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Wer sind die Herren der Ukraine?

Eingereicht on 17. März 2024 – 16:34

Richard Kallok. „Wir, Brüder, werden Herrn im eigenen Land sein“, heißt es in der Nationalhymne, derweil Oligarchen und westliche Finanzinvestoren große Teile des wertvollen Ackerlands unter ihre Kontrolle gebracht haben.  

Rund 8000 Kolchosen mit ca. 3,8 Mio. Beschäftigten erbte die unabhängige Ukraine 1991 von der Sowjetunion. Ein 1992 beschlossenes Agrar-Gesetz sah vor, den Kolchose-Angehörigen je nach Region 1-8 Hektar als Eigentum zuzuweisen. Ca. ein Drittel der Flächen verblieben beim Staat. Nur wenige der neuen Grundbesitzer wollten oder konnten aber als Einzelbauern tätig sein. Die meisten brachten ihr Stückchen Land in die privatrechtlichen Agrarbetriebe ein, die als Nachfolger der Kolchosen fungierten.

2001 wurde ein neues Agrargesetz verabschiedet, dass das Privateigentum bestätigte, die Einführung eines Marktes für landwirtschaftliche Flächen aber zunächst ausschloss. In den Folgejahren veranlasste vor allem die erneuerungsbedürftige Produktionsmittel-Ausstattung bei gleichzeitig fehlendem Zugang zu akzeptablen Krediten viele Agrarbetriebe und Einzelbauern, ihre landwirtschaftliche Tätigkeit aufzugeben und ihre Flächen langfristig, bis zu 49 Jahren, zu verpachten.

Die Manager der Agrarbetriebe wie auch die zumeist durch betrügerische Privatisierungen in anderen Wirtschaftsbereichen reich gewordenen Oligarchen erkannten die Profitmöglichkeiten im Agrarsektor. Während die Dorfbevölkerung verarmte, entstanden riesige Agrar-Holdings. Die größte war UkrlandFarming des Oligarchen Bachmatiuk mit vorübergehend über 600.000 Hektar bewirtschafteter Fläche. Aber auch die Herren Kolomojskyj mit 120.000 Hektar und Poroschenko mit 96.000 Hektar wurden im Rahmen ihrer Mischkonzerne Agrarunternehmer.

In der Präsidentschaft Janukowitsch ab 2010 gab es erste Bemühungen, das 2001 von der Rada beschlossene Moratorium für den Agrarflächen-Handel zu lockern. Andererseits sollten die neu entstandenen Holdings auf 100.000 Hektar beschränkt werden. Diese Bemühungen scheiterten am Widerstand der Nationalisten.

Janukowitschs Pendel-Politik führte handelspolitisch dann einerseits zu einem umfassenden, aber nicht umgesetzten Abkommen mit der EU, andererseits zu einer Re-Intensivierung der Kontakte zu Russland und Kasachstan und einem Milliarden schweren Agrar-Deal mit China. Die Basis dafür war ein günstiger 3-Mrd.-Kredit der chinesischen Eximbank. Im Zeitraum Juli 2013 bis Juni 2014 sollte die staatliche ukrainische Handelsgesellschaft PZZKU 4 Millionen Tonnen Getreide nach China liefern. China sollte im Gegenzug der Ukraine landwirtschaftliche Maschinen, Dünge- und Pflanzenschutzmittel zukommen lassen. Ein schon 2011 abgeschlossener Rahmenvertrag für den ukrainisch-chinesischen Wirtschaftsaustausch sah aber nicht nur eine intensive Zusammenarbeit im Agrarbereich und im Handel vor. China verpflichtete sich zu Direktinvestitionen in Höhe von 12 Mrd. Dollar innerhalb von 10 Jahren. Dazwischen aber kam im Februar 2014 der bekannte Regime-Change in Kiew. Die Direktinvestitionen Chinas in der Ukraine beliefen sich nach Angaben der chinesischen Botschaft in Kiew zwischen 2015 und 2019 dann gerade noch auf mickrige 300 Mio. Dollar.

Das Interesse westlicher Unternehmen am ukrainischen Agrarsektor erwachte unmittelbar nach der Wende. Cargill, Dupont und Monsanto eröffneten als Agrar-Zulieferer 1992 Verkaufsbüros in der Ukraine. Nach dem Platzen der Dotcom-Blase 2000 geriet die Ukraine auch in den Fokus von Finanzinvestoren, zumal zu dieser Zeit Agrar-Holdings im Land eine immer größere Rolle spielten.

2007 erfolgte mit der Kernel-Holding der erste Börsengang einer ukrainischen Agrar-Holding im Westen, an der Warschauer Börse. Der Oligarch Verevskyj hatte unter dem Dach von Kernel sowohl den Sonnenblumen-Anbau wie die Öl-Herstellung und Logistik-Einrichtungen vertikal konzentriert, um dann auch in den Getreideanbau einzusteigen. Nach einer Studie des Oakland-Instituts war Kernel Anfang 2023 mit 582.000 Hektar bewirtschafteter Fläche die größte Agrar-Holding der Ukraine. Zum Vergleich: Die größte Agrar-Holding Deutschlands, die Deutsche Agrar-Holding (DAH) der Zech-Gruppe, bewirtschaftet nach eigenen Angaben 20.000 Hektar. Verevskyj hielt Anfang 2023 an der in der EU-Steueroase Luxemburg registrierten Holding einen Anteil von 42,6%. Die restlichen Anteilseigner waren neben den obligatorischen Kleinaktionären vor allem westliche Finanzinvestoren, von Bill Gates Cascade Fonds über den US-Finanzinvestor Vanguard bis zu dem omnipräsenten norwegischen Staatsfonds Norges.

Aktuell ist die Kernel-Aktie undurchsichtigen Spekulationsmanövern ausgesetzt. Der Kurs brach von rund 14 Euro 2021 bis zum Tiefstand im Herbst 2023 auf 1,48 Euro ein, wobei nicht nur der Krieg, sondern auch Neuemissionen in gewaltigem Umfang eine Rolle spielten. Seit Herbst hat der Kurs der Kernel-Aktien, von denen Verevskyj inzwischen gut zwei Drittel des Gesamtbestands kontrolliert, aber wieder um rund 90 % zugelegt. Kriegszeiten sind eben Hochzeiten der Spekulation.

Die vom Oakland-Institut dargestellte Eigentümerstruktur bei Kernel ist für viele Agrar-Holdings kennzeichnend. Ukrainische Oligarchen und westliche Finanzinvestoren teilen sich die Anteilsrechte. Das bedeutet aber nicht, dass sie sich auch die Macht im Unternehmen teilen. In der Regel haben die westlichen Finanzinvestoren die stärkere Position, zumal sie über verbundene Finanzinstitute auch als Kreditgeber auftreten können. „Viele dieser Firmen sind substanziell bei westlichen Finanzinstituten verschuldet“, umreißt das Oakland-Institut die finanzielle Abhängigkeit der ukrainischen Agrar-Holdings. Zu den Kreditgebern gehören dabei nicht nur private Banken, sondern z. B. auch die Europäische Investitionsbank (EIB). Auch deutsche Landesbanken sind im Ukraine-Geschäft aktiv, inzwischen incl. der Vorfinanzierung von ukrainischen Waffenkäufen.

Unter den Top 10 der ukrainischen Agrar-Holdings gibt es allerdings bereits 3 ohne Beteiligung ukrainischer Oligarchen

Stand Februar 2023 ist die Nr. 4 mit ca. 295.000 Hektar der TNA -Corporate-Solution-Fonds, bei dem der US-Milliardär Piazza maßgeblichen Einfluss hat. TNA hat u.a. von UkrlandFarming Flächen übernommen. Die Nr. 5 ist der Private Equity Fonds NCH Capital mit ca. 290.000 Hektar bewirtschafteter Fläche. NCH verwaltet große Pensionsfonds der USA, so u. a. den von Dow Chemical, Lockheed, General Electric, den Universitäten Michigan und Harvard. Die Nr. 8 in der Rangliste ist mit 228.000 Hektar der saudische PIF-Fonds..

Für das operative Geschäft haben sich die Holdings Tochtergesellschaften angegliedert. Die Holdings sind für die strategischen Entscheidungen zuständig und steuern und kontrollieren den Geldfluss in die Betriebe und aus den Betrieben.

Die deutsche Außenwirtschaftsagentur „German Trade & Invest“ (GTAI) gibt 2023 an, dass die Holdings auf 6 Mio. Hektar Agrarland (von verbliebenen rund 27 Mio.) für 22% der landwirtschaftlichen Produktion sorgen würden. Insgesamt gebe es incl. der Holdings in der Ukraine 45.000 Landwirtschafts-Betriebe, die 70% der Flächen bearbeiten würden, 12% würden Hauswirtschaften gehören. Das suggeriert so etwas wie eine bäuerliche Struktur. Der Beauftragte des polnischen Agrarministeriums für die ukrainisch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen, Rafal Mladanowicz, vermittelt im Juni 2022 in einem Interview mit dem Fachportal farmer.pl einen anderen Eindruck. Offiziell hätten die 83 Holdings zwar nur 32% der Flächen unter ihrer Kontrolle, inoffiziell aber seien es 47%. Viele Pachtverträge seien nirgendwo offiziell dokumentiert. Der Export von Agrargütern, der mittlerweile mehr als 50% der gesamten ukrainischen Exporte ausmacht, befinde sich praktisch zu 100% in den Händen der Holdings.

Die EU ist wie der IWF um Liberalisierungen in der ukrainischen Wirtschaft und im Handel mit der Ukraine bemüht

Eine wichtige Maßnahme für den im Exportgeschäft dominierenden Agrarsektor war im Juni 2022 die Öffnung des EU-Marktes für ukrainische Produkte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (!) hatte schon 2018 die Kiewer Regierung gemahnt, die Grundbesitzer in ihren „Freiheitsrechten“ nicht länger zu beschränken und den freien Handel mit Agrarflächen zuzulassen.

Die Kiewer Rada hat dann 2020 auch ein Stufenprogramm für die Liberalisierung verabschiedet. Der Eigentumsübertrag ist ab 2024 zwar immer noch auf  10.000 Hektar begrenzt. Zwecks Belebung des Marktes können Banken aber größere Flächen erwerben, müssen diese aber innerhalb von 2 Jahren wieder veräußern. Formale Eigentumsrechte von Ausländern an Agrarflächen sind weiterhin ausgeschlossen. Aber man ließ ein Schlupfloch. Bei entsprechendem Ausgang eines Referendums können Ausländer, soweit es sich nicht um „russische Staatsangehörige“ oder in „terroristische Aktionen verstrickte Personen“ handelt, als Gesellschafter eines ukrainischen Unternehmens Agrarflächen erwerben. Bei anderen Immobilien gilt diese Beschränkung für Ausländer nicht.

Dieser behutsame Umgang der Kiewer Politik mit Ausländerrechten beim Agrarflächen-Kauf zeugt von Angst vor nationalistischer Agitation. Landbesitz hatte für das über Jahrhunderte unter fremder Feudalherrschaft leidende ostslawische Bauernvolk auf dem Gebiet der heutigen Ukraine stets eine sehr große Bedeutung. „Land ist das wichtigste nationale Gut und steht unter dem besonderen Schutz des Staates“, heißt es im Art. 1 des ukrainischen Agrargesetzes.

Die aktuell an die Front zwangsrekrutierten Bauern werden bei der Rückkehr in ihre Dörfer nach dem hoffentlich baldigen Kriegsende mit solchen Parolen wenig anfangen können. Ihnen verbleibt ärmliche Subsistenzwirtschaft mit spärlichen regionalen Vermarktungsmöglichkeiten. Selbst eine Verpachtung ihrer Flächen ist i. d. R. nur möglich, wenn sie zuvor Nachbarn zu einer Zusammenlegung bewegen können. Den Pachtpreis bestimmen dann die wahren Herren des Landes.

Quelle: overton-magazin.de… vom 17. März 2024

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