Linke Verirrungen
Dominic Iten und Arlan Kaskerbai. Der «ukrainische Widerstand» sei «antikolonial», ein Kampf um «Selbstbestimmung». Der Ukraine-Krieg sei ein Kampf zwischen «Demokratie und Autokratie» – können wir dem zustimmen? Eine Auseinandersetzung mit geläufigen Argumenten für die umfassende Unterstützung des ukrainischen Staats.
In ihrem Artikel für die New Left Review sieht Susan Watkins im Ukraine-Krieg «fünf Kriege in einem» vereint: Einen Bürgerkrieg innerhalb der Ukraine; einen defensiv-revanchistischen Krieg seitens Russland (Defensive gegen den zunehmenden Einfluss der Nato in der Region und Revanche dagegen in Form eines imperialistischen Angriffes auf die Ukraine); einen Selbstverteidigungskrieg der Ukraine; einen Stellvertreter Krieg der USA gegen Russland und all diese Konfliktlinien überdeterminierende Kampf zwischen USA und China.
Für die überwiegende Mehrheit stellt der russische Angriff auf die Ukraine die (!) bestimmende Konfliktlinie des Krieges dar, während dem inter-imperialistischen Kontext eine sekundäre Rolle zugeordnet wird. Dabei wird unterschätzt, dass die Innen- und Aussenpolitik der Ukraine entscheidend vom westlichen Imperialismus diktiert wird – schon vor dem 24.Februar 2022. Die ukrainische Armee ist vollständig abhängig von Waffen und Informationen, die von den USA und ihren Verbündeten geliefert werden. Auch finanziell überlebt der ukrainische Staat nur, weil der Westen ihm Zugeständnisse macht und diese an Forderungen der maximalen Liberalisierung der nationalen Ökonomie knüpft. Das wird nicht zuletzt an der reaktionären Politik Selenskyjs erkennbar, die dem westlichen Kapital Tür und Tor öffnet, während gleichzeitig die Arbeiter:innenrechte auf das Niveau dunkler Vorzeiten zurückgestutzt werden.
Die Ukraine zwischen den Imperien
Der Umfang der westlichen Hilfe für die Ukraine entspricht dem, was die USA zwischen 2002 und 2020 im Durchschnitt jährlich in Afghanistan ausgaben, und (preisbereinigt) dem, was sie im Durchschnitt jährlich für die Fortsetzung des Vietnamkriegs bezahlten. Nach Angaben des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) hat der Westen im Jahr 2022 ganze 128 Milliarden US-Dollar in die Ukraine geschickt oder versprochen. Im Vergleich zu Russland: Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums vom Dezember 2022 hat Putin für die Kriegsanstrengungen im Jahr 2023 rund 140 Milliarden Dollar zugesagt.
Wenn nun der Westen bereit ist, in der Ukraine das auszugeben, was die USA in zwei Kriegen ausgegeben haben, an denen ihre Truppen direkt beteiligt waren und ähnlich hohe Ausgaben tätigt, wie die russische Regierung für den Krieg in der Ukraine, dann ist die Einordnung des Ukraine-Krieges als Stellvertreter-Konflikt nicht abwegig, sondern die logische Schlussfolgerung. Daher kann es nicht überraschen, wenn über Kriegs- und Friedensfragen hauptsächlich in Washington entschieden wird und nicht in Kiew: So hätte laut dem israelischen Premierminister Naftali Bennett der Krieg bereits im ersten Monat nach seinem Anfang beendet werden können, hätten die westlichen Kräfte sich nicht dagegengestellt.
Schon klar: Die USA wollten den Krieg nicht a priori – doch stellt er für sie eine historisch «glückliche Fundsache» (Alain Lipietz) dar, die sie mit allen Mitteln zu nutzen versuchen. Was ein ukrainischer Sieg ist, entscheidet der westliche Imperialismus. Der ukrainische Sieg wäre daher auch der Sieg der USA: In der Konsequenz die Stärkung der destruktivsten Kraft auf dem Planeten, mit Folgen, die weit über die Ukraine hinausgehen. Sollte wiederum Russland gewinnen, wird dies Putins imperialistische Ambitionen stärken, sein Regime stützen und China mehr Spielraum im Konflikt mit den USA geben. In keinem der Fälle würden progressive Kräfte gestärkt oder der globale Imperialismus geschwächt werden.
Die ukrainische Subjektivität?
Zur Begründung ihrer Forderungen verweisen die linken Befürworter:innen des ukrainischen staatlichen Widerstandes (einen anderen gibt es nicht) wiederholt auf die «ukrainische Subjektivität» und sehen diese in den Analysen der ihnen widersprechenden Linken ausgelöscht. Die ukrainische Bevölkerung kämpfe für ihre eigene Unabhängigkeit sowie für demokratische und soziale Rechte, die unter russischer Besatzung verloren wären. Sie bestimmen die «Perspektive der Betroffenen» als Ausgangspunkt ihrer Politik, wobei sie nur eine selektive Auswahl an Perspektiven bieten, und diese verallgemeinern: Nicht selten lesen sich Aussagen wie «die ukrainische Linke» und «die russische Linke», obwohl bloss Kleinstorganisationen wie «Sotsialnyi Rukh» und «Russische Sozialistische Bewegung» als Referenz dienen.
Sowohl in der Ukraine als auch in Russland existieren linke Kräfte, die sich zwar gegen den Krieg stellen, aber dennoch den Konflikt als einen inter-imperialistischen erkennen und sich daher nicht instrumentalisieren lassen (in der Ukraine zum Beispiel die «Arbeiterfront der Ukraine» und «Assembly»; für Russland siehe das kürzlich erschienene Buch «Spezialoperation und Frieden» von Ewgeniy Kasakow). Die Ausblendung dieser Stimmen aus Russland und der Ukraine ist insofern tragisch, als diese Stimmen nunmehr nicht nur in ihren Ländern, sondern auch in der Linken ausserhalb des Landes ausgeblendet werden. Und ohnehin: Die Referenz auf Direktbetroffene oder auch auf Mehrheiten kann nicht als Ausgangslage für linke Positionsfindung gelten – wo direktbetroffene Mehrheiten liegen, liegen sie nicht notwendig richtig.
Ukrainischer Anti-Kolonialismus?
Mit der vagen (wenn nicht falschen) Bestimmung der «ukrainischen Subjektivität» geht meist der Irrtum einher, es handle sich in der Ukraine gegenwärtig um einen Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung. Dabei wird der ukrainische Widerstand oftmals in die Tradition der Befreiungsnationalismen à la Vietnam, Algerien etc. gestellt und insofern als «antikolonial» beschrieben.
Vergessen geht jedoch, was den Charakter dieser national-fortschrittlichen Kämpfe ausmachte: Die antikolonialen Bestrebungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg an Antrieb und Wirkung gewannen, kämpften zwar für politische Unabhängigkeit, aber nicht für kapitalistische Integration. Die antikolonialen Bestrebungen hatten internationalistischen Anspruch, die Dekolonialisierung war ein Projekt der «Weltgestaltung» (Adom Getachew) und hatte einen internationalistischen Charakter. Der Befreiungsnationalismus war keine Kopie des Nationalismus der Zentren, sondern ein antiimperialistischer Nationalismus, der die von den kapitalistischen Zentren durchgesetzte Weltordnung ablehnte und eine Alternative zu ihr suchte. Der ukrainische Staat ist hingegen ein typischer «Kompradorenstaat», der gegenwärtig nur existieren kann, weil er sich dem Interesse des westlichen Blocks dienstbar macht und keine Alternative zu ihm darstellt.
Wer den (gar nicht mehr so) breit abgestützten Kampf der Ukrainer:innen mit den antikolonialen Kämpfen der Vergangenheit gleichsetzt, blendet das gegenwärtig entscheidende «ukrainische Subjekt» aus: Träger des Widerstandes gegen die russische Invasion ist der ukrainische Staat, der es erstmals nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schafft, sich infolge des Krieges zu konsolidieren und das primär, weil er sich als überzeugende Vorhut des westlichen Imperialismus nutzbar macht.
Dass dieser Staat auch von sich aus Krieg gegen die eigene Bevölkerung zu führen vermag, zeigt der in der Linken völlig vergessene und seit 2014 schwelende Konflikt zwischen der Zentralregierung in Kiew und den Kräften im Donbass und der Krim. Auch wenn Russland 2014 in nur wenigen Monaten die Kontrolle über die Kräfte in Donbass und Krim übernahm, ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Mehrheit der Donbass- sowie der Krim-Bevölkerung sich der Zentralregierung in Kiew nicht unterordnen möchte – zahlreiche Umfragen deuten darauf hin. Unter diesen Bedingungen wird der von der Selenskyj Regierung propagierte Vorstoss zur Eroberung der gesamten Ostukraine inklusive der Krim einen neoimperialen Charakter annehmen.
Fortschritte?
Inwiefern die Ukraine die Bedingungen einer (bürgerlichen) Demokratie erfüllt, ist gelinde gesagt höchst umstritten: Das weitgehende Verbot oppositioneller Parteien; die «Entkommunisierung» als Angriff auf linke Politik und Tabuisierung der immer noch in weiten Teilen der Bevölkerung stark präsenten sowjetischen Identität (im Jahr 2021 bedauerten etwa 32 Prozent der ukrainischen Bevölkerung den Niedergang der Sowjetunion – Donbass ausgeklammert); die faktische Abschaffung aller Arbeiter:innenrechte; die diskriminierende Sprachenpolitik und der fehlende Wille, die politische, ethnische und kulturelle Vielfalt der Ukraine anzuerkennen; die Monopolisierung von TV-Sendern; die Erstellung von grossangelegten Datenbanken mit «Verrätern»; das Ausreiseverbot für alle Männer im Alter von 18 bis 60 – die Liste liesse sich fortsetzen. Mit Ausnahme des Letzteren wurden alle diese Massnahmen bereits vor dem 24.Februar 2022 angestossen.
Dennoch wird der Kampf um und gegen die Ukraine zu einem Kampf um Progression umgedeutet: Die ukrainische Gesellschaft ringe seit dem Fall des Eisernen Vorhangs «um seine demokratische Form» und erziele dabei auch offensichtlich Fortschritte, «nicht zuletzt seit den Maidan-Protesten», schrieb Cedric Wermuth, Co-Präsident der SP Schweiz. Er vergisst, dass die Maidan-Proteste so demokratisch gar nicht waren: Im Februar 2014 hegten 40 Prozent der Bevölkerung Sympathien für die Protestierenden, während sich die restliche Bevölkerung entweder für die alte Regierung aussprach oder sich für keine der beiden Seiten entscheiden mochte; zwei Drittel der Bevölkerung sahen nach den Maidan-Aufständen ihr Land in die falsche Richtung gehen (Umfrage des Kiew International Institut of Soziology).
Demokratie vs. Autokratie?
Die Referenz auf die Demokratie verkommt im Zeitalter der multiplen Krise zur Nebelkerze. Richtig bemerkt Dirk Jörke, dass je weniger es infolge von postdemokratischen Tendenzen zu entscheiden gibt, desto wichtiger es scheint, sich des demokratischen Gehalts der formell demokratischen Gesellschaften zu vergewissern. Denn die sich zuspitzenden Krisen untergraben auch in den Ländern des Globalen Nordens die zeitweise konvergierenden Tendenzen zwischen demokratischen Rechten und kapitalistischer Herrschaft.
Aus Angst vor diesen Tendenzen klammern sich viele Linke an liberale Gesellschaftsvorstellungen und schreiben die Tendenz zu autoritären Regimes einzelnen Personen statt dem Wesen kapitalistisch verfasster Staaten zu.
Statt die zunehmend autoritären Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Formwandel des kriselnden Kapitalismus und dadurch veränderten Erfordernissen zur Sicherung kapitalistischer Herrschaft zu begreifen, wird die bürgerliche Herrschaft in eine bessere («Demokratien») und schlechtere Seite («Autokratien») aufgespalten und der Kampf mit den «Demokratien» gegen die «Autokratien» zu führen versucht. Versteht sich von selbst, dass demokratischen Errungenschaften zu verteidigen sind – aber nicht, indem diese zum Selbstzweck erhoben werden und der Anschluss an einen imperialistischen Block vollzogen wird.
Die Aufgabe der Linken besteht darin, alles in ihrer Kraft zu unternehmen, um auf die sofortige Einstellung der Kriegshandlungen zu drängen und die global zunehmenden Rivalitäten mit der allgemeinen Krise des kapitalistischen Systems in Verbindung zu setzen. Nur eine von imperialistischen Interessen unabhängige Positionierung bietet der Linken Bewegungsraum und bewahrt uns davor, zwischen den Fronten imperialer Konfrontationen zerrieben zu werden. Mit der Taiwan-Krise lauert bereits die nächste Bewährungsprobe.
Quelle: vorwaerts.ch… vom 2. Juli 2023
Tags: Imperialismus, Russland, Strategie, Ukraine, USA
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