Ein vernichtendes Porträt der Leitfigur des ukrainischen Faschismus
Jason Melanovski. Grezgorz Rossoliński-Liebe: Stepan Bandera. The life and afterlife of a Ukrainian nationalist; fascism, genocide, and cult (Leben und Nachleben eines ukrainischen Nationalisten. Faschismus, Genozid und Kult). Stuttgart: Ibidem Verlag, 2014, 656 Seiten. Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich alle Verweise auf dieses Buch.
Stepan Bandera, zu Lebzeiten außerhalb der Westukraine kaum bekannt, ist in der kapitalistischen Ukraine von heute eine gefeierte Figur, deren Andenken durch Straßen, Statuen und Museen verherrlicht wird. Während der imperialistische Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine in den achten Monat geht, wird Bandera – ungeachtet seiner düsteren Vergangenheit als Faschist, Antisemit und Nazi-Kollaborateur – als Nationalheld und „Freiheitskämpfer“ gerühmt.
Im Juli wurde Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Deutschland, abberufen, weil er in einem Interview mit einem deutschen Journalisten Bandera als „Freiheitskämpfer“ glorifiziert und damit einen öffentlichen Aufschrei ausgelöst hatte.
In den Vereinigten Staaten spielt die New York Times, das Sprachrohr der Demokratischen Partei, die Verbrechen Banderas regelmäßig herunter. Glaubt man ihr, geht es bei der Kontroverse um sein Erbe lediglich um „abweichende Meinungen“. Über rechtsextreme Elemente in der Ukraine wie das Asow-Bataillon berichtet sie eher kritiklos.
Die reaktionäre Imagekampagne zugunsten einer der berüchtigtsten Figuren in der Geschichte des europäischen Faschismus wird durch einen erheblichen Mangel an historischem Wissen und Bewusstsein über Bandera und die völkermörderische Geschichte des ukrainischen Faschismus begünstigt. Dieser Mangel ist das Ergebnis jahrzehntelanger Bemühungen der imperialistischen Mächte, die Verbrechen der ukrainischen Faschisten, mit deren Nachfahren aus dem Zweiten Weltkrieg sie unter einer Decke stecken, zu vertuschen und zu beschönigen.
Tatsächlich gab es nach seiner Ermordung im Jahr 1959 mehr als fünfzig Jahre lang keine ernsthafte, wissenschaftliche Biografie über Bandera. Zum Glück änderte sich das 2014, als der deutsch-polnische Historiker Grzegorz Rossoliński‑Liebe (Freie Universität Berlin) sein umfassendes Werk Stepan Bandera: The Life and Afterlife of a Ukrainian Nationalist: Fascism, Genocide and Cult veröffentlichte.
Rossoliński-Liebes Werk ist eine gründlich recherchierte, seriöse und umfassende Studie über Bandera. Sie widerlegt sowohl die vulgären nationalistischen Lügen und Propaganda als auch die stalinistischen Geschichtsfälschungen, mit denen die wahre Geschichte Banderas und seiner verbrecherischen Bewegung jahrzehntelang wirksam verdunkelt werden konnte. Trotz der Schwächen des Buches und Rossoliński-Liebes eigener politischer Schlussfolgerungen lässt der Autor keinen Zweifel daran, dass Bandera ein verachtenswerter antisemitischer Faschist war. Das derzeitige reaktionäre Klima und die aggressive Propaganda zugunsten der ukrainischen Rechtsextremen gebieten eine sorgfältige Lektüre dieses Buches.
Die politischen und ideologischen Ursprünge des Faschismus von Bandera und der OUN
Bandera wurde 1909 in dem westukrainischen Dorf Staryi Uhryniw, das damals zu Galizien in der österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte, in eine Mittelstandsfamilie geboren, deren Denken vom ukrainischen Nationalismus beherrscht war.
Es ist unmöglich, Banderas politischen Werdegang und die Entstehung der OUN getrennt von der Oktoberrevolution von 1917 zu verstehen, in der die Arbeiterklasse unter der Führung der bolschewistischen Partei den ersten Arbeiterstaat der Geschichte gründete.
In ganz Europa traten nun faschistische Bewegungen und Organisationen auf, die dem Programm und den Prinzipien der Oktoberrevolution und des Marxismus ausdrücklich feindlich gegenüberstanden. Die bürgerlichen Nationalisten im ehemaligen Russischen Reich und in Mitteleuropa reagierten auf die sozialistische Revolution mit einem scharfen Rechtsruck. Der Sozialismus, der den gemeinsamen Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung in den Mittelpunkt stellt, stand zum „ethnisch reinen“ kapitalistischen Staat, wie er den ukrainischen Nationalisten vorschwebte, in unvereinbarem Gegensatz.
Die konterrevolutionäre Gewalt nahm vor allem in der Ukraine einen bösartig antisemitischen und nationalistischen Charakter an. Während des Bürgerkriegs kam es in der Zentral- und Ostukraine zu zahlreichen Pogromen gegen Juden, an denen Weiße Truppen und Soldaten der Westukrainischen Nationalistischen Republik unter Symon Petljura beteiligt waren. Den Pogromen fielen etwa 150‑200.000 Juden zum Opfer, großenteils in der Ukraine.
Stepan Banderas Vater Andriy, ein griechisch-katholischer Priester, diente 1918 in der Armee von Petljura. Veteranen dieser Armee gründeten später die Ukrainische Militärorganisation (UWO) und 1929 die OUN.
Sowohl die UWO als auch die OUN entstanden unmittelbar nach der Oktoberrevolution. Ihre Überzeugungen waren explizit rassistisch und standen in direktem Gegensatz zum Marxismus und sozialistischen Internationalismus. Zwar war keine der beiden Organisationen in der Sowjetukraine aktiv, doch „betrachteten sie die Sowjetunion als den gefährlichsten Feind der Ukraine und die Hauptbesatzungsmacht auf ukrainischem Territorium“ (S. 68), schreibt Rossoliński‑Liebe. Der Autor erwähnt zwar die gewalttätige nationalistische Reaktion und die Pogrome gegen die russische Revolution, deckt aber nicht die Ursprünge der politischen Feindschaft zwischen Sozialismus und Nationalismus auf. Das ist eine der Hauptschwächen seiner Analyse Banderas.
Das Buch zeigt jedoch auf, dass Banderas familiäre und Klassenherkunft seine Reaktion auf die zentralen Ereignisse des frühen zwanzigsten Jahrhunderts prägten: Erster Weltkrieg, der polnisch-ukrainische Krieg, die russische Revolution und mehrere gescheiterte Versuche, einen ukrainischen Staat zu gründen. Seine Wahrnehmung dieser Ereignisse geschah durch die Brille des ukrainischen bürgerlichen Nationalismus, durchtränkt vom Christentum und erbitterter Feindseligkeit gegen den Marxismus und Sozialismus.
1954 schrieb Bandera über den Ursprung seiner fanatisch-idealistischen nationalistischen Weltanschauung:
Zweifellos ist die ukrainische nationalistische, freiheitlich-revolutionäre Bewegung, geleitet und geformt von der OUN, eine christliche Bewegung. Ihre tiefsten Wurzeln sind christlich, sie stehen nicht nur nicht im Widerspruch zum Christentum. Weltanschaulich gesehen, betrachtet der ukrainische Nationalismus Spiritualität und die Weltsicht der ukrainischen Nation als seine Quellen. Diese Spiritualität und Weltanschauung sind sehr christlich, da sie vom tausendjährigen Einfluss der christlichen Religion geprägt wurden. (Zitiert auf S. 105)
Die OUN als Ganzes gewann ihr Führungspersonal vor allem aus diesem gebildeten, bürgerlichen, griechisch-katholischen und antisowjetischen Milieu. Vielleicht die prominenteste Figur neben Bandera war Jaroslaw Stetsko, der ab 1946 den Antibolschewistischen Block der Nationen leitete und von 1968 bis zu seinem Tod die OUN im Exil führte.
Bandera wuchs in den 1920er Jahren als Teenager in der Zweiten Polnischen Republik auf und wurde von dem nationalistischen Kult um Józef Piłsudski beeinflusst. Gleichzeitig hasste er die polnischen Behörden, die die ukrainische Minderheit des Landes unterdrückten. Angezogen von der ukrainischen Variante radikaler nationalistischer Politik, begann er, die Werke nationalistischer und rassistischer Schriftsteller wie Dmytro Donzow, Ievhen Onats’kyi, Mykola Michnowskyj und anderer zu lesen. Diese Schriftsteller, die für die Gründung und Ideologie der OUN eine wichtige Rolle spielten, standen für ultranationalistische, faschistische, rassistische und antisemitische Vorstellungen, die in den faschistischen Bewegungen Europas verbreitet waren, passten diese aber an die Besonderheiten des Osteuropas nach dem Ersten Weltkrieg an.
Zu den großen Stärken des Buches zählt Rossoliński‑Liebes ausführliche Erörterung der ideologischen Fundamente der OUN und Banderas. Für alle frühen ukrainischen Nationalisten waren die Juden, die angeblich im Dienst der polnischen Großgrundbesitzer und des zaristischen russischen Imperialismus standen, der „ewige Feind“.
Vor allem Dmytro Donzow und Michnowskyj übten auf Bandera und den ukrainischen Nationalismus enormen Einfluss aus. Anders als die in Galizien ansässige OUN, die kaum Kontakt zu Russen hatte, stammten Donzow und Michnowskyj aus der Ostukraine und bläuten der OUN und Bandera den Hass auf die Russen ein. Im Jahr 1904 formulierte Michnowskyj als eines der „Zehn Gebote“ für seine Ukrainische Nationale Partei:
Heirate keine ausländische Frau, denn deine Kinder werden deine Feinde sein; freunde dich nicht mit den Feinden deiner Nation an, denn du machst sie stärker und mutiger; handle nicht mit unseren Unterdrückern, sonst wirst du ein Verräter sein.
Gemäß dem Vertrag von Riga im Jahr 1921 zwischen Polen und der Sowjetunion wurde das Gebiet der heutigen Ukraine zwischen den polnisch kontrollierten Regionen der Westukraine und der neu gegründeten Sowjetukraine aufgeteilt. Obwohl die Ukraine seit Jahrhunderten eine multiethnische Region war, in der unzählige Völker gelebt hatten, betrachtete die OUN jeden, dessen Abstammung nicht ukrainisch war, als „Besatzer“. So konnte radikale Gewalt zu einem wesentlichen Mittel werden, um die gesamte multiethnische Region zu „säubern“ und in einer „nationalen Revolution“, wie Bandera es nannte, einen „reinen“ ukrainischen Staat zu errichten.
Rossoliński‑Liebe macht deutlich, dass der Antisemitismus der OUN ein integraler und aus freien Stücken gewählter Bestandteil ihrer Ideologie war. Die OUN vermischte den traditionellen Antisemitismus der ukrainischen Bauern, der Juden als vermeintliche Handlanger der polnischen Herrscher und Ausbeuter sah, mit dem modernen politischen Antisemitismus, der explizit antikommunistisch und rassistisch war.
In einem Beitrag für die OUN‑Zeitschrift Rozbudova Natsii (Wiederaufbau der Nation) aus dem Jahr 1929 bezeichnete Juri Mylianytsch die über zwei Millionen in der Ukraine lebenden Juden in einer Sprache, die an den militanten rassistischen Antisemitismus der Nazis erinnerte, als „ein fremdes, und viele von ihnen sogar feindliches Element des ukrainischen nationalen Organismus“.
Dmytro Donzow, vielleicht der einflussreichste OUN-Ideologe, nannte die jüdische Bevölkerung „Säulen des Sowjetsystems“ und machte die Idee des „jüdischen Bolschewismus“, die er offenkundig mit dem deutschen Nationalsozialismus teilte, im ukrainischen Nationalismus populär.
Später, 1940, als Banderas OUN‑B ihre Broschüre „Resolutionen der Zweiten Großen Versammlung der OUN“ veröffentlichte, schreibt Rossoliński‑Liebe, „wiederholten sie fast wörtlich Donzows Äußerungen über Juden als Säulen der Sowjetunion“. (S. 107).
Bandera schloss sich 1929 der OUN an und stieg schnell in ihrer Hierarchie auf. Ab 1930 leitete er die Propagandaabteilung der OUN-Heimatexekutive. Im Juni 1933 wurde Bandera offiziell zum Leiter des Heimatexekutive ernannt. Wie ehemalige OUN‑Mitglieder später bestätigten, radikalisierte Bandera die OUN schnell und konzentrierte ihre Aktivitäten auf Terrorismus, Morde und „Kampfhandlungen“ gegen polnische Behörden und Feinde der OUN.
In der Tat war Bandera zeit seines Lebens von Attentaten und Repressalien besessen. Er beteiligte sich oft persönlich an der Planung und Durchführung von Attentaten und bestimmte Attentäter und Opfer. Die OUN hatte es nicht nur auf polnische Behörden abgesehen, sondern ermordete auch sowjetische Beamte und Ukrainer, die in rivalisierenden politischen Organisationen wie der Ukrainischen Nationaldemokratischen Allianz (UNDO) aktiv waren. Auch OUN‑Mitglieder selbst wurden getötet, wenn sie sich mit Bandera überwarfen oder als „Verräter“ oder „Informanten“ galten.
Im Juni 1934 verübte die OUN ihr bekanntestes Attentat, als ihr Mitglied Hryhorii Matseiko den polnischen Innenminister Bronislaw Pieracki in Warschau niederschoss. (Matseiko floh später nach Argentinien, wo er bis 1966 lebte.) Zufällig waren nur einen Tag vor Pierackis Ermordung Bandera und weitere 20 OUN-Mitglieder verhaftet worden. Bandera blieb bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs in polnischem Gewahrsam.
In den Jahren seiner Gefangenschaft in Polen wurde Bandera in zwei Fällen der Prozess gemacht. Die Verfahren dokumentieren deutlich den faschistischen Charakter der OUN vor dem Zweiten Weltkrieg. Der erste Prozess, in dem Bandera und zwölf weitere OUN-Mitglieder des Mordes an Pieracki angeklagt waren, fand vom 18. November 1935 bis zum 13. Januar 1936 in Warschau statt. Die OUN und Bandera sahen den Prozess, über den in der polnischen und ukrainischen Presse ausführlich berichtet wurde, vor allem als ideale Gelegenheit, ihren „Befreiungskampf“ zu propagieren.
Zur Zeit des Prozesses wurde der faschistische Gruß „Slava Ukraini“ (Ruhm der Ukraine) zum ersten Mal öffentlich gezeigt. Die Parole „Slava Ukraini“ wurde ursprünglich 1920 vom Bund der ukrainischen Faschisten geprägt, der sich später mit der OUN zusammenschloss. Der Slogan, kombiniert mit einem den Nazis entlehnten Heben der rechten Hand, wurde während der Prozesse zum festen Gruß der OUN.
Bandera wurde schließlich zum Tode verurteilt, doch nach Abschaffung der Todesstrafe am 2. Januar 1936 wurde das Urteil in lebenslange Haft umgewandelt. Vor Gericht rief Banderas aus: „Eisen und Blut werden zwischen uns entscheiden!“
Der zweite Prozess fand in Lwiw statt (damals Teil der Zweiten Polnischen Republik) und begann am 25. Mai 1936. Bandera und 23 weitere OUN-Mitglieder waren angeklagt, Mitglieder der OUN zu sein und an einer Reihe von politischen Morden beteiligt gewesen zu sein, darunter an Ivan Babii, dem OUN-Mitglied Bachyns’kyi, dem sowjetischen Konsul in Lwiw und mehreren anderen polnischen Beamten.
Bei seiner Aussage am 5. Juni 1936 gestand Bandera die politischen Morde und erklärte: „Der Kommunismus ist eine Bewegung, die im äußersten Widerspruch zum Nationalismus steht.“ Seine vielleicht bemerkenswerteste Aussage machte er am 26. Juni 1936, ebenfalls vor Gericht, über die OUN, ihr Programm und ihre Beweggründe: „Unsere Idee ist nach unserem Verständnis so gewaltig, dass zu ihrer Verwirklichung nicht Hunderte, sondern Tausende von Menschenleben geopfert werden müssen.“
Die OUN-B im Zweiten Weltkrieg
Der Zweite Weltkrieg, den Nazi-Deutschland mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann, führte zur Freilassung Banderas und verschaffte den faschistischen Kräften der OUN freie Bahn. Zu Beginn des Überfalls der Nazis auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 hatte Banderas Flügel der OUN (OUN-B) sich bereits von der älteren Generation der OUN-Mitglieder abgespalten, die mit Andrij Melnyk verbündet war und als OUN-M bekannt ist. Die Spaltung drehte sich hauptsächlich um taktische Fragen.
Die Ausrufung des Unabhängigen Staates Kroatien durch die kroatische faschistische Ustascha am 10. April 1941 unter dem Schutz Nazi-Deutschlands ließ die OUN glauben, dass es auch ihr gelingen könnte, ihren eigenen faschistischen, ethnisch basierten Staat zu errichten.
Im Mai 1941 erstellte die OUN-B ein Dokument mit dem Titel “The Struggle and Activities of the OUN in Wartime“. Bandera und andere führende OUN-Mitglieder legten darin unmissverständlich ihre Pläne für die Kollaboration mit den Nazis dar und benannten die ethnischen „Feinde“, die in der kommenden „ukrainischen nationalen Revolution“ vernichtet werden sollten. Die Nazis sollten wie eine „verbündete Armee“ behandelt werden. Juden, die Hauptstütze des bolschewistischen Regimes und die „Avantgarde des russischen Imperialismus in der Ukraine“, sollten aus den „ukrainischen Gebieten“ entfernt werden.
1940 und 1941, als die OUN Überlegungen über den genauen Zeitpunkt ihrer „nationalen Revolution“ anstellte, verübte sie, bereits vor der Operation Barbarossa, eine Reihe von Mordtaten an Polen, Juden und ukrainischen politischen Gegnern. Laut Rossoliński-Liebe tötete die OUN in diesem Zeitraum etwa 2.000 Polen in Ostgalizien und etwa 1.000 in Wolhynien, sowie eine unbekannte Zahl von Juden und ukrainischen Gegnern. Bandera besuchte Ostgalizien in dieser Zeit und muss von dem Morden gewusst haben, hat sie aber in seinen späteren Schriften nie erwähnt.
Rossoliński‑Liebe hat umfangreiche Nachforschungen über die Zusammenarbeit der OUN mit den Nazis angestellt. Ihre Zusammenarbeit mit dem NS-Generalgouvernement im besetzten Polen und dem militärischen Nachrichtendienst (Abwehr) war besonders umfangreich, auch schon vor dem Überfall der Nazis auf die Sowjetunion. Sie bildete die Grundlage für die Aufstellung der Bataillone Nachtigall (auch bekannt als Stepan-Bandera-Bataillon) und Roland, die aus ukrainischen Soldaten bestanden und von deutschen Offizieren geführt wurden.
Nach Beginn der Nazi-Invasion am 22. Juni 1941 wurden diese Bataillone zusammen mit etwa 20.000 Mitgliedern der OUN‑B hinter den feindlichen Linien eingesetzt, um die sowjetischen Streitkräfte anzugreifen. Außerdem richtete die OUN‑B einen Spionagedienst in der Westukraine ein und setzte ihre Mitglieder als Spione und Übersetzer für die Abwehr ein. Die OUN‑B‑Aktivisten planten auch die kommende „ukrainische Nationalrevolution“ und wurden angewiesen, „unerwünschte polnische, moskowitische (russische oder sowjetische) und jüdische Aktivisten“ zu töten, anhand von Listen, die vor dem Einmarsch erstellt worden waren.
Für Bandera und die OUN‑B war der Einmarsch der Nazis der Beginn ihrer neuen, ukrainischen Nation nach ihren Idealvorstellungen. Sie hatten es eilig, ihren eigenen ukrainischen Staat auszurufen, obwohl Hitler selbst einen nominell unabhängigen ukrainischen Staat strikt ablehnte. Als sie am 30. Juni 1941 zusammen mit deutschen Einheiten und dem Bataillon Nachtigall in Lwiw einmarschierten, riefen die Mitglieder der OUN‑B um 20 Uhr ihren neuen Staat aus. Bandera selbst war von den Deutschen festgenommen und daran gehindert worden, „neu besetzte Gebiete“ zu betreten.
Die von Jaroslaw Stetsko verlesene Erklärung kündigte die Gründung eines ukrainischen Staates „unter der Führung von Stepan Bandera“ an und verpflichtete die Ukraine zur Zusammenarbeit mit dem „nationalsozialistischen Großdeutschland, das unter der Führung von Adolf Hitler eine neue Ordnung in Europa und der Welt schafft und der ukrainischen Nation hilft, sich von der moskowitischen Besatzung zu befreien“.
An der Veranstaltung nahmen zwei deutsche Offiziere, Hans Koch und Wilhelm Ernst zu Eikern, teil. Sie verdarben die feierliche Stimmung, indem sie den Ukrainern klarmachten, dass jetzt nicht die Zeit für einen eigenen Staat sei, und dass Hitler allein über das Schicksal des ukrainischen Staates entscheiden werde.
Westukraine, 7. Juli 1941
Ungeachtet der Differenzen mit den Nazis über einen ukrainischen Staat, massakrierten deutsche und ukrainische Truppen am 1. Juli 1941 gemeinsam die Juden in Lwiw und stachelten die ansässige Bevölkerung dazu an, sich daran zu beteiligen. Die Lektüre dieses Teils des Buches ist schwer zu ertragen, da Rossoliński-Liebe die Verbrechen der OUN‑B und ihrer Miliz an der örtlichen jüdischen Bevölkerung ausführlich dokumentiert.
Die Entdeckung von 2.800 bis 4.000 Leichen in den Gefängnissen von Lwiw, die von stalinistischen NKWD‑Offizieren vor deren Flucht ermordet worden waren, wurde benutzt, um antisemitische Gewalt zu schüren. Dazu bediente man sich des Stereotyps des „jüdischen Bolschewismus“, das in der Ideologie der OUN wie auch der der Nazis einen zentralen Stellenwert einnahm.
Den ganzen Tag über wurden Juden, oft ganze Familien, systematisch aus ihren Häusern gezerrt und öffentlich verprügelt. Sie wurden zu den Gefängnissen der Stadt gebracht, wo sie gezwungen wurden, die Leichen derer zu tragen, die der NKWD getötet hatte. Aus Schlägen wurden schnell Tötungen, als Deutsche und Ukrainer die Juden mit „Gewehrkolben, Metallstangen, Knüppeln, Spaten und anderen Gegenständen“ angriffen. Rossoliński-Liebe berichtet, dass von den rund 2.000 Juden, die in das Brygidki-Gefängnis in Lwiw verschleppt wurden, nur etwa 80 überlebten. In den Außenbezirken der Stadt führten die Einsatzkommandos der SS in den folgenden Tagen Massenerschießungen an Juden durch.
Auch auf den Straßen von Lwiw wurden Juden geschlagen, mussten sich entkleiden und wurden gezwungen, „bolschewistische“ Rituale durchzuführen, russische Lieder zu singen und Stalin zu preisen. Der Überlebende Jacob Gerstenfeld berichtete später über die allgegenwärtige und öffentlich ausgeübte Gewalt:
Alte Menschen, Kinder und Frauen wurden [in einem Bombenkrater] unter einem Hagel von Schlägen gezwungen, die Pflastersteine mit bloßen Händen herauszureißen und dann die ersten von einer Stelle zu einer anderen zu bringen. Eine Frau wurde an einen Mann gebunden, der in der Nähe arbeitete, und sie wurden durch Schläge gezwungen, in entgegengesetzte Richtungen zu laufen. Ein Jugendlicher fiel unter den Schlägen in Ohnmacht, und andere wurden gerufen, um den scheinbar Toten lebendig zu begraben. An dieser einen Stelle habe ich vier oder fünf ermordete Menschen gesehen. Etwa 60 waren betroffen. Während der Gewalt auf der Straße ging das Leben in seiner üblichen Routine weiter. Die Passanten hielten für ein oder zwei Momente inne, manche lachten über das „lächerliche‘ Aussehen der Opfer und gingen dann ruhig weiter. (Zitiert auf S. 209)
Rossoliński-Liebe zitiert Schätzungen, wonach beim Lwiwer Pogrom 7.000 bis 8.000 Juden getötet wurden. Zwar verübten sowohl Ukrainer als auch Polen Gräueltaten, doch sahen die jüdischen Überlebenden die Ukrainer – damals eine Minderheit in Lwiw – als die größte Gefahr, da sie eng mit den regierenden Nazis verbündet waren und durch die allgegenwärtige-Propaganda Banderas und der OUN in der Stadt, einschließlich der blau-goldenen Hakenkreuzfahnen, ermutigt wurden.
Collection, 80DO2]
Vom 25. bis 28. Juli fand ein weiteres Pogrom in Lwiw statt. Es wurde „Petljura-Tage“ genannt und sollte die Ermordung des ukrainischen Nationalhelden und Präsidenten der kurzlebigen Ukrainischen Volksrepublik Symon Petljura rächen. Petljura war 1926 in Paris von Sholem Schartzband, einem Verwandten von Opfern der antijüdischen Pogrome von Petljuras Armee, getötet worden. Schätzungen zufolge wurden während der „Petljura-Tage“ weitere 1.500 Juden getötet, die genaue Zahl ist nicht bekannt. In den Monaten nach dem Einmarsch der Nazis wurden in der gesamten Westukraine mehrere Tausend weitere Juden bei Pogromen getötet, Schätzungen reichen bis zu 39.000 Opfern.
Der Einmarsch der Nazis und die anschließende Besetzung der Sowjetukraine, die Bandera unterstützte und begünstigte, sollte sich als eine Katastrophe historischen Ausmaßes erweisen, bei der schätzungsweise 6.850.000 Menschen oder 16,3 Prozent der gesamten Bevölkerung getötet wurden. Die deutschen Truppen und ihre Kollaborateure ermordeten mehr als 1,6 Millionen ukrainische Juden.
Banderas OUN‑Truppen, die bei den Nazis wegen ihrer Forderung nach einem eigenen Staat in Ungnade gefallen waren, gründeten schließlich im November 1942 die „Ukrainische Aufständische Armee“ (UPA). Diesen Namen hatten sie von einer anderen Armee gestohlen, die von Taras Bulba-Borowez angeführt wurde und sich der Unabhängigkeitserklärung der OUN‑B widersetzte. Bei der gewaltsamen Übernahme der alten UPA und der Bildung einer neuen, von der OUN geführten UPA töteten Mitglieder der OUN‑B mehrere der Offiziere von Bulba-Borowez.
Bis 1943 bestand die UPA hauptsächlich aus OUN‑Mitgliedern, ukrainischen Polizisten, Veteranen des aufgelösten nationalsozialistischen Schutzmannschaft Bataillon 201 oder Deserteuren der berüchtigten Waffen‑SS‑Division Galizien. Die UPA zählte zwischen 25.000 und 30.000 Partisanen und konnte bis 1944 bis zu 100.000 mobilisieren.
Die durch und durch rassistische, nationalistische Armee wurde gegründet, weil die ukrainischen Faschisten erkannten, dass ihre deutschen Herren den Krieg verlieren würden, und die Schaffung einer kapitalistischen, bürgerlichen Ukraine durch das Herannahen der sowjetischen Streitkräfte in großer Gefahr war. Die OUN B begann daher, sich neu auszurichten, auf ein Bündnis mit dem britischen und amerikanischen Imperialismus.
Unter Führung des OUN‑B‑Mitglieds Roman Schuchewytsch verwendete die UPA weiterhin den OUN‑B‑Gruß „Slava Ukraini!“, verzichtete aber auf den mit den Nazis assoziierten Handgruß. Im Wissen um die bevorstehende Niederlage der Nazis, und um die Gunst der Alliierten zu gewinnen, begannen OUN‑B und UPA, den Mythos zu verbreiten, dass sie sowohl gegen die Sowjets als auch gegen die Nazis für eine unabhängige Ukraine gekämpft hätten. Die Führer der OUN‑B initiierten auch eine Diskussion über „Demokratisierung“, um die Unterstützung Londons und Washingtons zu gewinnen.
Auf ihrer dritten Konferenz im Februar 1943 gab die OUN‑B dieser Hinwendung zur „Demokratie“ auch formal Gestalt. Sie schaffte nicht nur den Nazi‑Handgruß ab, sondern verzichtete auch verbal auf das Führerprinzip. Aber dennoch sollte Bandera nach seiner Freilassung wieder ihr Führer werden. Zumindest in Worten verkündete die OUN‑B die „Gleichheit aller Bürger der Ukraine“, aber nur für diejenigen, „die sich eines gemeinsamen Schicksals mit der ukrainischen Nation bewusst sind“. Sie schickte sogar Vertreter nach Schweden, Italien und in die Schweiz, um Kontakte zu den Alliierten zu knüpfen, und versuchte, mit der Polnischen Heimatarmee zu verhandeln, die bis zu diesem Zeitpunkt einer der Hauptfeinde der OUN‑B war.
Der Mythos von der UPA als „demokratische Freiheitskämpfer“ hat seinen Ursprung in dieser vorgetäuschten Hinwendung der OUN‑B zur „Demokratie“ im Jahr 1943. Bis heute wird er von ukrainischen Nationalisten und ihren Apologeten verbreitet, obwohl die UPA weiterhin mit den Nazis kollaborierte und von 1943 bis 1945 schreckliche, völkermörderische Massaker an der einheimischen polnischen Bevölkerung in Wolhynien und Ostgalizien verübte.
Die Region, in der die UPA‑OUN ihre völkermörderischen Massaker verübte, war weitgehend zweisprachig. Die ethnischen Polen sprachen Ukrainisch wie ihre Muttersprache, so dass sie nicht allein anhand ihrer Sprache identifiziert werden konnten. Nach Jahrhunderten des Zusammenlebens waren Mischehen üblich.
Wie Rossoliński‑Liebe schreibt, wurde die an Polen verübten ethnischen Säuberung in internen Dokumenten der UPA und der OUN‑B, in denen solche Massaker als „Säuberung“ (chystka) bezeichnet wurden, deutlich beschrieben. In den Dörfern, in denen es viele Mischehen mit Ukrainern gab, waren die Polen besonders gefährdet, da sie zuvor nicht vermuten konnten, dass ihre ukrainischen Nachbarn sie töten wollten.
Im Januar und Februar 1943 hatten Mitglieder der OUN‑B bereits Hunderte von Polen getötet, die der Aufforderung der OUN‑B, die „ukrainischen Gebiete“ zu verlassen, nicht gefolgt waren. Doch der Höhepunkt der völkermörderischen Massaker setzte im Frühjahr ein und dauerte bis Ende 1943.
Rossoliński‑Liebes Beschreibung der entsetzlichen Grausamkeit der UPA macht die Lektüre schwer erträglich; sie ist aber unverzichtbar für jeden, der sich für die wahre Geschichte des ukrainischen Nationalismus interessiert. UPA‑Partisanen und OUN‑B‑Mitglieder töteten zusammen mit sympathisierenden einheimischen Ukrainern Polen „mit Werkzeugen wie Äxten und Heugabeln“, die manchmal zuvor von orthodoxen und ukrainisch-katholischen Priestern gesegnet wurden. UPA- und OUN‑B‑Kräfte griffen häufig Dörfer an und kehrten dann zwei oder drei Tage später zurück, „um Überlebende zu holen und sie abzuschlachten“, auch Frauen und Kinder. Mit Polen verheiratete Ukrainer wurden gezwungen, ihre Ehepartner und Kinder zu töten, da die OUN Mischehen als „Verbrechen“ betrachtete.
Die UPA‑Einheiten, die sich oft aus ehemaligen Soldaten von Nazi‑Bataillonen zusammensetzten, kopierten die Taktiken, die die Nazis bei der Ermordung der Juden in der Ukraine angewandt hatten. So luden sie Polen zu einem Dorftreffen in eine Scheune ein, die sie dann niederbrannten. Auf diese Weise wurde praktisch die gesamte polnische Bevölkerung zahlreicher Dörfer ausgelöscht, viele polnische Dörfer verschwanden ganz von der Landkarte. Römisch‑katholische Sonntagsgottesdienste wurden ebenfalls regelmäßig von UPA‑Partisanen angegriffen, die „entweder Granaten in die Kirche warfen, sie niederbrannten oder eindrangen und alle darin befindlichen Personen ermordeten“ (S. 269).
Das Tempo, mit dem die UPA‑Kräfte Polen ermordeten, war eine logische Folge der jahrelangen irrwitzigen nationalistischen Propaganda Banderas und der Gefolgsleute der OUN. Allein im Juli 1943 griffen die UPA‑Kräfte „520 Ortschaften an und töteten zwischen 10.000 und 11.000 Polen“ (ebd.).
Im Einklang mit ihrer antisemitischen Ideologie nahmen die UPA- und OUN‑B‑Kräfte auch Juden ins Visier, die bis dahin den Holocaust hatten überleben können, indem sie aus den Ghettos oder den Transporten zu den Vernichtungslagern der Nazis geflohen waren. Wenn sie sich in Lagern und Wäldern versteckten und von der OUN oder UPA gefunden wurden, „konnte es sein, dass zwanzig bis hundert oder noch mehr Juden auf einmal ermordet wurden“ (S. 273). Im März 1944 zwangen UPA‑Kräfte einen Polen, der fünfundsechzig Juden half, ihr Versteck preiszugeben, und töteten dann einundfünfzig von ihnen.
Jüdische Ärzte, Zahnärzte und medizinisches Personal wurden häufig gezwungen, für die UPA zu arbeiten. Wie mehrere jüdische Überlebende bestätigten, tötete die UPA ihre jüdischen Ärzte, sobald sich die Rote Armee näherte. Nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitete die OUN‑Propaganda die empörende Erfindung, dass jüdische Ärzte freiwillig in der UPA dienten, als „Beweis“ dafür, dass die UPA und damit auch die OUN und Bandera nicht antisemitisch gewesen seien. Solche abscheulichen Lügen verbreitet die ukrainische nationalistische Propaganda auch heute noch.
Insgesamt schätzt man, dass bei den völkermörderischen Massakern der OUN‑UPA in Wolhynien und Ostgalizien zwischen 70.000 und 100.000 Polen ums Leben kamen. Zwischen 10.000 und 20.000 Ukrainer wurden bei Vergeltungsangriffen getötet, obwohl diese größtenteils in Gebieten im heutigen Ostpolen stattfanden, wo die Ukrainer selbst eine Minderheit bildeten. Weitere 1.000 bis 2.000 Juden wurden bei den Massakern in Wolhynien und Ostgalizien getötet, wobei Rossoliński‑Liebe anmerkt, dass diese Zahl nicht als gesichert gelten kann.
Bandera selbst blieb bis 1944 in deutscher Gefangenschaft, wo er als privilegierter Häftling im Konzentrationslager Sachsenhausen lebte. Im Gegensatz zu anderen Lagerinsassen, die in überfüllten und unhygienischen Baracken untergebracht waren, grausam gefoltert wurden und Zwangsarbeit leisten mussten, hatte Bandera ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und eine Küche und kommunizierte über seine Frau regelmäßig mit der OUN. Rossoliński‑Liebe hat nach eigenen Angaben „keine Dokumente gefunden, die bestätigen, dass Bandera die ethnischen Säuberungen oder die Ermordung der Juden und anderer Minderheiten guthieß oder missbilligte“ (S. 280).
Man kann sich nur wundern, warum Rossoliński‑Liebe Bandera nicht eindeutig verurteilt, obwohl Bandera in dieser Zeit über seine Frau in Kontakt mit OUN‑B- und UPA‑Führern stand. Die Dokumente, die Rossoliński‑Liebe über Banderas Ansichten und seine Rolle beim Aufbau der OUN‑B präsentiert, beweisen zur Genüge, dass Bandera die volle politische Verantwortung für die Massaker trägt, selbst wenn er nicht jedes einzelne persönlich organisiert hat.
Tatsächlich zeigt ihre gesamte Geschichte, dass OUN‑B und UPA von Bandera bewusst als faschistische, terroristische Organisationen konzipiert wurden, um das erklärte Ideal einer „ukrainischen Nationalrevolution“ zu verwirklichen, das zwangsläufig die Ausrottung ethnischer Minderheiten in den von Bandera als „ukrainisches Land“ bezeichneten Gebieten beinhaltete. Rossoliński‑Liebes Schlussfolgerungen über die Rolle Banderas sind wohl eindeutig negativ, hätten aber viel klarer und unmissverständlicher ausfallen können.
Da die UPA mit einem dritten Weltkrieg und dem Eingreifen der Alliierten rechnete, setzte sie ihre Operationen gegen die Sowjets fort, als diese 1944 in die Westukraine einmarschierten. Die stalinistische Bürokratie ging äußerst gewaltsam und wahllos gegen die UPA vor. Weil sie unfähig war, an die breite Masse der sowjetischen Bevölkerung zu appellieren und deren Mobilisierung mehr als alles andere fürchtete, griff die Bürokratie zu bürokratischen Maßnahmen wie Deportation und Inhaftierung, und tötete große Teile der ukrainischen Bevölkerung, um die OUN und die UPA zu zerschlagen. Schätzungen zufolge töteten die sowjetischen Behörden 153.000 Menschen, verhafteten 134.000 und deportierten 203.000 Ukrainer in andere Teile der Sowjetunion. Viele der Opfer waren natürlich keine „Banderisten“. Die wahllosen stalinistischen Repressionen führten schließlich in der Westukraine zu weit verbreiteten Ressentiments gegenüber der Sowjetunion und trugen dazu bei, in den Jahren ab 1985, als die Stalinisten die Restauration des Kapitalismus vorantrieben, den Boden für das Wiederaufleben des rechtsextremen ukrainischen Nationalismus zu bereiten.
Die UPA ihrerseits versuchte, direkte Kämpfe mit den sowjetischen Streitkräften zu vermeiden, da sie ihnen weit unterlegen war. Stattdessen bediente sie sich weiterhin der sadistischen Taktiken, die sie von 1943 bis 1945 gegen die Polen angewandt hatte. Allerdings richteten sich ihre Terrormethoden nun gegen Westukrainer, die verdächtigt wurden, Kommunisten oder Sowjet‑Sympathisanten zu sein. Die UPA brannte häufig ihre Häuser nieder und tötete ganze Familien. Bei einer besonders barbarischen Aktion im August 1944 stachen OUN‑UPA‑Mitglieder „zwei kompletten Familien die Augen aus“, und zwar vor den Augen eines ganzen Dorfes, das im Verdacht stand, Anhängern der Sowjetunion Zuflucht zu geben (S. 303). Sogar Bauern, die nichts weiter getan hatten, als einer Kolchose beizutreten, wurden als „kommunistische Verräter“ betrachtet. Mit dieser Taktik schadete die OUN‑UPA sich letztlich selbst, da sie die Unterstützung der ukrainischen Landbevölkerung verlor, nicht zuletzt wegen dieser sadistischen Morde.
Die sowjetischen Streitkräfte brauchten fünf Jahre, um die UPA‑OUN als funktionsfähige Organisation in der Westukraine zu zerschlagen. Zwar betrachten rechtsgerichtete Nationalisten heute die OUN‑UPA, aufgrund ihres Widerstands gegen die sowjetischen Streitkräfte, als Nationalhelden, doch tötete sie eine viel größere Zahl ihrer ukrainischen Mitbürger als die sowjetischen Soldaten. Wie Rossoliński‑Liebe feststellt, tötete die OUN‑UPA über 20.000 ukrainische Zivilisten und fast 10.000 sowjetische Soldaten.
Auch während dieser Zeit war Bandera nicht auf ukrainischem Gebiet. Im April 1945 war er von Wien nach Innsbruck geflohen, um die Nähe sowjetischer Streitkräfte zu meiden. Unter dem Namen Stepan Popel zog er später nach München in der amerikanischen Besatzungszone. Die Stadt wurde später zum Zentrum der OUN-Operationen außerhalb der Ukraine. In seinen letzten 15 Lebensjahren erhielt Bandera auf verschiedenen Ebenen Unterstützung von der CIA, dem britischen Auslandsgeheimdienst MI6, von Francos Spanien und ehemaligen Nazis in Westdeutschland.
Die Erschaffung des Bandera-Mythos nach dem Zweiten Weltkrieg
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg leugneten Bandera und die OUN gezielt ihre Verbrechen und stellten sich als „idealistische und heldenhafte antideutsche und antisowjetische Widerstandsbewegung“ dar. Bereits 1943 hatte die OUN Dokumente vernichtet, die ihre Führung mit Pogromen und ethnischen Gräueltaten in Verbindung brachten. Die Vertuschung half ihnen nicht nur dabei, die strafrechtliche Verfolgung ihrer Verbrechen zu vermeiden, sie machte es auch dem britischen und amerikanischen Geheimdienst leichter, mit den ukrainischen Faschisten gegen die Sowjetunion zusammenzuarbeiten.
Juden und Polen wurden in Banderas Schriften nun nicht mehr als „Feinde der Nation“ bezeichnet, sondern er richtete seinen Zorn fast ausschließlich gegen die Sowjetunion. Der „jüdische Bolschewismus“ wurde nun zum „russischen bolschewistischen Imperialismus“. Die Worte „Befreiung“, „Freiheit“ und „Unabhängigkeit“ tauchten häufig in seinen Schriften und Reden auf, obwohl diese Begriffe für Bandera nur im Zusammenhang mit der Schaffung seines idealisierten faschistischen ukrainischen Ethno-Staats von Bedeutung waren. In der kranken Gedankenwelt Banderas und der OUN war ein dritter Weltkrieg erwünscht und notwendig, um ihr Ziel zu erreichen.
Banderas antisowjetisches Auftreten in der Nachkriegszeit ermöglichte es ihm, ukrainische Gemeinden in Österreich, Belgien, Kanada, England, den Niederlanden, Italien und Spanien zu besuchen, um Unterstützung für die OUN zu mobilisieren. Mit Hilfe der CIA, des britischen MI6 und anderer westlicher Geheimdienste waren viele rechtsgerichtete Ukrainer über Kriegsgefangenenlager in westliche Länder geflohen, wo sie die Lügen der OUN über Bandera und die Taten der Organisation während des Zweiten Weltkriegs verbreiteten.
Rossoliński‑Liebe macht deutlich, dass Bandera genau über die Gräueltaten der OUN und UPA Bescheid wusste, und dass er und die OUN alles in ihrer Macht Stehende taten, um ihre Spuren zu verwischen. Zusammenfassend schreibt er über diese Zeit:
Er [Bandera] ignorierte und vertuschte die Gräueltaten, die von der OUN und der UPA während und nach dem Krieg begangen wurden, weil er glaubte, dass die ukrainischen Nationalisten das Recht hatten, Tausende von Zivilisten zu töten, um ihre Ziele zu erreichen. Aus seinen Schriften geht hervor, dass er kein Mitgefühl für die Menschen empfand, die im Namen der „Befreiung“ oder „Unabhängigkeit“ ermordet wurden. Er stellte sich selbst und die OUN und UPA als Opfer dar, weil dies die einzige Möglichkeit war, den Kampf für die Unabhängigkeit fortzusetzen. Das Eingeständnis der Gräueltaten, die von der Bewegung und ihrer ausgedehnten faschistischen Organisation begangen wurden, würde ihn, andere Emigranten und die Idee der „Befreiung“ und „Unabhängigkeit“ selbst unglaubwürdig machen (S. 346).
Wir erhalten auch einen Einblick in Banderas Persönlichkeit während dieser Zeit. Das Bild, das sich uns bietet, ist nicht gerade positiv. Bandera lebte von OUN‑Geldern und Geschenken westlicher Geheimdienste in München. Er war ein Frauenheld und schlug Frauen; einmal versuchte er, die Frau seines Leibwächters zu vergewaltigen. Rassist von jeher, verbot er seinen Kindern den Umgang mit polnischen, russischen und jüdischen Kindern. Die Vereinigten Staaten schützten Bandera vor Attentatsversuchen des KGB, wussten allerdings sehr wohl um seinen zweifelhaften Charakter. 1955 lehnten die amerikanischen Behörden seinen Visumsantrag ab, mit der Begründung:
Bandera und seine Organisation sind bei Emigranten vieler Überzeugungen und Nationalitäten sehr unbeliebt. Es wird vermutet, dass Bandera in die USA einreisen möchte, um politische Agitation gegen legitime politische Organisationen mit Verbindungen zu ukrainischen Gruppen im Ausland zu betreiben [z. B. die ZP UHVR], die die Regierung unterstützt oder mit Wohlwollen betrachtet. (Zit. S. 336)
1954 stellte der britische MI6 seine direkte Unterstützung für Bandera ein, nachdem er erkannt hatte, dass Bandera in der Sowjetukraine über wenig bis gar keinen Einfluss verfügte, und fast alle seine Agenten im Land unter sowjetischer Beobachtung standen. Francos faschistisches Spanien und Westdeutschland unterstützten ihn jedoch weiterhin.
Auch der Kreml hatte Bandera nicht vergessen und versuchte in den 1950er Jahren weiterhin, ihn zu finden und zu ermorden. Am 15. Oktober 1959 wurde Bandera schließlich von einem KGB-Agenten namens Bohdan Stashyns’kyi mit einer Zyankali-Pistole getötet.
In den folgenden dreißig Jahren blieb Bandera eine Figur, die fast ausschließlich in den rechtsnationalen ukrainischen Emigrantengemeinden bekannt war, die weiterhin dem Providnyk (Führer) huldigten. Mit der bemerkenswerten Ausnahme des in Polen geborenen Holocaust-Forschers Philip Friedman gab es kaum bis gar keine kritische und ernsthafte Forschung über die OUN und Bandera. Westliche Akademiker haben den Mythos von Bandera als patriotischem Freiheitskämpfer weitgehend akzeptiert und sogar gefördert.
Große Universitäten, öffentliche wie private, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von ukrainischen Nationalisten infiltriert, und offen rassistische Persönlichkeiten wie Dmytro Donzow an der Universität von Montreal machten Karriere an Universitäten. Die 1921 in München gegründete Ukrainische Freie Universität (UFU) wurde von OUN‑B‑Mitgliedern infiltriert, von denen einige Mitglieder der Waffen‑SS Galizien gewesen waren.
Die UFU verlieh einer Reihe von OUN‑B‑Mitgliedern, die weiterhin den Mythos des „Freiheitskämpfers“ Bandera propagierten, einen Doktortitel. Einer von ihnen, Petro Mirchuk, veröffentlichte 1961 das Buch Stepan Bandera: Symbol of Revolutionary Uncompromisingness, das den Bandera-Mythos und die Lüge, die OUN‑B habe sowohl gegen die Nazis als auch gegen die Sowjets gekämpft und nichts mit dem Holocaust oder antipolnischen Massakern zu tun gehabt, offen propagierte.
Eine Reihe weiterer ehemaliger OUN‑B‑Mitglieder bekleideten Posten an der Rutgers University in New Jersey, an der McMaster University und der University of Alberta in Kanada sowie an der Johann Wolfgang Goethe‑Universität in Frankfurt am Main.
In den 1970er Jahren gründete die ukrainische Diaspora der Nachkriegszeit das Harvard Ukrainian Research Institute (HURI) und das Canadian Institute of Ukrainian Studies (CIUS) an der University of Alberta. Sowohl in Kanada als auch in den Vereinigten Staaten rückte die ukrainische Einwanderergemeinde, die zuvor vor allem mit Politik und Organisationen der Arbeiterklasse assoziiert wurde, stark nach rechts und begann, extremen Nationalismus und den Bandera‑Mythos zu verbreiten.
Die Krise der Sowjetunion in den 1980er Jahren und ihre anschließende Auflösung durch die stalinistische Bürokratie im Jahr 1991 führten schließlich zu Banderas offizieller Rückkehr in die ukrainische Politik. Ein deutliches Zeichen für den reaktionären, nationalistischen Charakter der stalinistischen Kommunistischen Partei der Ukraine war, dass sie 1990 auf dem 28. Parteitag über eine mögliche Rehabilitierung der OUN und der UPA debattierten. Letztlich entschied sich die Partei gegen die Rehabilitierung, bezeichnete aber den Krieg zwischen der OUN‑UPA und den sowjetischen Funktionären als „Bruderkrieg“.
1990 wurde das erste Bandera-Denkmal in Banderas Geburtsort Staryi Uhryniw errichtet. Viele weitere folgten in der gesamten Westukraine, als OUN-Emigranten in die Ukraine zurückkehrten, in die Politik eintraten und nationalistische Organisationen wie das Stepan Bandera Center of National Revival in Kiew gründeten.
Rossoliński‑Liebe dokumentiert, wie die offizielle Förderung von Bandera mit der Einsetzung von Präsident Viktor Juschtschenko im Jahr 2004 nach der von den USA unterstützten sogenannten orangenen Revolution neue Dimensionen annahm. Im Jahr 2007 erklärte Juschtschenko den UPA- und OUN‑B‑Führer Roman Schuchewytschzum Helden der Ukraine. 2010 verlieh er Bandera denselben Titel. Wie Rossoliński‑Liebe feststellt, „legitimierten viele lokale ‚liberale‘ und ‚progressive‘ Intellektuelle die nationalistischen Gedenkfeiern durch ihr Schweigen und ihre verhohlene Bewunderung“ (S. 499).
Seitdem sich der Bandera‑Kult in der Ukraine wieder ausbreitete, sind auch politische Parteien entstanden, die sich auf seine rechtsextreme faschistische Ideologie gründeten, wie die Sozial‑Nationale Partei der Ukraine. Die Swoboda‑Partei ging später aus der Sozial‑Nationalen Partei der Ukraine hervor und spielte eine zentrale Rolle bei dem von den USA unterstützten Putsch gegen den gewählten Präsidenten Viktor Janukowitsch im Jahr 2014. Der Parteivorsitzende Oleh Tyahnybok behauptete einmal, die Ukraine werde von der „russisch‑jüdischen Mafia“ kontrolliert, und bediente sich damit der Sprache, die Bandera vor achtzig Jahren benutzte. Das hielt den damaligen US‑Vizepräsidenten Joe Biden und den deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier nicht davon ab, ihm die Hand zu schütteln.
Die heutige Ukraine
Rossoliński‑Liebes Bandera‑Biografie erschien im Oktober 2014. Sie geht nicht auf den Putsch gegen den gewählten Präsidenten Viktor Janukowitsch im selben Jahr ein, den der westliche Imperialismus im Einvernehmen mit rechtsextremen ukrainischen nationalistischen Kräften durchführte, die Bandera weiterhin als Helden betrachteten. Der Autor konnte auch nicht Stellung nehmen zu dem fast acht Jahre andauernden Bürgerkrieg im Donbass, den die von der NATO unterstützten Regierungen des ehemaligen Präsidenten Poroschenko und des derzeitigen Präsidenten Wolodymyr Selenskij führten, und der 14.000 Zivilisten und Soldaten das Leben kostete.
Was den aktuellen Krieg angeht, so hat das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) insgesamt 5.827 zivile Todesopfer in der Ukraine festgestellt, wobei die tatsächlichen Zahlen zweifellos höher sind. Über 7 Millionen ukrainische Flüchtlinge leben heute in ganz Europa. Sowohl Russland als auch die Ukraine halten die Zahl der getöteten Soldaten, die auf beiden Seiten sicherlich in die Zehntausende gehen, streng geheim. Der Krieg ist in jeder Hinsicht eine Katastrophe mit weitreichenden historischen Folgen für die Menschheit.
Was Bandera betrifft, so wurden sowohl dieser Krieg als auch der vorangegangene Bürgerkrieg im Donbass von einer beispiellosen Verherrlichung des faschistischen Erbes des ukrainischen Nationalismus begleitet; ukrainische Soldaten zeigen sich häufig mit Nazi- als auch OUN(B)‑Emblemen. Auch die nach dem Putsch von 2014 etablierte ukrainische Regierung wurde von unzähligen Skandalen heimgesucht, die sie mit faschistischen Elementen in Verbindung bringen. Im Jahr 2019 besuchte Selenskijs ehemaliger Vizepräsident Oleksij Hontscharuk ein Neonazi‑Rockkonzert. Im selben Jahr nannte Selenskij Bandera einen „unbestreitbaren Helden“, der „die Freiheit der Ukraine verteidigt“ habe.
Der aktuelle Krieg in der Ukraine kann natürlich nicht allein auf das Erbe Banderas und faschistische Elemente in der heutigen ukrainischen Gesellschaft zurückgeführt werden. Vielmehr ist er das Ergebnis der katastrophalen Zerstörung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie und drei Jahrzehnte unerbittlicher Kriege und der Einkreisung Russlands durch den US‑Imperialismus.
In diesem Prozess haben der westliche Imperialismus und insbesondere die Vereinigten Staaten in den faschistischen Kräften der Ukraine wieder einmal einen nützlichen Verbündeten gefunden, um ihre lang gehegten Pläne zur Aufspaltung Russlands in einzelne Staaten und zur Ausplünderung seiner natürlichen Ressourcen umzusetzen. Einfach ausgedrückt: Ohne die Bewaffnung und Unterstützung faschistischer Kräfte wie des Asow‑Bataillons, die eine führende Rolle in den ukrainischen Streitkräften spielen, wäre die Ukraine nicht in der Lage gewesen, den aktuellen Krieg zu führen. Einer Schätzung von Reuters aus 2020 zufolge machen diese Milizen, die größtenteils aus Rechtsextremisten bestehen und von ihnen geführt werden, 40 Prozent der ukrainischen Streitkräfte aus und zählen 102.000 Mitglieder.
Selenskij selbst und die ukrainische Regierung sind zwar keine ausgesprochenen Faschisten wie das Asowsche Bataillon und der Rechte Sektor, doch Banderas Erbe und die rechtsextremen Elemente, die ihn verehren, sind aufgrund ihrer Bereitschaft, Krieg zu führen und gewalttätige Vergeltung an ihren Gegnern zu üben, vom ukrainischen Staat mit offenen Armen aufgenommen worden. Banderas Worte aus dem Jahr 1936, dass für die Vollendung der ukrainischen „nationalen Revolution“ „nicht Hunderte, sondern Tausende von Menschenleben geopfert werden müssen“, sind nun in gewisser Weise Wirklichkeit geworden.
Solche Ideen, so Rossoliński‑Liebe, waren „integrale Bestandteile der Agenda“ von Banderas Nationalismus, und sie werden nun für die Interessen des westlichen Imperialismus genutzt. Ein Kommentar von Rossoliński‑Liebe zum aktuellen Stand des „Bandera‑Kults“ wäre eine wichtige Ergänzung zu einer aktualisierten Ausgabe seines Buches.
Fazit
Es ist bedauerlich, dass Rossoliński‑Liebe seine Biografie mit der Behauptung abschließt, es gebe in Bezug auf Banderas Schuld an den Verbrechen der OUN eine gewisse „Unklarheit“ – ein Begriff, den er mehrmals verwendet. Nachdem er festgestellt hat, dass Bandera aufgrund seiner Inhaftierung nicht in gleichem Maße schuldig ist wie ein Hitler, schreibt Rossoliński‑Liebe: „Bandera persönlich verantwortlich zu machen für die Verbrechen, die von der UPA während der Zeit seiner Inhaftierung begangen wurden, wäre kontrafaktisch und irrational.“ Er fügt hinzu, dass sich Bandera in seiner „Begeisterung für Massengewalt gegen ‚Feinde‘ oder gegen eine bestimmte ethnische Gruppe nicht nennenswert von Hitler oder Pavelić unterschieden zu haben scheint“ (S. 543). Hier scheint Rossoliński‑Liebe absichtlich die notwendigen scharfen politischen Schlussfolgerungen zu vermeiden, nachdem er ein ganzes Buch geschrieben hat, das die Weltanschauung und das mörderische Treiben dieses Faschisten belegt.
Es muss auch angemerkt werden, dass Rossoliński‑Liebe, wie fast alle bekannteren Historiker Russlands und der Ukraine, eine desorientierte Position zum imperialistischen Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine eingenommen hat, indem er die Ukraine in dem Konflikt unterstützt und die Rolle der rechtsextremen Kräfte in der ukrainischen Gesellschaft und im Militär herunterspielt. Außerdem hat er die Maidan‑Revolte 2014 als „demokratische Bewegung“ unterstützt, obwohl sie zum Putsch in Kiew führte, bei dem rechtsextreme Kräfte eine wichtige Rolle spielten.
Die Schwächen von Rossoliński‑Liebes Biografie und seinen politischen Positionen hängen nicht zuletzt damit zusammen, dass er die Klassenursprünge des Faschismus, der Oktoberrevolution und die Rolle des Stalinismus nicht untersucht hat.
In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass Leo Trotzki, ein gebürtiger Ukrainer, der eine entscheidende Rolle im Bürgerkrieg in der Ukraine nach 1917 spielte und bedeutende Werke über die ukrainische Frage schrieb, im gesamten Buch nur zweimal erwähnt wird. Trotzkis Ausweisung aus der Sowjetunion, die Entscheidung der Stalinisten für das nationalistische Programm des „Sozialismus in einem Land“ im Widerspruch zum internationalistischen Programm der permanenten Revolution – über all dies erfährt der Leser nichts.
Man kann von Rossoliński‑Liebe sicher nicht erwarten, dass er dieser Geschichte einen großen Teil seiner Biografie widmet. Jedoch, ohne ein gründliches Verständnis von Trotzkis Schriften und der stalinistischen, nationalistischen Reaktion gegen den Oktober ist es einfach unmöglich, den Einfluss von Bandera und der OUN während des Zweiten Weltkriegs und ihre Wiederauferstehung in der modernen Ukraine zu erklären.
In seinem Essay „Das ukrainische Problem“ von 1939 urteilte Trotzki in Worten, die auch achtzig Jahre später noch große Bedeutung haben, scharf über den reaktionären Charakter der ukrainischen Bourgeoisie.
Die Ukraine ist besonders reich an Erfahrung mit falschen Wegen des Kampfes für nationale Befreiung. Dort wurde alles versucht: die kleinbürgerliche Rada, Skoropadski, Petljura, „Bündnis‘ mit den Hohenzollern und Kombinationen mit der Entente. Nach all diesen Erfahrungen können nur politische Leichname weiterhin ihre Hoffnung auf Fraktionen der ukrainischen Bourgeoisie als den Führer des nationalen Befreiungskampfes setzen. Das ukrainische Proletariat allein ist fähig, nicht nur die Aufgabe zu lösen, die wesentlich revolutionär ist, sondern auch die Initiative für ihre Lösung zu ergreifen. Das Proletariat und nur das Proletariat kann die Bauernmassen und die wirklich revolutionäre nationale Intelligenz um sich vereinigen.
In demselben Aufsatz stellte Trotzki fest, dass es ohne Stalin keine Ukraine-Politik Hitlers gegeben hätte. Tatsächlich resultieren alle Katastrophen, die die Ukraine seit den 1930er Jahren heimgesucht haben – Hungersnot, politische Säuberungen, der Zweite Weltkrieg, ethnische Säuberungen, die endgültige Auflösung der Sowjetunion und sogar der gegenwärtige Krieg – letztlich daraus, dass die Stalinisten das marxistische und internationalistische Programm verworfen haben, das der Oktoberrevolution zugrunde lag. Die rechtsextremen Traditionen der ukrainischen nationalistischen Bourgeoisie mit ihren verheerenden Folgen konnten nach 1991 nur aufgrund des jahrzehntelangen stalinistischen Verrats an der Oktoberrevolution wieder Fuß fassen.
Trotz seiner Unzulänglichkeiten, die größtenteils auf Rossoliński‑Liebes eigene Weltsicht und sein begrenztes Verständnis der Ursprünge des Faschismus und der Oktoberrevolution zurückzuführen sind, hat er der Welt einen großen historischen Dienst erwiesen, indem er unwiderlegbare Beweise für die Verbrechen des ukrainischen Faschismus und Banderas vorgelegt hat.
Es ist auch sein großes Verdienst, dass er selbst unter den Bedingungen des aktuellen Kriegs die Verbrechen von Bandera weiter aufgedeckt hat, unter anderem durch umfangreiche Artikel und Interviews für deutsche Medien. Einige dieser Interviews wurden von Zehntausenden von Menschen gelesen und gesehen.
Schließlich muss auch anerkannt werden, dass diese Arbeit mit erheblichen persönlichen und beruflichen Risiken und Kosten für Rossoliński‑Liebe verbunden war. Beinahe zwei Jahrzehnte seines Lebens, die er der Erforschung von Bandera widmete, wurde er auf Schritt und Tritt von anderen Wissenschaftlern gewarnt, sich ein anderes Thema zu suchen, und von den heutigen Anhängern des ukrainischen Faschismus angefeindet und bedroht.
Als Rossoliński‑Liebe 2012 von der deutschen Botschaft in Kiew eingeladen wurde, sechs Vorträge in drei ukrainischen Städten zu halten, wurde nicht nur von rechtsextremen Parteien wie Swoboda, sondern auch von nationalistischen und etlichen vorgeblich „liberalen“ Gelehrten Hysterie geschürt. Letztendlich wurden alle Vorlesungen bis auf eine abgesagt. Bei seiner einzigen Vorlesung wurde Rossoliński‑Liebe in der deutschen Botschaft in Kiew verbarrikadiert, während rechtsextreme nationalistische Demonstranten ihn draußen als „Enkel von Josef Goebbels“ beschimpften. Wäre Rossoliński‑Liebe auf der Straße, in Abwesenheit von Sicherheitskräften, auf Mitglieder von Swoboda gestoßen, wäre er zweifelsohne gewaltsam angegriffen worden.
Kein einziger großer ukrainischer Verlag war bereit, eine Übersetzung von Rossoliński‑Liebes inzwischen viel beachteter Bandera‑Biografie zu veröffentlichen, und das Buch erschien erst in diesem Jahr, kurz vor Ausbruch des Krieges, in einem kleinen Verlag.
Rossoliński‑Liebes Bandera-Biografie liefert, trotz ihrer Grenzen, Arbeitern und Intellektuellen das historische Wissen und die nötigen Fakten, um heute, da der Imperialismus die Welt in den Abgrund von Krieg und Faschismus zieht, das Wiederaufleben rechtsextremer Kräfte zu verstehen und zu bekämpfen.
Quelle: sws.org… vom 7. November 2022
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