Im Krieg wird Hamas bei den Palästinensern populärer
Florian Rötzer. Jetzt befürworten 75 Prozent den Hamas-Angriff vom 7. Oktober, in einer Umfrage vor dem Krieg hatten Zweidrittel kein Vertrauen in Hamas. Deren Strategie ist aufgegangen.
Wie weit Hamas in der palästinensischen Bevölkerung Rückhalt hat, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall ist die islamistische Organisation, die auch von Israel gegen die Fatah und die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland unterstützt wurde, im Gazastreifen auch verantwortlich für die Verwaltung. Nach dem brutalen Angriff auf Israel, an dem auch „normale Bürger“ teilgenommen haben, wird Israel vorgeworfen, mit der harten Reaktion, die vielen Menschen, vor allem Kinder und Frauen, das Leben kostet, gegen das Völkerrecht zu verstoßen und eine Kollektivbestrafung auszuführen.
Die Hamas mussten damit rechnen, dass nach dem überaus brutalen Massaker Israel hart zurückschlagen würde. Es ist ein einfacher Trigger gewesen, auf den Israel wie zu erwarten hereingefallen ist. Deswegen wurden, weil Hamas natürlich militärisch völlig unterlegen ist, viele Geiseln genommen, um Verhandlungen und humanitäre Hilfe für die Bevölkerung über den Druck der Angehörigen auf die israelische Regierung durchzusetzen, während die Bevölkerung mitsamt der zivilen Infrastruktur instrumentalisiert wird. Hamas profitiert vom Leid und der Zerstörung, was die Organisation verursacht hat und weiter als Propaganda benutzt, da Israel die entsprechenden Bilder liefert.
In der Propagandaschlacht hilft es der israelischen Regierung wenig zu zeigen, dass Hamas die Bevölkerung als „Schutzschild“ verwendet und unterhalb von zivilen Gebäuden wie Krankenhäusern ein Tunnelnetzwerk für militärische Zwecke gebaut hat. Die Frage ist, inwieweit etwa die Verantwortlichen für die Krankenhäuser von den Aktivitäten der Hamas Kenntnis hatten und diese zur Kooperation gezwungen wurden. Auch wenn große Teile der Bevölkerung hinter Hamas stehen sollte, die ihre Macht über diese repressiv ausübt, sind Unbewaffnete, vor allem Kinder immer unschuldige Opfer. Je mehr sterben, verletzt und traumatisiert bzw. zugunsten von Hamas geopfert werden, desto eher richtet sich die Weltöffentlichkeit moralisch gegen Israel. Daher werden von Hamas-Sympathisanten neben den Bildern von Opfern und Zerstörung vor allem Bilder von Kindern publiziert, während Hamas fast nie Bewaffnete oder im Hamas-Dress Bekleidete zeigt.
Für Zweidrittel führt Israel einen Krieg gegen alle Palästinenser
Anfang November wurde unter Palästinensern im südlichen Gazastreifen und im Westjordanland von der Arab World Research and Development group (AWRAD) eine Umfrage gemacht. 668 Palästinenser, davon nur 277 in Gaza) wurden persönlich befragt. Ob unter Bedingungen des Krieges und zahlreicher Toter, der Vertreibung von 1,5 Millionen Menschen und der Repression im Westjordanland eine nicht anonyme Befragung von relativ wenigen Menschen repräsentativ und vor allem verlässlich ist, muss offen bleiben.
100 Prozent der Gaza-Bewohner sagen, es gebe keinen sicheren Ort im Gazastreifen, 48 Prozent, dass ihr Haus oder ihre Wohnung teilweise oder ganz zerstört seien. 89 Prozent sind der Meinung, dass der Angriff am 7. Oktober als Reaktion auf gegenwärtige und frühere Unterdrückung erfolgte: für 35 Prozent v.a. eine Reaktion auf Angriffe auf Al-Aksa, für 33 Prozent zur Beendigung von Okkupation und Siedlungen und für 21 Prozent zum Aufbrechen der Blockade des Gazastreifens. 65 Prozent sehen in dem Krieg einen Angriff auf alle Palästinenser, nur für 18 Prozent ist es ein Krieg zwischen Israel und Hamas.
Schockiert hat, dass 75 Prozent der Befragten „die militärische Operation der von Hamas geführten palästinensischen Widerstandsbewegung vom 7. Oktober” unterstützen, 59 Prozent stark. 11 Prozent sind sich unschlüssig, ob sie den Angriff unterstützen oder ablehnen sollen. Nur 13 Prozent sind dagegen. Im Westjordanland ist die starke Unterstützung mit 68 Prozent höher als im Gazastreifen, wo dies „nur“ 47 Prozent sagen. Noch erstaunlicher ist, dass 75 Prozent an einen Sieg über Israel glauben. 98 Prozent haben das Gefühl, größeren Stolz als Palästinenser zu empfinden.
Am positivsten werden die Al-Qassam-Brigaden, der Islamische Dschihad, die Al-Aksa-Brigaden und Hamas gesehen. Eher positiv stehen die Befragten arabischen Medien, Hisbollah, Russland, dem Roten Kreuz oder China gegenüber, während Fatah und die Palästinensische Autonomiebehörde ebenso wie Ägypten, Jordanien, die EU, westliche Medien, aber auch die Vereinten Nationen weitgehend negativ beurteilen. Völlig abgelehnt werden die USA und Israel.
Und wenn 98 Prozent sagen, sie würden niemals vergessen, was Israel ihnen im Krieg angetan hat, wird klar, dass der Hass weiter gestiegen ist, aber nicht gegen die Hamas. Es wird sich also nichts mental und in der Stimmung ändern, was auch für die israelische Seite zutreffen wird. Eine vorsichtige Ablehnung von Hamas drückt sich aber darin aus, dass zwar 75 Prozent für eine Regierung der nationalen Einheit nach dem Krieg ist, aber nur 14 Prozent eine Hamas-Regierung wollen, noch unbeliebter wäre eine Fatah-Regierung. Politisch herrscht mithin ein Vakuum. Und nachdem schon lange nicht mehr im Westjordanland und im Gazastreifen gewählt werden konnte, kann auch keine Alternative entstehen.
Vor dem 7. Oktober war Hamas bei den meisten Gaza-Bewohnern unbeliebt
Interessant ist eine Umfrage, die kurz vor dem Hamas-Angriff und dem Krieg gemacht wurde. Arab Barometer befragte zwischen dem 28. September und dem 6. Oktober 790 Palästinenser im Westjordanland und 399 im Gazastreifen. 44 Prozent der Gaze-Bewohner sagten, sie hätten überhaupt kein Vertrauen in Hamas, 23 Prozent nicht viel. Nur 29 sagten, sie hätten großes oder einigermaßen Vertrauen in Hamas. Und für 72 Prozent herrschte Korruption in den von der Hamas kontrollierten Regierungsbehörden. 73 Prozent wollten eine friedliche Lösung des Konflikts mit Israel, auch 77 Prozent der Hamas-Sympathisanten. Allerdings waren 20 Prozent für eine militärische Lösung.
Auf dem Hintergrund könnte das von Hamas und Co. begangene Massaker, das die israelische Antwort triggern sollte, in allererster Linie eine Aktion gewesen sein, um die Gaza-Bewohner wieder hinter sich zu bringen oder zu zwingen. Und obgleich die Strategie bedeutete, dass viele sterben müssen und verletzt werden, war sie erfolgreich, was man anhand der AWRAD-Umfrage einen Monat später sehen kann.
Die Armut ist unter der Hamas-Regierung stark angestiegen. 78 Prozent sagen, der Bezug von Lebensmitteln sei ein Problem, für 75 Prozent sind in den letzten 30 Tagen Lebensmittel oder Geld, um welche zu kaufen, ausgegangen. Die Schuld gaben mehr Gaza-Bewohner der Hamas als der israelischen Blockade. Viele sahen keine Möglichkeit, die Hamas-Regierung etwa über persönliche Beziehungen hinaus zu beeinflussen. Für eine Mehrheit gab es keine Möglichkeiten, Kritik zu äußern. Nur für 27 Prozent wäre Hamas in Wahlen die bevorzugte Partei, 24 Prozent würden Hamas-Chef Ismail Haniyeh wählen, wenn sie zwischen ihm, Abbas und dem inhaftierten Marwan Barghouti von der Fatah entscheiden könnten.
„Die Ergebnisse der Umfrage des Arabischen Barometers zeichnen ein düsteres Bild des Gazastreifens in den Tagen vor den Anschlägen vom 7. Oktober. Die Hamas-Regierung, die nicht in der Lage war, auf die wichtigsten Anliegen der Bürger einzugehen, hatte das Vertrauen der Öffentlichkeit verloren. Nur wenige Bewohner des Gazastreifens unterstützten das Ziel der Hamas, den Staat Israel zu zerstören, was dazu führte, dass die politischen Führer des Gazastreifens und seine Bevölkerung über die künftige Ausrichtung des israelisch-palästinensischen Konflikts gespalten waren. Die große Mehrheit der Gaza-Bewohner befürwortete eine friedliche Lösung und sehnte sich nach einer Führung, die sowohl eine solche Lösung herbeiführen und die Lebensqualität der Menschen im Gazastreifen insgesamt verbessern könnten. Bislang hat die Politik ihrer eigenen Regierung und die der israelischen Regierung Fortschritte an beiden Fronten verhindert.“
Von der Hamas kann man kaum Besserungen erwarten, zudem wird es vor allem von Israel abhängen, wer nach dem Krieg im Gazastreifen eine Regierung bilden kann. Eine Zwei-Staaten-Lösung hat Israel durch die Siedlungen im Westjordanland praktisch unmöglich gemacht – und der Krieg hat den Hass auf Israel und die Sympathie für Hamas und den Islamischen Dschihad wieder wachsen lassen. Das sieht sehr nach No Future aus.
Quelle: overton-magazin.de… vom 24. November 2023
Tags: Palästina, Repression, Widerstand, Zionismus
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