Deutschland: Vorläufig keine Alternative zu den DGB-Gewerkschaften
Jakob Schäfer. Für viele, die das herrschende System als hinfällig betrachten (oder es gar bekämpfen wollen), ist es alles andere als selbstverständlich, sich dafür auch in einer Gewerkschaft zu organisieren.
Und wenn ja, wieso dann in einer DGB-Gewerkschaft, wo doch der DGB nun wirklich nicht systemoppositionell ist?
Nicht nur mit Kamingesprächen bei der Kanzlerin, sondern vor allem mit ihrer konkreten Politik gegenüber Kapital und Staat (von der gewerkschaftlichen Tarifpolitik bis zur Gesellschaftspolitik) wirken die DGB-Gewerkschaften als uneingeschränkte Unterstützerinnen der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Mit dieser Feststellung ist aber noch längst nicht das Wesen einer Gewerkschaft voll erfasst und erst recht nicht, welche Schlussfolgerungen sich daraus ergeben.
Doppelcharakter
Ohne an dieser Stelle die grundsätzliche Berechtigung von Gewerkschaftsarbeit zu rekapitulieren, soll hier nur festgehalten werden: Gewerkschaften ergeben sich aus den Widersprüchen des Kapitalismus, und zwar, wie bei keiner anderen Formation, unmittelbar aus dem Grundwiderspruch des Systems selbst, nämlich dem zwischen Lohnarbeit und Kapital. Dabei haben die Gewerkschaften einen Doppelcharakter:
Auf der einen Seite sind sie Schutzmacht gegen die schrankenlose Herrschaft des Kapitals, indem sie der Unterbietungskonkurrenz von Belegschaften einen Riegel vorschieben, vor allem durch Tarifverträge, nach Möglichkeit landesweit.
Zum anderen sind sie auch Ordnungsmacht, weil sie auch ein Element des Kapitalverhältnisses sind (mindestens dann, wenn Tarifverträge abgeschlossen sind), auch unabhängig von einer Politik der Klassenversöhnung (die allerdings für fast alle Gewerkschaften, auch außerhalb des DGB, die Regel ist).
Der Doppelcharakter existiert auch dann fort, wenn die Gewerkschaften stark bürokratisiert sind, wie dies beim DGB der Fall ist. Ohne hier auf die konkreten Auswirkungen dieser Deformierung einzugehen, die sich aus Apparatisierung, Autokratisierung und Bürokratisierung ergeben haben, soll aber festgehalten werden: Die DGB-Mitgliedsorganisationen sind weder gelbe Gewerkschaften (also von der Gegenseite initiiert und gesteuert), noch etwa haben Mitglieder und ehrenamtliche Funktionäre keine Möglichkeiten, auf die Politik der Gewerkschaften einzuwirken.
Wenn oppositionelle Kräfte heute in den DGB-Gewerkschaften nichts Großartiges bewegen, dann liegt es nicht am Klassencharakter dieser Organisationen (auch wenn die Gewerkschaftsbürokratie zweifellos bürgerliche Politik betreibt). Es liegt vielmehr an den politischen Kräfteverhältnissen innerhalb der Belegschaften und innerhalb der gewerkschaftlichen Strukturen, die keinesfalls von den Bestrebungen aus der Basis völlig abgeschottet sind oder abgeschottet werden können (auch wenn es den autonomen Bewegungen an der Basis nicht gerade leicht gemacht wird). Auf Einzelheiten einzugehen, ist an dieser Stelle nicht möglich.
Der Hauptgrund, der für eine Arbeit in den DGB-Gewerkschaften spricht, liegt auf der Ebene, wo und wie am wirkungsvollsten KollegInnen zur Eigenaktivität und zur Stärkung ihrer kollektiven (Kampf)kraft bewegt werden können.
Was bindet Kolleginnen und Kollegen an die Gewerkschaft?
Aus dem Gesagten geht zunächst hervor: Gewerkschaften sind die tagtägliche Einheitsfront der KollegInnen im Abwehrkampf gegen die Zumutungen des Kapitals. Diese Erfahrung machen die Beschäftigten bei Amazon genauso wie bei XXXL oder jedem anderen Betrieb, bei dem per Union-Busting die Möglichkeit vereitelt werden soll, sich mit kollektiven Aktionen gegen Unternehmerwillkür zu wehren.
Sowohl in den Großbetrieben der Industrie wie auch in Dienstleistungsbetrieben, in Behörden und Büros gilt: Das Bewusstsein ist sehr weit gefächert und wird es immer sein. Nur in Ausnahmesituationen revolutionärer Krise nähern sich die Standpunkte breitester Massen dem der fortgeschritteneren oder fortgeschrittensten Kolleginnen und Kollegen an. Im Normalfall lässt sich das einigende Band der Gewerkschaftsmitgliedschaft für viele Mitglieder so beschreiben: «Wir brauchen die Gewerkschaft für unseren Schutz und zur Durchsetzung oder Verteidigung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsgeld usw. und damit es überhaupt noch Lohnerhöhungen gibt. Ich bin zwar mit vielem, was die Gewerkschaft macht, nicht einverstanden, aber ohne Gewerkschaft ginge es uns ganz schön beschissen.»
Dieses einigende Band bindet und organisiert (!) die unterschiedlichsten Kollegen, solche mit antikapitalistischen Vorstellungen, Kollegen mit mehr oder weniger spontanem Klassenbewusstsein, aber auch solche mit CDU-Parteibuch und leider auch AfD-Wähler. Was sie eint, ist die oben genannte Einsicht, dass es ihnen ohne Gewerkschaften schlechter ginge. Die meisten von ihnen sind nicht bereit, sich stärker zu engagieren, aber sie bilden dennoch den Kern gewerkschaftlicher Macht, denn: Sie können im Zweifelsfall mobilisiert werden, auch wenn dies – etwa bei «normalen» Tarifrunden – bekanntlich nicht für alle gilt.
Politisch lupenrein antikapitalistische Gewerkschaften haben zu wollen, steht im Widerspruch zu den realen Ausgangsvoraussetzungen, nämlich zur Tatsache, dass die politische Bewusstseinsentwicklung unter der Masse der Beschäftigten sehr unterschiedlich ist und dass die Gewerkschaften Belegschaften zunächst nur auf der allgemeinsten Ebene des Gegensatzes von Lohnarbeit und Kapital organisieren. Nur unter der Voraussetzung, dass damit bedeutsame Teile der Klasse (mindestens einer Berufsgruppe) erfasst und organisiert werden, kann Wirkmächtigkeit erreicht werden.
Gewerkschaften sind keine Parteien
Daraus ergibt sich aber mitnichten ein ehernes Prinzip für ein bedingungsloses Festhalten an der Organisationsform Einheitsgewerkschaft. Richtungsgewerkschaften können die richtige Antwort auf eine verfahrene Situation sein: tiefe Unzufriedenheit in bedeutenden Teilen der Einheitsgewerkschaft verbunden mit so starker bürokratischer Kontrolle, dass es oppositionellen Kräften nicht möglich ist, den politischen Kampf in den vorhandenen Organisationen bis zur Durchsetzung eines Richtungswechsels zu Ende zu führen. Eine solche Situation hat beispielsweise in Frankreich zur Entstehung der Union Solidaires geführt.
Solche gewichtigen Entscheidungen gewerkschaftlicher Strategiebestimmung können Sozialisten nur dann unterstützen, wenn es realistische Aussichten auf die Gewinnung von Massenanhang und Wirksamkeit gibt (und zwar nicht erst in Jahrzehnten). Ist diese Voraussetzung nicht gegeben bzw. vollkommen unrealistisch, dann tendiert diese neue Gewerkschaft zwangsläufig dazu, eine kleine politische Partei zu sein, die zwar sympathisch erscheinen mag, die aber keine breiteren Teile der Klasse mobilisieren kann.
Auch Spartengewerkschaften können nur konkret beurteilt werden. Die GdL beispielsweise (sie ist ganz nebenbei die älteste heute in Deutschland existierende Gewerkschaft) hat bedeutende Teile der Belegschaft der Bahn hinter sich. Ihre Kampfkraft steht außer Zweifel und sie ist auch längst keine Standesorganisation mehr. Auch in politischen Fragen (Stuttgart 21) steht sie deutlich links von der EVG.
Aber klar muss sein: Wir reden nicht der Abspaltung von Berufsgruppen das Wort, etwa weil diese dann (von weniger bürokratischer Gängelung betroffen) leichter die Interessen ihrer spezifischen Klientel durchsetzen könnten. Es muss abgewogen werden, welche Nachteile für die übrigen Beschäftigten entstehen, wenn sich eine Berufsgruppe, die an der «Schaltstelle» sitzt, absondert und die anderen im Regen stehen lässt.
Letztlich gilt dies auch für die Großbetriebe, in denen Gewerkschaften ganz gerne Haustarife abschließen (VW ist da nur der größte Brocken), um diese Klientel ruhig zu stellen, womit aber in jedem Fall deren (potenzielle) Kampfkraft in der Fläche fehlt.
Um im Klassenkampf etwas zu bewegen und Kräfteverhältnisse zu beeinflussen, haben (parteiähnliche) Kleingewerkschaften kein wirkliches Gewicht, genauso wenig wie einzelne «Leuchtfeueraktivitäten».
Welche gewerkschaftspolitische Strategie mittel- und langfristig erfolgversprechend ist, muss danach beurteilt werden, wo und wie die größtmögliche Zahl von Kollegen zu mehr Eigenaktivität und zur kollektiven – wirksamen – Verteidigung von Klasseninteressen bewegt werden kann. Beim gegenwärtigen Stand der Gewerkschaftslandschaft in Deutschland, beim gegenwärtigen Stand des allgemeinen (sehr beschränkten) Klassenbewussteins und bei der Schwäche gewerkschaftlich orientierter, systemoppositioneller Kräfte haben Abspaltungen von DGB-Gewerkschaften auf absehbare Zeit keine Chance, sich wirksam zu etablieren.
Die Musik wird da gespielt, wo die Masse der Kolleginnen und Kollegen «die» Gewerkschaft sieht, nämlich bei den DGB-Gewerkschaften und bei den wenigen wirkmächtigen Spartengewerkschaften (GDL, Cockpit, UFO, Marburger Bund). Wer also etwas bewegen will, muss dort für eine andere Politik kämpfen, wo er/sie auch die Masse der gewerkschaftlich organisierten Kolleginnen und Kollegen antrifft. Mittel- und langfristig dort eine klassenkämpferische Strömung aufzubauen, bleibt die entscheidende Herausforderung.
Quelle: sozonline.de… vom 5. Juni 2016
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitswelt, Deutschland, Gewerkschaften, Politische Ökonomie
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