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Ethnische Säuberung in Palästina

Eingereicht on 22. August 2016 – 11:21

Ilan Pappé ist Historiker, sozialer Aktivist, Professor an der Universität von Exeter und Unterstützer der Kampagne für Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS).

Er stammt aus Israel und ist ein weltberühmter Gelehrter zum Thema Palästina-Israel Konflikt und hat zahlreiche Bücher zu diesem Thema veröffentlicht, einschliesslich Die ethnische Säuberung Palästinas und The Idea of Israel: A History of Power and Knowledge.

Das folgende Gespräch mit Ilan Pappé wurde von Alejandra Ríos für  Ideas de Izquierda  am 12. August 2016 geführt. Die Übersetzung aus dem Englischen erfolgte durch die Redaktion maulwuerfe.ch

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Sie haben gesprochen und geschrieben über das Konzept des Heimatlandes als Rechtfertigung für die Zerstörung der einheimischen Bevölkerung. Was ist die Bedeutung dieses Konzepts und was für Beispiele gibt es für seine Anwendung an anderen Orten? In welcher Hinsicht wurde es in Palästina anders angewendet als in anderen Ländern?

Der Kontext ist das Phänomen des Siedlerkolonialismus: die Bewegung von Europäern, weil sie sich unsicher oder gefährdet fühlten, in nicht-europäische Gebiete hinein auf dem amerikanischen Kontinent, in Afrika, Australien und Palästina. Diese Leute suchten nicht nur ein neues Zuhause, sondern auch ein neues Heimatland. Sie verspürten nämlich keinen Wunsch und hatten keinen Plan, nach Europa zurückzukehren.

Das einzige Problem war, dass das Gebiet, das sie begehrten, bereits mit anderen Menschen bevölkert war. In den meisten Fällen war ihre Lösung der Genozid der einheimischen Bevölkerung. In zwei Fällen war die Lösung eine andere: Apartheid in Südafrika und die ethnische Säuberung in Palästina.

In Ihrem Buch, ‚Die ethnische Säuberung Palästinas‘, sagen Sie, die Ziele Israels seien seit 1948 dieselben geblieben. Können Sie das genauer erklären?

Wie jede sesshafte Kolonialbewegung ist die zionistische Bewegung durch die Logik der Beseitigung der Einheimischen motiviert. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Beseitigung komplexer und vielleicht weniger unmenschlich, aber dennoch drastisch. Der Wunsch der zionistischen Bewegung, sowohl einen jüdischen wie einen demokratischen Staat zu erschaffen, bedeutet, dass es immer einen Wunsch gibt, soviel von Palästina wie möglich zu übernehmen und so wenige Palästinenser darin übrigzulassen wie möglich.

Das ist der Hintergrund der israelisischen ethnischen Säuberungsaktion von 1948; eine Aktion, die mit der Ausschaffung von beinahe einer Million Palästinensern und einer jüdischen Übernahme von 80 Prozent des Gebietes endete.

Allerdings war die ethnische Säuberung von 1948 kein vollendetes Projekt. Es gab noch immer jenes 20 Prozent des Gebietes, das Israel noch nicht besass und es gab eine palästinensische Minderheit in Israel. Die Vision eines reinen, ent-arabisierten Palästinas bestand weiter, aber die Methoden unterschieden sich nun.

Zu den Methoden gehörten die Auferlegung der Militärherrschaft über Pälestinenser in Israel und die Weigerung, Flüchtlinge wieder ins Land zu lassen. Der Platz reichte nicht aus, und die Möglichkeit, ihn zu vergrössern kam 1967, aber bis dahin war das demographische Problem zurückgekehrt. Dieses Mal bestanden die Methoden aus Apartheid, militärischer Besetzung und der Aufsplitterung des Gebiets in Enklaven und Bantustans.

Sie haben die israelischen Handlungen in Gaza als „schrittweisen Genozid“ beschrieben. Was meinen Sie mit diesem Begriff?

„Schrittweise“ bedeutet, dass es kein dramatisches, massives Töten von Menschen einer gewissen Ethnie oder Nation gibt. Aber eine Strategie wie diejenige, die Israel seit 2006 einsetzt, hat zu etwas geführt, was die UN „die Transformation vom Gazastreifen in einen unbewohnbaren Ort“ nannte – also ist es nicht nur das konstante Töten von Zivilisten, das den Genozid ausmacht, sondern auch die Zerstörung der Infrastruktur.

Glauben Sie, dass Israel derzeit ethnische Säuberungen im Westjordanland und Ostjerusalem in einem ähnlichen Ausmass wie bereits 1948 durchführt?

Naja, Fakt ist, dass nur schon in Gebieten Grossjerusalems seit 1967 hunderttausende Palästinenser auf verschiendenste Weisen weggeschafft wurden – durch massiven Ausschaffungen oder durch die Verschiebung ihrer Nachbarschaften ins Westjordanland oder durch eine Einreiseverweigerung, falls sie ihr Land verliessen. Nach 1967 besteht ethnische Säuberung mehr aus der Verschiebung von Palästinensern in Enklaven als ihrer Abschiebung ins Ausland.

Sie argumentieren gegen eine Zweistaatenlösung aus dem Grund, dass sie nicht durchführbar sei und unterstützen stattdessen einen bi-nationalen Staat. Was sind Ihre Gründe dafür, dass sie zu diesem Schluss gelangt sind? Wie, glauben Sie, könnte ein bi-nationaler Staat errichtet werden, und wie würde er funktionieren?

Die Zweistaatenlösung ist aus drei schwerwiegenden Gründen nicht durchführbar. Erstens gilt sie nur für 20 Prozent Palästinas und betrifft weniger als die Hälfte des palästinensischen Volkes. Man kann das Problem Palästinas nicht auf diese Weise reduzieren, weder geographisch noch demographisch.

Zweitens erschuf Israel eine solche Realität vor Ort, hinsichtlich Wohngebiet und Kolonisierung, dass es unmöglich sein würde, einen normalen palästinensischen Staat zu kreieren, auch wenn man diese Lösung annehmen würde. Das Beste, worauf man hoffen kann, wären zwei Bantustans: Eines im Westjordanland und eines im Gazastreifen. Das ist keine Lösung.

Letztlich wird es keine Lösung für den Konflikt geben, ohne das Recht der palästinensischen Flüchtlinge, wieder in ihr Land zurückzukehren, sie zu respektieren. Die Zweistaatenlösung respektiert dieses Recht nicht.

Wie waren die Auswirkungen der wachsenden internationalen Kritik an den Handlungen Israels gegen das palästinensische Volk? Wie hat sich dies auf die Friedensbewegung in Israel ausgewirkt?

In den letzten zehn Jahren hatten Zivilgesellschaften auf der ganzen Welt genug von der Untätigkeit ihrer Regierungen gegenüber Palästina. Deshalb handelten sie aus sich selbst heraus, indem sie den zivilrechtlichen, palästinensischen Ruf nach Boykott, Deinvestitionen und Sanktionen gegen Israel unterstützten.

Die Regierungen der Welt üben noch immer keinen Druck auf Israel aus, seine Politik zu ändern und deshalb ist es schwierig, irgendeine Änderung von innen heraus zu erwarten. Es gibt in Israel kein Friedenslager. Es gibt jetzt eine kleine Gruppe von Aktivisten, die von der BDS-Bewegung ermutigt werden; und die versuchen Israelis über die Menschen- und Zivilrechtsverletzungen in der Gegenwart und in Zukunft aufzuklären. Diese Gruppen aus dem Inneren werden nicht überleben; es wird nötig sein, mehr internationalen Druck auf Israel auszuüben.

Welche Rolle spielen Akademiker und Intellektuelle im Kampf für die Befreiung Palästinas?

Eine sehr wichtige Rolle. Sie können jene Geschichte Palästinas erzählen, die Israel vor der Welt verheimlichen möchte. Es gibt genügend Beweise, und heute gibt es genügend Gelehrte, die von ihnen Gebrauch machen, um die Geschichte so zu erzählen, wie sie wirklich stattfand. Wir werden mutig mit dieser Geschichte umgehen müssen, wenn wir einen wahren Versöhnungsprozess in Israel und Palästina haben wollen.

Wie wichtig ist die BDS-Kampagne? Was glauben Sie, kann sie erreichen?

Sehr wichtig. Sie spielt zwei wichtige Rollen: erstens soll sie die schmerzhafte aber nötige Botschaft an Israel senden, dass eine weitergeführte Politik der Enteignung und Kolonisierung mit grossen Kosten verbunden ist. Und, zweitens, soll sie die Weltöffentlichkeit und den Aktivismus in einer Kampagne aufrütteln, die die Frage Palästinas nie in Vergessenheit geraten lässt.

 

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