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Ukraine: Säuberungsaktionen bei der Ukrainisierung oder Entrussifizierung

Eingereicht on 13. Dezember 2022 – 10:52

Florian Rötzer. Die ukrainische Regierung will das Land und die Köpfe von allem Russischem säubern: von der Sprache über Kultur und Geschichte – und neuerdings bis hin zur Wissenschaft. Der „Bildungs-, Informations- und Wissenschaftsraums der Ukraine“ soll vor „russischem Einfluss“ geschützt werden.

Die Folgen der Entrussifizierung, die die Ukraine schon vor Beginn des Kriegs massiv betrieben hat, um eine von allem Russischen, vor allem auch Russischsprachigen, gereinigte ukrainische Identität zu erhalten, ist toxisch und gefährlich. Die Nato-Unterstützerstaaten scheint das nicht zu bekümmern bzw. sie schauen weg, weil das Russland, wo ebenfalls ein Nationalismus staatlich gefördert wird, in die Hände spielen könnte und Nationalismus, der die nationale Einheit predigt, immer gut ist für militärische Aktivitäten. Aber verteidigt die Ukraine damit europäische Werte? Soll die EU ein derart nationalistisches Land wirklich aufnehmen?

Der radikale Nationalismus hatte sich schon kurz nach dem Umsturz gezeigt, als die damalige Regierung unter dem rechtsnationalistischen Präsidenten Oleksandr Turtschynow ein 2012 auch unter Protesten eingeführtes Gesetz, nach dem Russisch zur Regionalsprache und damit in vielen Regionen als zweite Amtssprache erklärt wurde, wieder abschaffen wollte. Auf Druck westlicher Unterstützer wurde die Initiative, die für erhebliche Unruhe in der Ostukraine gesorgt hatte, wieder zurückgenommen, um es dann 2018 endgültig abzuschaffen.

Dabei geht es nicht nur um die Auslöschung der russischen Sprache, sondern auch um die der russischen Kultur und auch der russisch-orthodoxen Kirche, die als Verlängerung des russischen Geheimdienstes FSB gilt. Es werden Straßen und Plätze umbenannt, Skulpturen von russischen Künstlern wie Tolstoi zerstört, Musik, Filme und Bücher ebenso verboten wie Unterricht in russischer Sprache. Nach dem 2019 verabschiedeten „Gesetz zur Gewährleistung der ukrainischen Sprache als Landessprache“ müssen seit Januar 2022 alle nationalen Printmedien in ukrainischer Sprache publiziert werden, ab Juli 2024 auch alle regionalen Medien. Selbst Angestellte von Supermärkten, Restaurants, Cafés, Sporteinrichtungen, Friseursalons und anderen Dienstleistungsbetrieben müssen seit letztem Jahr Kunden auf Ukrainisch bedienen. Die Forderung nach Mehrsprachigkeit kann mit einem Aufruf zum Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung gleichgesetzt und geahndet werden (Kampf gegen die russische Sprache).

2017 war bereits ein „Institut für das Nationalandenken“ eingerichtet worden, das die Geschichte des Landes verwalten, propagieren und kontrollieren soll. Ein Gesetz sieht denn auch die Ehrung der Unabhängigkeits- und Widerstandskämpfer vor, wozu auch die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) der rechtsnationalistischen „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) gehört, die zeitweise mit den Nazis kooperiert und gegen die Russen, aber auch gegen Polen gekämpft hatten. Deren Chef war Stepan Bandera, der gefeierte Held der Rechtsnationalisten.

Nun hat ein Wissenschaftler darauf aufmerksam gemacht, dass mit der Ukrainisierung auch ein Verschwinden von wissenschaftlichen Publikationen einhergeht, da diese früher häufig in russischer Sprache veröffentlicht wurden. Der Soziologe Wladimir Paniotto, der als Professor an der Kiew-Mohyla-Akademie lehrt und das Kyiv International Institute of Sociology (KIIS) leitet, verweist auf die Folgen des in erster Lesung verabschiedeten, im Juli eingereichten Gesetzesentwurfs „Über Änderungen bestimmter Gesetze der Ukraine in Bezug auf das Verbot der Nutzung von Informationsquellen des Aggressorstaats oder des Besatzungsstaats in Bildungsprogrammen, in wissenschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Aktivitäten“.

Die ukrainischen Rada-Abgeordneten meinen, es seien „Mechanismen zum Schutz des Bildungs- und Wissenschaftsbereichs in der Ukraine vor der Propaganda und Verbreitung der chauvinistischen, aggressiven geopolitischen Doktrin des ‚Russischen Friedens‘ durch wissenschaftliche Forschung, akademische Texte und Informationsquellen“ notwendig. Offenbar ist schon die Verwendung russischer Sprache, auch in älteren Schriften, in wissenschaftlichen Texten eine Bedrohung. Hervorgehoben wird, dass es vor allem auch um „Verweise in Bildungsprogrammen und wissenschaftlicher Forschung auf Informationsquellen (geht), die auf dem Territorium in der Staatssprache von Bürgern und juristischen Personen des Aggressorstaates erstellt wurden“. Natürlich darf auch kein wissenschaftlicher Text mehr auf Russisch geschrieben werden.

Es wird nicht unterschieden, sondern Kahlschlag betrieben, ausgerechnet im wissenschaftlichen Diskurs, der gerade nicht national ausgerichtet ist und in dem nicht durch Zensur, sondern durch Falsifikation Hypothesen zurückgewiesen werden sollten. Für einen aufrechten Nationalisten ist alles, was in Russland erforscht und was auf Russisch veröffentlicht wird, des Teufels, vor dem man die ukrainischen Wissenschaftler und Studierenden durch Begrenzungen schützen muss. Daher wird auch von einem „Bildungs-, Informations- und Wissenschaftsraums der Ukraine“ gesprochen, der vor „russischem Einfluss“ geschützt werden müsse. Es geht mithin darum, Grenzen im Informationsfluss einzuziehen. Das macht die Ukraine nur besonders ausgiebig und explizit, ist aber die Tendenz auch im Westen, wo man ebenfalls Mauern gegen Desinformation errichten will (natürlich nicht die eigene), aber immerhin noch nicht eine nationale Einmauerung von Wissenschaft in Angriff nimmt.

Der Soziologe Wladimir Paniotto schreibt entrüstet: „Acht meiner vor 1991 veröffentlichten Bücher  (…) und etwa 100 Artikel fallen darunter. Wie soll ich wissenschaftliche Artikel und Bücher schreiben und in der Mohyla-Akademie unterrichten, ohne mich auf meine Arbeiten zu beziehen? Und was kommt als nächstes – Beschlagnahmung von Bibliotheken und Verbrennung auf dem Marktplatz?“ Verboten sind auch „Übersetzungen ausländischer Autoren ins Russische“. Paniotto schreibt weiter: „Eine Menge mathematischer Literatur, auf die ich mich in meinen Arbeiten und in den von mir gelesenen Kursen beziehe, wurde ins Russische übersetzt.“

Die Nationale Akademie der Wissenschaften der Ukraine habe in zwei Gutachten das Gesetz abgelehnt, trotzdem wurde es verabschiedet, kritisiert der Soziologe. Er habe mit Kollegen gesprochen, die meinen „dass dieses Gesetz in dieser Form den Wunsch der Abgeordneten zeigt, ihren Patriotismus zu demonstrieren, aber es ist sehr schädlich für die ukrainische Wissenschaft und Bildung.“ Er schließt seine entrüsteten Bemerkungen: „Niemand kann ruhig seiner Arbeit und sogar seinem Leben nachgehen, während das Parlament arbeitet.“

Quelle: overton-magazin.de… vom 13. Dezember 2022

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