linken Bewegung zum Sozialismus (MAS), unterstrich diese mutmaßliche intime Beziehung zwischen der chavistischen Regierung und „chavistischen Geschäftsleuten“, indem er befand „eine neue Kaste regiert jetzt das Land.“
Der antichavistische Diskurs, der Sozialismus mit Korruption gleichsetzt, ignoriert jedoch ein paar wichtige Fakten. Zum einen passierten die krassesten Korruptionsskandale in Lateinamerika während des vergangenen Jahrhunderts unter neoliberalen Regierungen der 1990er Jahre: Carlos Salinas (Mexiko), Carlos Menem (Argentinien), Alberto Fujimori (Peru), Fernando Collor de Mello (Brasilien) und Carlos Andrés Pérez (Venezuela). Es ist kein Zufall, dass die Korruption unter der Aufsicht von Neoliberalen wucherte. Deregulierung, Freihandel und Laissez-Faire-Politik öffnet im Allgemeinen die Türen für unethische Geschäfte. In seinem Buch „The Political Economy of Latin America“ merkte der Politikwissenschaftler Peter Kingstone an, dass „obwohl Neoliberale argumentieren, dass die Befreiung von staatlicher Kontrolle die Möglichkeiten für Korruption einschränken, die Realität ist, dass neue, andere Gelegenheiten geschaffen werden.“
Das Argument, dass der Sozialismus Korruption züchtet, ignoriert auch die Fakten, die durch einige empirische Studien über den venezolanischen Währungskorruptionsskandal von 2012 zu Tage traten. Gemäß diesen Untersuchungen waren traditionelle wirtschaftliche Bündnisse, multinationale Konzerne und aufgestiegene Geschäftsleute alle schuldigen Parteien des 20-Milliarden-Dollar-Betrugs. Aber eine der Studien, durchgeführt vom politischen Analytiker und Aktivisten Luis Enrique Gavazut, schloss, dass „der Löwenanteil des Betrugs von 2012 durch große multinationale Konzerne begangen wurde, die Tochterunternehmen im Land haben.“ Gavazut betont, dass einige der illegalen Aktivitäten (mit Dollars) nicht hätten durchgeführt werden können, hätten US-Behörden dunkle Kanäle in Florida und anderen Staaten kontrolliert, wo Dollars letzten Endes deponiert oder investiert wurden.
Demzufolge ähnelt der 20-Milliarden-Dollar-Währungsskandal Venezuelas auf viele Arten dem Skandal der brasilianischen staatlichen Ölfirma Petrobras. In beiden Fällen kommen die an unethischen Handlungen Schuldigen aus dem gesamten politischen Spektrum, von rechts bis links. Im Fall Venezuelas sind Geschäftsleute traditioneller Wirtschaftsvereine wie der Unternehmerverband Fedecámaras (der 2002 zweimal die Bemühungen anführte, Chávez zu stürzen) genauso beteiligt wie Mitglieder einer aufsteigenden Bourgeoisie, von denen sich einige selbst Chavistas nennen.
Wer ist also verantwortlich?
Zweifellos trägt die chavistische Regierung, wie jede andere Regierung, die Hauptschuld an Fehlern, die im öffentlichen Sektor begangen worden seien. Zuallererst ebneten Regierungsmaßnahmen, die Marktbedingungen ignorierten und einen großen Unterschied zwischen offiziellen und Schwarzmarktpreisen erlaubten, den Weg für weitverbreiteten Schmuggel und Korruption.
Zweitens ging die gegenwärtige Regierung von Nicolás Maduro nicht so weit, einen Generalangriff gegen die Korruption zu führen, auch wenn die Zahl der Anklagen gegen Staatsbeamte (sowohl auf Führungsebenen als auch darunter) wegen unethischen Verhaltens den Rekord der etablierten Parteien, seit Chávez 1999 an die Macht kam, weit übertrafen.
Drittens tat die chavistische Regierung wenig, um das gaunerhafte und skrupellose System einer willkürlichen staatlichen Vergabepraxis zu korrigieren. Ein Prozess, der in Venezuela schon lange vor 1998 institutionalisiert und alldurchdringend geworden war. Dieses System beinhaltet regelmäßige Bestechungsgelder für Vertragsabschlüsse. Es ist in Venezuela wohlbekannt, dass zum Beispiel, wann immer ein Gouverneur oder Bürgermeister ersetzt wird – sogar bei einem Nachfolger aus der eigenen Partei – eine komplett neue Auswahl an Baufirmen den Löwenanteil der Verträge einheimst.
Die regierende Partei des Landes, die Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV), die von chavistischen Ministern, Gouverneuren und Bürgermeistern geführt wird, hat als Kontrollinstanz für diese Aktivitäten versagt. Die PSUV-Basis malt sich ihre Rolle als ein ausgleichendes Gegengewicht zur Parteimaschinerie aus, mit der Fähigkeit, Missstände zu benennen, wo immer sie auftreten. Interne Vorwahlen der Partei, bei denen alle Kandidaten die gleichen Ausgangschancen bekommen – wie es Chávez einst verlangte – würden diese Dynamik fördern; in den letzten Jahren wurden die Karten aber so gemischt, dass die Situation für Anwärter auf gewählte Ämter, die nicht auf Unterstützung von oben hoffen können, ungünstig ist.
Aufkommende gegen traditionelle Bourgoisie
Zugleich – und konträr zu Behauptungen der Opposition – sind aufstrebende Geschäftsleute weit davon entfernt gewesen, unbedingte Unterstützer der chavistischen Regierung zu sein, noch sind sie eine einheitliche Gruppe. Viele der Geschäftsleute, die von der Opposition als „Bolibourgeois“ tituliert wurden, haben sich tatsächlich als alles andere als chavistisch herausgestellt.
Nehmen wir die neuen Eigentümer des einst fanatisch anti-chavistischen Fernsehsenders Globovisión. Kurz nach dem Kauf des Senders 2013 erklärte die Stadtverwaltung von Miami Globovisión-Präsident Raúl Gorrín und seine Teilhaber zu personas non grata und nannte sie „reiche Bolibourgeois der venezolanischen Regierung“. Zur selben Zeit bezog sich die Zeitung der Stadt, El Nuevo Herald, auf die Globovisión-Eigentümer als „Freunde des Chavismus“ und behauptete, sie hätten Millionen Dollars in Immobilien in Südflorida gesteckt und würden in Miami mit teuren Sportwagen herumfahren. Globovisións neue Leitung passte ins Bild der Bolibourgeoisie. Gorrín begann seine Karriere mit wenig Vermögen und bekleidete ursprünglich untergeordnete Positionen in Banken, die Chávez für einen finanziellen Zusammenbruch 2009 verantwortlich machte. (Der damalige Präsident ließ einige der Bankenchefs kurz darauf verhaften.)
Kritiker des neuen Globovisión prophezeiten, dass der Sender schnell ein Sprachrohr der Regierung werden würde. Nach seinem Antritt als Präsident schwor Gorrín Globovisión auf „Objektivität und Unparteilichkeit“ ein, indem er das Programm durch das Abschwächen der aggressiven Tendenz des Kanals gegen die Regierung veränderte. Trotzdem wurde Globovisión zunehmend kritisch, als die Maduro-Regierung an Popularität verlor, speziell in Folge ihrer Niederlage bei den Parlamentswahlen im Dezember 2015. Anfang 2016 sagte Maduro: „Man schaut Globovisión und es ist wieder genau wie am 9. April 2002“, mit Bezug auf den durch Medien befeuerten Putsch gegen Chávez an jenem Tag.
Noch ein sogenannter chavistischer Geschäftsmann ist Alberto Cudemus, der Fedecámaras nach zwei vergeblichen Versuchen, sein Präsident zu werden, verließ. Cudemus verlangte harmonische Beziehungen zwischen Geschäftswelt und Regierung, während er zugleich großzügige Verträge bekam, um Schweinefleisch an staatliche Lebensmittelläden zu liefern. Mit seiner Haltung erzeugte er einen gewissen Grad an Verachtung bei denen, die ihn einen „sozialistischen Geschäftsmann“ nannten. Aber nachdem Maduro 2013 die Präsidentschaft übernahm, wartete Cudemus mit einer allumfassenden Kritik an der Wirtschaftspolitik der Regierung auf, die wenig von der von Fedecámaras abwich. Cudemus prangerte an, dass Maduro umgeben sei von „unfähigen Funktionären“, und dass sein „ökonomisches Modell“ fehlerhaft sei. Mutmaßlich schlecht beratene Politik schließt die Deckelung von Profiten durch die Regierung ein, ein Arbeitsmarktgesetz voller Regelungen zum Kündigungsschutz, exzessives Einbringen von Geld in den Geldkreislauf, ausufernde Bürokratie, das Nichterfüllen von Zahlungen an den privaten Sektor und einen Mangel an Input aus der Wirtschaft in die politische Programmatik. Solche Kritikpunkte laufen der medialen Darstellung von den aufstrebenden Gruppen von Geschäftsleuten als direkt im chavistischen Lager verortet zuwider, um das Mindeste zu sagen.
Aufwiegler unter den Rechten werfen auch verschiedenen gutsituierten kapitalistischen Gruppen vor, sie hätten sich an die Chavistas „verkauft“. Ein Beispiel ist Milliardär Gustavo Cisneros, den einige in der Opposition einen „Komplizen“ beim angeblichen Wahlbetrug von Chávez beim Anwahlreferendum 2004 nennen. Cisneros‘ Fernsehsender Venevisión entwickelte sich von offener Unterstützung für den Putsch im April 2002 zu einer unparteiischen Berichterstattung nach dem Juni 2004, als Jimmy Carter ein Klausurtreffen zwischen Chávez und dem Medienmagnaten arrangierte.
Offensichtlich akzeptierte die Chávez-Regierung die Erneuerung von Venevisións Konzession im Gegenzug für seinen Verzicht auf Fox-News-artige Berichterstattung. In der Folge weigerte sich die Chávez-Regierung, die Konzession für den Sender Radio Caracas zu verlängern, da er ebenso aktiv den Putsch von 2002 unterstützte. (Radio Caracas war der Hauptkonkurrent von Venevisión.) Einige Kommentare aus der Opposition unterstellten, dass Cisneros beim von Carter vermittelten Treffen seine Seele an den Teufel verkaufte um der geschäftlichen Expansion willen.
Die Linie der venezolanischen Opposition, nach der die Bolibourgeoisie ein chavistisches Phänomen ist, ignoriert, warum Verbindungen zu Geschäftsleuten vor allem eingegangen wurden. Insbesondere hat die Opposition den Fakt ausgelöscht, dass die Begünstigungspolitik der Regierung zugunsten politisch neutraler Geschäftsleute eine Reaktion auf die Feindseligkeiten von Fedecámaras war, die 2002 in zwei Versuchen kulminierten, Chávez zu stürzen. Die chavistische Strategie, einen bestimmten Teil der Unternehmer zu umarmen, war ein Versuch, eine aggressive Klasse von Geschäftsleuten zu neutralisieren, nicht sie für sich zu gewinnen. Tatsächlich sammelten sich die Anti-Fedecámaras-Geschäftsleute hinter der Flagge der politischen Neutralität, und nicht derjenigen der linken Politik.
Gleichzeitig schloss die chavistische Führung eine strategische Allianz mit vermeintlich fortschrittlichen Geschäftsleuten aus, die manchmal „fortschrittliche Bourgoisie“ genannt werden (ein Ausdruck, den die lateinamerikanischen Kommunisten vor einem halben Jahrhundert benutzten). Diese Strategie wurde von Chávez‘ rechter Hand Luis Miquilena vertreten (der seine politische Karriere als Anhänger der kommunistischen Bewegung in den 1940er Jahren startete). Miquilena förderte letztlich jedoch den gescheiterten Putsch gegen Chávez im April 2002.
Bis heute sind die Bindungen zwischen der chavistischen Bewegung und dem Privatsektor, einschließlich emporstrebender Gruppen von Geschäftsleuten, bestenfalls zart. Beide, traditionelle und sich entwickelnde Interessensgruppen, stehen Kernpunkten des Anti-Neoliberalismus, wie er von der Maduro-Regierung aufgenommen wurde, wie Begrenzung von Profiten, skeptisch gegenüber. Vergleichbar dazu behindert die Politik der Wechselkurskontrollen, erstmals eingeführt unter Chávez 2003, die Fähigkeit der Geschäftsleute, ihre Profite in Dollars zu wechseln und ins Ausland zu senden, wozu Kapitalisten in der Dritten Welt gerne neigen. Schließlich bewirken die chavistische antikapitalistische Rhetorik und die ständigen Attacken auf die Bourgoisie (ein Ausdruck, der von den Chavistas verächtlich benutzt wird), dass Eigentümer von Großunternehmen das nicht ohne Unbehagen sehen, ob es nun traditionelle sind oder in jüngerer Zeit Hervorgekommene.
Die weitergehenden Schlussfolgerungen
Die Behauptung der Opposition bezüglich des Aufstiegs einer neuen herrschenden „Kaste“ in Form der Bolibourgeoisie bestärkt erneut die alte Vorstellung, dass der Sozialismus von Haus aus fehlerhaft ist. Die meiste Zeit des zwanzigsten Jahrhunderts deuteten Verfechter des Kapitalismus auf die Sowjetunion als Beweis dafür, dass Sozialismus und Demokratie von Natur aus unvereinbar wären. In jüngster Zeit behaupten Akademiker, welche über die Politik Lateinamerikas im 21. Jahrhundert schreiben, dass das Scheitern von linken „populistischen“ Regierungen, ein hohes Niveau von Produktivität zu erreichen, die eingeschriebene nicht nachhaltige Natur von sozialistischer Politik demonstriert.
Vergleichbar behaupten Befürworter der Bolibourgeoisie-These, eine Beziehung zwischen Korruption und Sozialismus zu dokumentieren. Folglich ist es wichtig, ihre Argumente zu entlarven, indem man zeigt, wie wackelig und instabil die Verbindungen aufstrebender Geschäftsleute mit dem Chavismus sind – und warum diese Verbindungen zwischen den beiden ursprünglich aufgenommen wurden. Die Komplizenschaft von Firmen mit Mitgliedschaft bei Fedecámaras, als auch der Multinationalen in Korruptionsfällen bestätigt die mangelnde Berechtigung des antisozialistischen Narratives, das momentan in der ganzen Region Gesprächsthema ist.
Vorübergehende Bindungen zwischen einer sozialistischen Regierung und Wirtschaftsgruppen können in jedem längeren Prozess zur Erreichung des Sozialismus mit demokratischen Mitteln unvermeidbar sein. Eine intern demokratisch geführte Partei mit einem Grad der Autonomie gegenüber dem Staat ist die beste Garantie, dass solche Bindungen nicht mit der Zeit festwachsen, und dass Korruption in Schach gehalten wird. Es ist für Venezuela wie auch anderswo in Lateinamerika nötig, eine solche Partei aufzubauen, um echte Demokratie zu bekommen. Die Demokratisierung der PSUV und stärkerer Einfluss durch die Basis sind jetzt zwingender geboten als je für das nackte Überleben des chavistischen Projekts und den Erfolg seiner Strategie der Veränderung.
Steve Ellner lehrt seit 1977 an der Universidad de Oriente in Venezuela Wirtschaftsgeschichte und Politikwissenschaft
Quelle: amerika21.de… vom 13. August 2016
Tags: Breite Parteien, Imperialismus, Lateinamerika, Strategie, Venzuela
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