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Eine halbe Million Arbeiter streiken in Großbritannien

Eingereicht on 3. Februar 2023 – 10:02

Robert Stevens. Am Mittwoch beteiligten sich in Großbritannien bis zu 500.000 Arbeiter an koordinierten Streiks, zu denen sechs große Gewerkschaften aufgerufen hatten. Es handelte sich um die größte Beteiligung an einem Tag seit dem 30. November 2011, als zwei Millionen Menschen gegen die Rentenkürzungen der konservativ-liberaldemokratischen Koalition gestreikt hatten.

Etwa 300.000 Lehrer an 23.000 Schulen (mehr als 80 Prozent aller Schulen) folgten dem Streikaufruf der National Education Union (NEU). Regierungsangaben zufolge mussten 51,7 Prozent der öffentlichen Schulen ganz oder teilweise geschlossen werden. Daneben blieben alle 150 Universitäten geschlossen, weil 70.000 Dozenten dem Streikaufruf der University and College Union folgten. Die Gewerkschaft plant in den nächsten zwei Monaten insgesamt achtzehn Arbeitsniederlegungen.

Tausende Mitglieder der schottischen Lehrergewerkschaft Educational Institute of Scotland befinden sich bereits seit drei Wochen immer wieder im Streik.

Im öffentlichen Dienst streikten 100.000 Mitglieder der Public and Commercial Services Union (PCS). Davon betroffen waren Ministerien, Verwaltungs- und andere Behörden, Museen und Jobcenter sowie Grenzposten. An letzteren setzte die Regierung das Militär ein, um Reisepässe zu prüfen.

Der Eisenbahnverkehr war besonders stark betroffen. Nur ein Drittel der Züge fuhren, da sich 12.500 Lokführer der Gewerkschaften ASLEF und RMT an Streiks beteiligten.

Die Streiks waren so organisiert, dass sie mit der Verabschiedung des neuen Anti-Streikgesetzes am Montag im Parlament zusammenfielen, das vermutlich im Sommer in Kraft treten wird. Das Gesetz mit dem Namen Strikes (Minimum Service Levels) Bill ermöglicht es Ministern, während Streiks in wichtigen Bereichen der Wirtschaft einen Minimalbetrieb vorzuschreiben. Als Erstes soll es gegen die Streiks bei der Bahn, Rettungsdiensten und Feuerwehr zum Einsatz kommen. Danach wird es auf alle Streiks im Verkehrs-, Gesundheits- und Bildungswesen angewandt werden.

Bei der Hauptdemonstration des Gewerkschaftsdachverbands Trades Union Congress (TUC) in London zogen 40.000 Menschen von Portland Place nach Whitehall, wo nahe der Downing Street eine Kundgebung stattfand. In vielen anderen Städten, u.a. in Birmingham, Sheffield, Leeds, Bristol und Manchester fanden kleinere Kundgebungen von einigen hundert bis mehreren tausend Teilnehmern statt.

Die Streiks und Proteste sind Ausdruck der Entschlossenheit von Millionen von Arbeitern, die einen langwierigen Kampf gegen die Tory-Regierung und die Unternehmer führen, die jedes Zugeständnis verweigern. Unter den Teilnehmern waren Feuerwehrleute, die gerade erst mit großer Mehrheit einem Streik für eine Lohnerhöhung zugestimmt haben.

Streikende Feuerwehrleute in Sheffield während der Demonstration gegen das Anti-Streikgesetz am 1. Februar 2023 [Photo: WSWS]

Jack, ein Sekundarschullehrer, erklärte der WSWS während der Demonstration in London: „Ich glaube, die Kürzungen im Bildungswesen haben die gesamte Belegschaft geschwächt, die Löhne sind in allen Fächern gesunken. Dass wir nicht genug Lehrer finden, ist direkt die Schuld der Tory-Regierung. Es geht zu Lasten der Kinder, weil sie keine ordentlich bezahlten Lehrer haben. Wie sollen sie sich da gut entwickeln können? Die Schulkinder heute haben bisher nichts als Kürzungspolitik erlebt. Deshalb finde ich, es ist Zeit, etwas dagegen zu tun.“

Der Sekundarschullehrer Jack [Photo: WSWS]

Auf die Frage, wie er die Milliardenausgaben für den Krieg gegen Russland in der Ukraine beurteilt, erklärte Jack: „Die Tory-Regierung benutzt den Krieg in der Ukraine als Vorwand, um zu sagen ‚wir können dies und das nicht finanzieren‛. Aber die Kürzungen im Bildungswesen gab es schon vor dem Ukrainekrieg, und es wird sie danach immer noch geben. Es ist symptomatisch dafür, wie Großbritannien regiert wird.“

Hinsichtlich des Versprechens von Labour-Chef Sir Keir Starmer, das Gesetz nach Beginn seiner Amtszeit auszusetzen, erklärte er: „Ich glaube, wenn wir darauf warten, dass Keir Starmer etwas für die Arbeiter tut, dann können wir lange warten!“

Die Zahl der Streik- und Protestteilnehmer wäre noch viel größer gewesen, wenn die Gewerkschaften versucht hätten, die ganze Arbeiterklasse gegen die Kriminalisierung von Streiks und die bisher größte Bedrohung für die demokratischen Rechte der Arbeiter zu mobilisieren. Mit den Streiks am Mittwoch beteiligten sich Arbeiter an den anhaltenden Demonstrationen für höhere Löhne und gegen Angriffe auf ihre Arbeitsbedingungen und Renten. Obwohl Hunderttausende von Pflegekräften und Sanitätern des National Health Service in den letzten Wochen gestreikt hatten, sorgten die Gewerkschaften des Gesundheitswesens dafür, dass an den Aktionen am Mittwoch kein einziger Beschäftigter des NHS teilnahm.

Das Streikgesetz wurde am 10. Januar dem Parlament vorgelegt, passierte am 16. und 30. Januar die zweite und dritte Lesung, ohne dass die Gewerkschaften auch nur einmal zu einem Streik aufriefen. Jetzt wird es im House of Lords debattiert, wo am Dienstag die erste Lesung stattfindet.

Der TUC versuchte, den Widerstand gegen das Gesetz so gering wie möglich zu halten. Einige seiner Veranstaltungen zum „Schutz des Streikrechts“ fanden sogar in Pubs statt!

Die Gewerkschaftsbürokratie unterdrückt den Klassenkampf und hat entsprechend auch die Kampagne gegen das Streikgesetz darauf begrenzt, Abgeordnete der Tories und aller anderen Parteien aufzufordern, dagegen zu stimmen. Zu diesem Zweck hat TUC-Chef Paul Nowak der Regierung zum Schluss der Kundgebung eine Petition gegen das Streikgesetz vorgelegt.

Statt zu weiteren Arbeitskämpfen aufzurufen, bettelten die Gewerkschaftsführer die Regierung an, einem „vernünftigen“ Lohnabschluss unterhalb der Inflationsrate zuzustimmen, den sie ihren Mitgliedern als Erfolg verkaufen könnten. Einen Tag nachdem die NEU mit der Regierung verhandelt hatte, um die Streiks am Mittwoch in letzter Minute abzusagen, veröffentlichten ihre gemeinsamen Generalsekretäre Mary Bousted und Kevin Courtney den wenig aufrüttelnden Aufruf: „Heute sagen wir der Bildungsministerin Bescheid. Sie hat bis zum nächsten Streiktag für England am 28. Februar [in einem Monat!] Zeit, ihre Haltung zu ändern.“

RMT-Chef Mick Lynch hielt eine seiner üblichen demagogischen Reden: „Wir sind die Arbeiterklasse, und wir sind zurück.“ Dabei hatte er zuvor zugestimmt, seinen 40.000 Mitgliedern einen faulen Ausverkauf vorzulegen, mit dem er den Streik beenden wollte.

Lynch weiß genau, dass zwischen den Versuchen der RMT und Gewerkschaftsbürokratie, einen Kampf gegen die beiden Hauptparteien der herrschenden Elite zu verhindern, und der Stimmung in der Arbeiterklasse eine abgrundtiefe Kluft existiert. Auf der Kundgebung versuchte er deutlicher als bisher, den Zorn der Arbeiter auf die Mühlen der Labour Party zu lenken, indem er die Tories beschuldigte: „Sie sind es, die für euer Elend verantwortlich sind. Sie müssen das in Ordnung bringen, und wenn sie dazu nicht fähig sind, müssen sie ihren Platz räumen. Wir sollten allgemeine Wahlen abhalten und eine Regierung [geführt von Starmer] bekommen, die für das Volk sorgt.“

Er kombiniert gelegentliche Forderungen nach eintägigen Generalstreiks gegen das Streikgesetz mit Aufrufen an die Arbeiter, Druck auf Tory-Abgeordnete auszuüben, gegen das Gesetz zu stimmen. Diese Woche erklärte er: „Wir müssen die Abgeordneten erreichen… Wir sollten die Tories über dieses Gesetz spalten.“

Wie Lynch am Montagabend in seinem Wahlkreis Islington North bei einer öffentlichen Veranstaltung mit dem ehemaligen Labour-Parteichef Jeremy Corbyn zu verstehen gab, will er Hinz und Kunz mobilisieren, nur nicht die Arbeiterklasse.

Er schwadronierte über die Enough is Enough-Kundgebungen, weil „ich im Rahmen dieser Kampagne in Kathedralen, Gemeindekirchen, Tempeln, Gurdwaras, Moscheen, Rathäusern, war…“

Über alle politischen Schurken äußerte er sich so: „Wir müssen alle mobilisieren, schottische Nationalisten, walisische Nationalisten oder liberale Demokraten, egal.“ Als Seitenhieb auf seine pseudolinken Verteidiger fügte er hinzu: „Auch sozialistische Hardliner, wen auch immer, aus Nimmerland.“ Er unterbreitete ein unverhülltes Friedensangebot an Starmer und die rechte Blair-Fraktion: „Wir sollten unsere Streitigkeiten vergessen, unsere Differenzen beilegen… Wir sollten die schmerzhafte Geschichte dieser Bewegung hinter uns lassen. Wir müssen es schaffen, vereint aufzutreten.“

Doch der Weg vorwärts für die Arbeiterklasse führt über die Zurückweisung der bankrotten Politik Lynchs und aller anderen Fraktionen der Labour- und Gewerkschaftsbürokratie.

Die Socialist Equality Party verteilte an den Streikposten ihre Erklärung „A socialist strategy to defeat the anti-strike laws“ (Eine sozialistische Strategie, um das Anti-Streik-Gesetz zu verhindern), in der wir schrieben: „Die Arbeiter müssen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Wir rufen auf zum Aufbau von Aktionskomitees, die unabhängig von der Gewerkschaftsbürokratie gemeinsame Aktionen breitester Schichten der Arbeiterklasse planen, um für einen Generalstreiks zu mobilisieren, der die Tory-Regierung zu Fall bringt, was viele Arbeiter fordern…

„Wenn Arbeiter Widerstand gegen die Offensive der Tory-Regierung leisten wollen, die faktisch von allen Oppositionsparteien unterstützt wird, müssen sie sich für eine internationale Strategie auf der Grundlage der weltweiten Vereinigung der Arbeiter entscheiden. So können sie den Kampf gegen die brutalen Kürzungen in allen Ländern führen und gegen die existenzielle Gefahr eines dritten Weltkriegs, der mit Atomwaffen geführt wird.“

Wir betonten, dass sie auf die Millionen von französischen Arbeitern zugehen sollten, die jetzt gegen Macron, den verhassten „Präsidenten der Reichen“ protestieren, und auf die anderen Arbeiter in Europa. Damit können sie eine „unaufhaltsame Bewegung schaffen, die sich den Kriegstreiber-Regierungen und ihren Herren, den globalen Konzernen, Banken und der Finanzoligarchie, entgegenstellen und sie besiegen kann.“

#Bild: Streikende und Protestierende bei der Kundgebung des Trades Union Congress in Whitehall am 1. Februar 2023 [Photo: WSWS]

Quelle: wsws.org… vom 3. Februar 2023

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