Was war die Revolutionäre Marxistische Liga (RML)?
Im Jahrzehnt (Mitte der 1960er-Jahre bis Mitte der 1970er Jahre) des international aufflammenden Aufruhrs der Arbeiterklasse, der Jugend, der Völker im Trikont kam es in Europa, den USA, Kanada, Lateinamerika und Japan zu vielen Neugründungen von revolutionären Parteien.
Dahinter stand die Einsicht, dass die Sozialdemokratie und der Stalinismus das vorhandene politische und soziale Potential eines emanzipatorischen Aufbruchs unweigerlich in eine vernichtende Niederlage führen würde. Die Führung dieses Aufbruchs, insbesondere der Arbeiterklasse, muss diesen reformistischen Kräften entwunden werden. Diese Einsicht hat sich dann auch recht schnell in den Niederlagen und mit der einsetzenden neoliberalen Offensive weitgehend bestätigt.
Eine Folge dieses Scheiterns der Hoffnung auf Befreiung waren die immer härter werdenden Angriffe der Bourgeoisie auf die Errungenschaften der vorhergehenden Periode. Bei der Herausbildung dieser neuen Periode des neoliberalen Kapitalismus oder der flexiblen Akkumulation hat die Orientierung der Sozialdemokratie, des Stalinismus und der Gewerkschaftsapparate auf eine einvernehmliche Politik mit der Bourgeoisie eine zentrale Rolle gespielt: in der Hoffnung auf wirtschaftliches Wachstum sind sie häufig für beinahe jeden Kompromiss zu haben gewesen. Gerade auch in der Schweiz.
Eine andere Folge war, dass die mannigfachen revolutionären Aufbauprojekte entweder spätestens im Laufe der 1980er Jahre vollends untergegangen sind oder aber ihre Ansprüche zurückgeschraubt haben, sich von den revolutionären Inhalten häufig verabschiedet und ihre schon vorher meistens eher schwache Verankerung in der Arbeiterklasse weitgehend verloren haben. In der Schweiz kam es im Jahrzehnt dieses Aufbruchs zu mehreren Dutzend «revolutionären» Neugründungen; der grösste Teil lebte nur sehr kurzzeitig. Nicht so die RML, deren Nachfolgegruppierungen weiterhin (2016) existieren, wenn auch oft nur marginal und sehr prekär. Eine davon ist die Antikapitalistische Linke / Gauche anticapitaliste.
1979 erschien im Lenos Verlag ein Sammelband unter dem Titel «Sozialismus in der Schweiz?», der anhand von Interviews mit Exponenten einiger vier dieser linken Neugründungen deren Ausrichtung recht gut erhellt. Das Interview zur RML wurde mit derem damaligen nationalen Sekretär Fritz Osterwalder geführt und trägt den Titel: Autonomie der Massenbewegungen kann nicht Unabhängigkeit gegenüber der Arbeiterklasse heissen. [Redaktion maulwuerfe.ch]
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Genosse Osterwalder, was für Gründe haben zur Entstehung der Revolutionären Marxistischen Liga geführt?
Die RML hat einen doppelten Entstehungsprozess. Einerseits sind wir entstanden aus der Radikalisierung von breiten Schichten von Jugendlichen, Studenten, jungen Arbeitern, die sich in einer ersten Phase ihrer Entwicklung in der PdA der Westschweiz gesammelt hatten. In der PdA erkannten und erlebten sie bald einmal die Grenzen der Politik einer tradionellen KP. 1968: das Jahr der grossen Mobilisierung der Vietnambewegung, das Jahr des Einmarsches der UdSSR in der Tschechoslowakei, das Jahr der Unruhen in Italien und Frankreich. Wie war damals die Politik der PdA und ihrer Schwesterparteien ausgerichtet? Bezüglich der Massenbewegungen reduzierten sie diese auf rein gewerkschaftliche Forderungen wie ‚mehr Lohn‘ und sahen nicht die grossen Hoffnungen, die die Arbeiterschaft neu geschöpft hatte, mit dem Kapitalismus zu brechen.
Zum Einmarsch in der Tschechoslowakei sagte die PdA zwar klar nein, unterstützte dann aber die ‚Normalisierung‘, anstatt die demokratischen Bestrebungen in den Arbeiterstaaten zu unterstützen und sich mit den gegen die Bürokratie oppositionellen Kräften, die diese Bestrebungen führten, zu solidarisieren. Die PdA sagte zwar nein zur imperialistischen Aggression in Vietnam, aber sie sagte nicht ja zum Kampf für ein sozialistisches Vietnam.
Die jungen Leute in der PdA erkannten, dass diese Politik nicht zufällig war, sondern aus der traditionellen Bindung an die Aussenpolitik der KPdSU und die Friedenspolitik der sowjetischen Bürokratie mit dem Imperialismus stammte.
Der zweite Ursprung der RML liegt in der Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung, in den Auseinandersetzungen um die Politik in der Sowjetunion nach der russischen Revolution und um den Kurs der kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern. Auch in der Schweiz hatte sich in den dreissiger Jahren eine kleine linke Opposition gebildet, die auf den Positionen der trotzkistischen IV. Internationale stand.
Nach dem Ausschluss der jungen Linken aus der Westschweizer PdA schlossen sich diese mit den Restbeständen der IV. Internationale, die in Zürich überlebt hatten, zusammen.
Die meisten Mitglieder der RML stammen aus der 1968-er-Bewegung. Welche Elemente dieser Bewegung wurden in der RML aufgenommen und entwickelt, welche sind eher in den Hintergrund getreten?
Wir haben 1968 gelernt, dass man Massenbewegungen nicht einem Parteikonzept unterwerfen kann. Wir haben erfahren, dass wir in der freien Auseinandersetzung in Massenbewegungen selber lernen können und dass die Massenbewegungen mit uns lernen. Die antiautoritäre Komponente des Mai 68 haben wir weiterentwickelt. Die Fähigkeit und die Bereitschaft, grundsätzliche gesellschaftliche Fragen zu stellen und die bestehenden Herrschaftsstrukturen im kapitalistischen Westen und in den bürokratischen Arbeiterstaaten anzugreifen und sich nicht einfach zu fügen, das war der wirkliche Kern des Antiautoritarismus der 68-er-Bewegung. Wir sind selber der beste Beweis dafür, dass dieser nicht im Gegensatz zu einer starken Organisation steht.
Wir haben aber nicht nur die Anliegen der 1968-er-Bewegung entwickelt, sondern auch gelernt, in der traditionellen Arbeiterbewegung mitzuarbeiten, den Arbeitern Vertrauen in ihre eigene Stärke zu geben. Wir haben uns zunehmend mit konkreten Problemen beschäftigt: mit der Stärkung der Gewerkschaften, dem Kampf gegen A-Werke oder den Abbau demokratischer Rechte. Und hier ist es uns eben auch – zum Teil wenigstens – gelungen, dem 68-er Antiautoritarismus eine neue und ganz wesentliche Dimension zu geben. Es genügt eben nicht, die bestehende Herrschaft in Frage zu stellen und gegen sie anzurennen. Man muss auch die Frage stellen, wer die Hauptopfer dieser Herrschaft sind und wer sie schlussendlich auch aus den Angeln heben kann. Das heisst, die Frage der Arbeiterklasse und -bewegung stellen. Wir können heute in der AKW- oder in der Frauenbewegung selbst dafür eintreten, dass sich diese Bewegungen auf die Arbeiterbewegung hinorientieren, und dass in der Arbeiterbewegung selbst Fragen wie AKW und Frauenunterdrückung aufgegriffen werden.
Kannst du etwas über die Stärke der RML und ihre Verankerung sagen?
Wir sind immer noch eine kleine Partei, aber wir sind entgegen allen Prophezeihungen vor 10 Jahren nicht eingegangen, sondern gewachsen und stärker geworden. Wir existieren heute in den wichtigsten Schweizerstädten. Wir sind rund 500 Mitglieder und haben nochmals etwa gleichviel organisierte Sympathisanten. Unser Wachstum ist aber nicht nur mitgliedermässig, wir haben auch an politischem Gewicht gewonnen.
Die RML ist bekannt als ‚Kaderpartei‘. Was für Anforderungen stellt ihr an euere Mitglieder?
Das Wort ‚Kaderpartei‘ hat einen ganz üblen Beigeschmack. Viele stellen sich unter einem Kader jemanden vor, der andere manipulieren kann – Kaderpartei als Elite. Unsere Vorstellung von Kaderpartei hat nichts damit zu tun. Für uns bedeutet das, dass jedes Mitglied an der Ausarbeitung und Entwicklung unserer Linie mitbeteiligt ist, mitentscheidet und demzufolge auch in der Lage ist, diese Linie nach aussen zu vertreten. RML-Mitglieder vertreten in ihrer Arbeit in Massenbewegungen nicht einfach irgendwelche Parteibeschlüsse, sondern sie können mit ihrer eigenen Person für die von ihnen selbst erarbeitete Linie eintreten, und zwar als Mensch und Aktivist und nicht als ein Sprecher einer Partei.
Was wird sonst noch von den Mitgliedern erwartet?
Wir wollen, dass alle Mitglieder aktiv in der Partei mitarbeiten, und wir haben unsere Aktivitäten so eingerichtet, dass den Mitgliedern genügend Zeit und Energie bleibt, um auch in Gewerkschaften, in der Frauen- oder Anti-AKW-Bewegung mitarbeiten zu können.
Hier gibt es auch wichtige Probleme. Da alle Mitglieder sich regelmässig an der Erarbeitung und Diskussion der Linie der RML und auch der IV. Internationale beteiligen und sehr schnell dank dem Gepäck, das sie von der Partei mitbringen, wichtige Arbeit in den Massenbewegungen übernehmen können und sollen, bleibt sehr oft wenig, zuwenig Zeit für die einzelnen Militanten selbst. Und das ist ja auch wichtig. Ein Revolutionär ist auch ein Mensch und soll vor allem auch ein Mensch sein und so leben können. Wir versuchen jetzt immer mehr, dieses Problem zu lösen, indem wir das Innenleben der Partei besser und wirkungsvoller organisieren, die Mitglieder von Doppel- und Dreifachbelastung befreien. Aber das Problem ist noch nicht gelöst, die Wiederbelebung der schweizerischen Arbeiterbewegung bleibt eben eine Riesenaufgabe.
Wir fordern natürlich auch Geld, da wir keine grossen ‚Spender‘ haben. Wir haben ein Parteisteuersystem mit starker Progression. Das Minimum beträgt 25 Franken im Monat, das Maximum 18% des Einkommens.
Die RML war bei ihrer Gründung in hohem Masse eine Organisation von Studenten und Intellektuellen. Wie hat sich die soziologische Struktur der Partei in den letzten Jahren entwickelt?
Ich muss das Bild von der ‚Intellektuellen Partei‘ etwas korrigieren, denn bei der Abspaltung von der Westschweizer PdA kamen auch jungen Arbeiter mit, und die alte Gruppe der IV. Internationale in Zürich bestand auch vorweigend aus Arbeitern. Wir konnten schon in der ersten Aufbauphase zusätzliche Arbeiter und Lehrlinge – zum Beispiel in grafischen Betrieben – mobilisieren. Die zweite Wachstumsphase der RML fand dann an den Universitäten und bei den Lehrlingen statt.
Wir haben uns immer von der These von Marcuse distanziert, wonach die Revolution von den Intellektuellen gemacht oder angeführt wird, und wir haben grosses Gewicht auf die Arbeit in den Betrieben und Gewerkschaften gelegt. Wir erwarten von unseren Mitgliedern, dass sie in den bestehenden Organisationen der Arbeiterbewegung mitarbeiten. 61% unserer Mitglieder sind gewerkschaftlich organisiert.
Genosse Osterwalder, wie stellst du dir den Weg zum Sozialismus in der Schweiz vor?
Wenn wir von Strategie zum Sozialismus reden, dann geht es in erster Linie darum, den Kapitalismus zu stürzen, die Verfügungsmacht der Kapitalistenklasse über die grosse Mehrheit der Bevölkerung zu brechen – die Verfügungsmacht, Arbeiter zu entlassen, Löhne zu kürzen, Produktivkräfte zum Beispiel in Waffen, Reklame oder unsinniger Konkurrenz zu verschwenden. Wenn man dieses kapitalistische System, das den Menschen immer wieder Unglück bringt und die freie Entfaltung verhindert, stürzen will, kann man kaum von einem ‚schweizerischen Weg zum Sozialismus‘ sprechen. Die Macht der schweizerischen Kapitalisten steckt nicht nur in der Schweiz, sie steckt in Europa, in Amerika, in Hongkong usw. Darum sprechen wir von einer internationalen und internationalistischen Strategie zum Sozialismus.
Gleichzeitig ist die ökonomische Arbeitsteilung und die politische internationale Verflechtung des Kapitalismus schon seit Jahrzehnten soweit fortgeschritten, dass der Weg eines einzelnen Landes zum Sozialismus undenkbar ist. Die Kommunisten, die Trotzkisten haben immer die Behauptung abgelehnt, die Stalin aufgebracht hat, um die KP in den Griff zu bekommen, der Sozialismus könne in einem Land isoliert aufgebaut werden. Der Weg der Schweiz zum Sozialismus ist der Weg Europas zum Sozialismus – zum mindesten. Darum sind wir ja auch in der einzigen internationalen Partei der Arbeiterbewegung, der IV. Internationalen. Das heisst aber nicht, dass wir eine internationale Strategie des Alles oder Nichts verfolgen. Die international verflochtene schweizerische Kapitalistenklasse hat den schweizerischen Staat in der Hand und sie tritt im nationalen Rahmen in Erscheinung.
Als erste Voraussetzung für eine Entwicklung zum Sozialismus muss die gesamte Arbeiterklasse – damit meine ich die Gesamtheit der Lohnabhängigen – für eine neue Gesellschaftsform gewonnen werden, deren Maxime nicht ‚mehr Profit‘, sondern deren Maxime heisst ‚mehr Möglichkeiten für den einzelnen, der den gesamten Reichtum produziert zusammen mit Millionen von andern einzelnen Produzenten‘.
Und wenn wir in diesem Rahmen von einem Weg der Schweiz sprechen, so meinen wir den Weg des schweizerischen Proletariats, den bürgerlichen Staat durch einen Arbeiterstaat zu ersetzen, der die vorher erwähnten Möglichkeiten eröffnet. Und hier gibt es wohl Besonderheiten, die es zu berücksichtigen gilt. In der Schweiz gibt es vielleicht zwei hervorstechende Besonderheiten:
Das Facharbeiterbewusstsein von einem grossen Teil der Arbeiter und Arbeiterinnen. Unter den heutigen Bedingungen wirkt es sich sehr oft konservativ aus. Die Kollegen identifizieren sich vollends mit dem Produkt und ordnen sich dafür auch dem Unternehmer und seinen Interessen unter. Auch in einer revolutionären Strategie kann dieses Facharbeiterbewusstsein auch sehr grosse Bedeutung erhalten. Der Arbeiter und die Arbeiterin wissen eben, dass sie es sind, die den Reichtum produzieren, dass sie auch produzieren können ohne den Chef, dass sie genügend verstehen usw. Darum müssen wir alles tun, um zu verhindern, dass die Leute von Revolution und Sozialismus irgendeine Vorstellung erhalten oder behalten wie Chaos, Durcheinander oder Gemassregeltwerden. Wir legen eben ein ganz besonders Gewicht auf die Arbeiterkontrolle, die ja auch wesentlich zum Sozialismus gehört. Diese Achse entwickeln wir schon heute. Wir machen aber nicht irgendwelche Mitbestimmungsillusionen, die nur noch die Klassenkollaboration verstärken, sondern wir zeigen in konkreten Forderungen auch, dass zur Kontrolle das Wissen der Arbeiter und die Stärke ihrer Bewegung gehören, die es eben braucht, um Lösungen durchzusetzen, die den Profitrahmen sprengen.
Die zweite Besonderheit in der Schweiz ist die lange ungebrochene bürgerlich-demokratische Tradition. Diese hat zur Folge, dass trotz aller Abstinenz eine gewisse Kontinuität in Auseinandersetzungen über konkrete politische Fragen besteht. Aber auch, dass unheimliche Illusionen bestehen über die Möglichkeiten, die die bürgerliche Demokratie bietet. Wir ziehen daraus einen Schluss, wir dürfen überhaupt keinen Zweifel lassen, dass alles, was nicht weit mehr demokratische Rechte bietet als zum Beispiel die bürgerliche Demokratie, mit Sozialismus nichts zu tun hat, selbst wenn dort der Kapitalismus gestürzt wurde. Und wir wollen in allen Tagesauseinandersetzungen mit dem Bürgertum auch zeigen, wie es diese Klasse und ihr Staat selbst sind, die andauernd die wichtigsten demokratischen Rechte, nämlich die Kontrolle der Produktion durch die Produzenten, verhinden.
Wie kann die Masse der Lohnabhängigen für eine sozialistische Gesellschaft gewonnen werden?
Sicher nicht, indem wir sie auf morgen vertrösten, sondern indem wir ihnen schon im heutigen Kampf zeigen, dass es möglich ist, mehr Rechte zu erlangen, sich zu wehren gegen die Angriffe, die das Bürgertum immer stärker vorantreibt. Für diese Abwehr fehlt eben der Arbeiterklasse und –bewegung auch das Selbstvertrauen und –bewusstsein. Niemand findet es gut, wenn man Löhne kürzt, AHV senkt, entlässt und Arbeitsrhythmen beschleunigt. Aber viele haben eben Angst, dass wenn man sich wehrt, das Bürgertum etwas unternimmt, was noch viel schlimmer ist als das bisherige, oder dass dann gleich die Wirtschaft – von der wir doch noch abhängen – zusammenbricht. Darum kämpfen wir für die Demokratie der Arbeiterbewegung, die ein Musterbeispiel werden soll für die Demokratie, die wir in einer sozialistischen Gesellschaft wollen.
Denn erst die Demokratie in der Arbeiterbewegung im inhaltlichen und formalen Sinn kann das mangelnde Selbstvertrauen überwinden. Sie kann helfen, die mächtige aber zerstückelte Klasse zusammenzubringen, Junge und Alte, Frauen und Männer, Ausländer und Schweizer, Organisierte und Unorganisierte. Wir haben das in allen bisherigen Bewegungen gesehen. Nehmen wir Matisa, Dubied, wo in breiten Versammlungen gemeinsam über den Kampf bestimmt wurde. Ausländer und Schweizer kamen zusammen, Frauen konnten reden, und vor allem Zögernde konnten überzeugt werden, dass auch durch Weitermachen nicht die Sintflut anbricht. Und für diese Einheit und Demokratie sollten ja die Gewerkschaften an erster Stelle stehen. Sie tun es aber nicht, sie selbst sind bürokratisiert, Diskussionen können nur über den Apparat verlaufen.
Die schweizerische Arbeiterbewegung ist nicht sehr stark. Was für Gründe sind für die Schwäche verantwortlich, wie kann sie überwunden werden?
In der Schweiz gibt es ein grosses Hindernis, das verhindert, dass die Arbeiterklasse die eigene Stärke wahrnehmen kann: das ist der Arbeitsfriede. Die Möglichkeit, sich selbst bewusst zu werden, sich zu treffen und im Kampf Erfahrungen zu sammeln, ist aufgegeben worden, damit die Unternehmer ihren Frieden haben. Unser Hauptziel ist heute, einen Weg zur Überwindung dieser Blockade zu finden.
Die Gewerkschaften müssen wieder der Ort werden, wo die Arbeiter über ihre Nöte sprechen können, wo sie merken, dass es nicht individuelle Nöte sind, über die man nur zuhause oder am Arbeitsplatz schimpfen kann, sondern dass es die Nöte auch der andern sind. Die Arbeiter müssen sich in den Gewerkschaften wieder aktiv beteiligen können und erfahren, dass sie ihre Lage gemeinsam ändern können.
Mitglieder der RML sind nicht nur in den Gewerkschaften, sondern auch in der neuen Frauenbewegung und in der Anti-AKW-Bewegung aktiv. Was für einen Stellenwert haben diese Bewegungen in eurer Strategie?
Diese Bewegungen werden sehr oft als autonom oder alternativ bezeichnet. Sie sind es wie jede andere Massenbewegung, die in Aktion tritt, und wir anerkennen in ihnen, dass sie alternativ zur allgemeinen Passivität und autonom gegenüber jeder anderen Partei oder Organisation sind. Aber wir wissen auch, dass sie einen ganz grossen Gegner haben, das Bürgertum und seinen Staat. Diese sind dagegen aus zwei Gründen: erstens, weil zum Teil ihre Profitinteressen angegriffen werden, und zweitens, weil sie die Sprengkraft der Tatsache sehen, dass sich in der Schweiz etwas bewegt und erst noch gegen sie selbst. Genau in dem Sinn arbeiten wir auch in diesen Bewegungen. Wir unterstützen ihre Ziele, denn es braucht eine lebende Umwelt für den Sozialismus, die Frauenbewegung ist ein Ziel des Sozialismus.
Aber wir wollen auch diese Impulse weiter geben in die Arbeiterbewegung, die von diesen Bewegungen lernen kann und ihnen wiederum ausserordentlich viel bringen kann.
In diesen breiten Bewegungen setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass nicht nur hie und da – in einem einzelnen Sektor – etwas schiefläuft, sondern dass im Schweizer Paradies einiges ganz grundsätzlich falsch ist. Der Bau von Atomkraftwerken ist nicht bloss ein Fehlentscheid von ein paar Herren, es ist der Fehlentscheid des Profits, der tagtäglich auch in andern Bereichen getroffen wird. Indem man sich in einem Teilbereich der Gesellschaft mit den Problemen auseinandersetzt, wird man mit den grundsätzlichen Problemen, mit den gesellschaftlichen Zusammenhängen konfrontiert.
Wenn wir die Autonomie dieser Bewegungen anerkennen und unterstützen, so betonen wir doch immer wieder, dass dies nicht Unabhängigkeit gegenüber der Arbeiterklasse heissen kann. Denn die Arbeiterklasse ist die soziale Kraft, die schlussendlich im Zentrum jedes Bündnisses stehen wird, das wirklich den Kapitalismus beseitigen kann.
Wie stellst du dir diese Beseitigung des Kapitalismus vor?
Das ist eine Aufgabe, die weder von einer Partei, noch von den Gewerkschaften, noch von den autonomen Massenbewegungen allein, sondern nur von der gesamten Arbeiterbewegung gelöst werden kann. Heute stellt sich zuerst die Aufgabe, überhaupt eine Diskussion über die Fragen in der ganzen Bewegung in Gang zu bringen, Bedingungen für eine offene Diskussion zum Beispiel in den Gewerkschaften herzustellen.
Die Fähigkeit und die Kraft der Arbeiterklasse als Ganzes, Teile der Produktion und des gesellschaftlichen Lebens zu kontrollieren und in ihrer kapitalistischen Form in Frage zu stellen, wächst aus den grossen Massenabwehrkämpfen. Dadurch entsteht aber nicht automatisch der Wille und die Möglichkeit, den Kapitalismus zu brechen und einen Arbeiterstaat zu errichten.
Ich glaube, dass hier die revolutionäre Partei eine ihrer wichtigsten Aufgaben hat. Nicht dass sie in diesem Moment in die Bresche springt und putscht. Im Gegenteil, hier beweist sich dann die Güte ihrer Vorarbeit. Sie muss dann helfen, dass die Klasse als ganzes Organe erhält, in denen sich auch ihre Kraft und ihre Einheit demokratisch ausdrücken lassen. Diese Organe können in den gesellschaftlichen Prozess eingreifen und zeigen, dass die Aufgaben, die bis anhin der bürgerliche Staat erfüllt hat, viel besser lösen, wie z.B. in Krisen, Arbeitsbeschaffung, Schulen usw. Aber auch damit nicht genug, denn das führt unmittelbar in eine Doppelmachtsituation. Aufgabe der Partei ist es, auch hier in einem solchen Prozess, der unheimlich rasant verlaufen kann, viel schneller als Zeitungen erscheinen, Theorien angepasst werden können usw., zu helfen, die Kraft der Arbeiter gegen das Bürgertum, auch ideologisch, so zu stärken, dass sie sehen, dass sie allein die Macht sein müssen und können.
Was geschieht, wenn die Arbeiterklasse den Anspruch stellt, die Gesellschaft in ihrem Sinne zu organisieren und dadurch den Machtanspruch der Bourgeoisie in Frage stellt?
Ich glaube nicht, dass das ein Prozess sein wird des langsamen Hinübergleitens, dass die Arbeiterschaft den Kapitalisten einen Bereich nach dem andern entzieht. Ich glaube auch nicht, dass wir uns auf einen Übergang ähnlich der russischen Revolution einstellen sollten.
Wenn die Arbeiter einmal entdeckt und erfahren haben, dass sie nicht nur tüchtige Arbeiter mit grossen fachlichen Qualifikationen sind, sondern durchaus auch entscheiden können, wie eine Gesellschaft funktionieren soll, dann kommt es notgedrungen zur Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Staat.
Ich glaube, dass das in Westeuropa keine sehr blutige Sache sein wird, im Gegenteil. Der heutige bürgerliche Staat hat nicht nur Repressionsfunktionen, er besteht nicht nur aus Polizei und Militär, sondern auch aus vielen andern Funktionen. Wenn die Arbeiterklasse eine echte Machtalternative darstellt, werden diese Bereiche des Staats kaum mehr funktionsfähig bleiben, sie werden gelähmt werden durch Teile von ihnen selbst, die sich auf Seiten der Arbeit stellen. Dies heisst aber gar nicht, dass das Bürgertum auch mit Restbeständen des Repressionsapparates nicht Rückzungsgefechte liefern kann oder wieder in die Offensive gehen kann, wenn die Arbeiterklasse zögert, ihre Macht auch wirklich auszuüben.
Besteht in vielen Fällen nicht sogar eine Interessenidentität zwischen der Arbeiterklasse und einzelnen Staatsfunktionären?
Wir müssen zwei Ebenen unterscheiden. Zwischen den Arbeitern und dem – ebenfalls lohnabhängigen – Polizisten Wäckerli kann eine Interessenidentität in vielen Fragen bestehen, aber die Funktion der Polizei (und damit der Polizisten) ist nicht mit den Interessen der Arbeiterbewegung zu vereinbaren.
Gibt es nicht Staatsfunktionäre, die eine durchaus emanzipatorische Rolle spielen, beispielsweise demokratische Lehrer?
Die Funktion des Lehrers im Kapitalismus ist die Heranbildung von funktionsfähigen Produktivkräften, von integrierbaren Lohnabhängigen. Dass der einzelne Lehrer nicht auf diese Funktion reduziert werden kann, ist klar. Wenn er diese Funktion aber nicht erfüllt, dann fliegt er, wenn er nicht von einer sehr starken Arbeiterbewegung gestützt wird.
Siehst du die Möglichkeit, durch ein quantitatives und qualitatives Erstarken der Arbeiterbewegung die Funktionen des Staatsapparates zu verändern?
Alle geschichtlichen Erfahrungen deuten darauf hin, dass es nicht möglich ist: Chile, Spanien und Frankreich 1936/37. Neben der historischen Betrachtung können wir auch grundsätzliche Überlegungen anstellen. Sicher kann der Staat verändert werden – nach 1968 hat sich sogar der schweizerische Staat verändert. Die Frage ist aber die: sollen wir die Arbeiterbewegung auf Auseinandersetzungen orientieren in Bereichen, in denen sie schwach ist, nämlich im Staatsapparat; oder soll sich die Arbeiterbewegung nicht auf der Ebene schlagen, wo sie stark ist und auch ihre Alternativen vorbereiten und verwirklichen kann: in der Produktion durch Arbeiterkontrollen, im gesellschaftlichen Leben, kurz in allen Bereichen, die der Massenbewegung direkt zugänglich ist.
Kannst du einige Merkmale der sozialistischen Gesellschaft nennen, wie sie von der RML angestrebt wird?
Ich möchte nicht in einer kurzen Antwort alle Vorstellungen erklären, die wir uns machen und die wichtig sind. Planwirtschat, Übergang zum Kommunismus usw., das führt in diesem Rahmen zu weit. Ich möchte zwei Apsekte erwähnen, die heute besonders aktuell sind.
Wir sprechen immer noch von der Diktatur des Proletariats und zwar nicht wegen der Treue zu einem scheusslichen Begriff, sondern wegen dessen Inhalt – und der wurde von den KP’s schon lange aufgegeben, bevor sie eurokommunistisch wurden. Diktatur des Proletariats heisst nichts anderes, als dass das Proletariat einen Staat braucht nach der Revolution, mit dem es diktatorisch gegen das profitgierige Privateigentum vorgehen kann und womit es bürgerliche Gegenangriffe abwehren kann. Dieser Staat ist nicht einfach ein leicht abgewandelter bürgerlicher Staat, sondern er ist grundstäzlich anderer Natur. Er wird gebraucht, weil weder die feindliche Klasse noch das Privateigentum mit der Revolution einfach schlagartig verschwinden. Diktatur des Proletariats heisst für uns aber ebenso, dass sie in sich ausserordentlich demokratisch organisiert sein muss. Warum? Einerseits sind wir aus prinzipiellen Gründen für alle demokratischen Rechte, auch für sogenannt formale. Aber auch aus praktischen Gründen. Ein Plan, der nach den Bedürfnissen und Fähigkeiten ausgerichtet sein soll, kann nur funktionieren, wenn alle Bedürfnisse und Fähigkeiten – zu denen auch die Arbeitsbereitschaft gehört – frei geäussert werden können und um die herum Organisationen entstehen können. Diese Kenntnisse kann weder ein noch so genialer Generalsekretär noch eine noch so revolutionäre Partei ersetzen. Das heisst eben, dass wir für verschiedene Parteien sind, für Tendenzrecht und Organisationsfreiheit. Wir sind für die Zulassung von bürgerlichen Parteien, sofern sie ideologische Strömungen sind, die den neuen Staat nicht sabotieren. Denn nur in der Auseinandersetzung mit ihnen kann das bürgerliche Denken, das eventuell noch bei zurückgebliebenen Schichten der Arbeiter vorhanden ist, weiterentwickelt werden. Dieser Staat trennt aber auch immer weniger zwischen Ökonomie und Politik. In dem Sinn werden Entscheide auf allen Ebenen gefällt durch Delegierte aus der Produktion, aus Quartieren usw., die sich alle in den Plan einschliessen, von den Räten. Diese Räte, um ein demokratisches Funktionieren auf allen Ebenen zu garantieren, sind jederzeit durch Abstimmung ihrer Grundeinheit rückrufbar. Diese Angaben zeigen, warum wir einen gänzlich neuen Staat brauchen.
Der zweite Aspekt, den ich erwähnen möchte, betrifft die Zentralisierung. Ich glaube, in dieser Beziehung heute von unserer internationalen Bewegung grosse Fortschritte gemacht wurden. Sicher braucht es im Sozialismus eine Zentralisierung. Diese setzt aber inklusive auf Planebene auch eine föderative Struktur voraus, d.h. Entscheidungsstrukturen auf niederer Ebene, in Betrieben, Quartieren, Regionen usw. Diese Entscheide sollen nicht einfach an die nächst höhere Stufe, bis in den Zentralen Arbeitsrat delegiert werden, sondern schon auf niederer Stufe, bis in den Zentralen Arbeiterrat delegiert werden können. Das sind Möglichkeiten, die den Menschen die Demokratie enorm erweitern, Entscheide durchschaubar machen.
Ein letztes Wort zu diesem Problem. Man sagt uns immer: Ja das wäre schon. Es ist aber trotzkistischer Idealismus, es geht um die Macht und nicht um Experimente. Es ist ganz klar, dass gerade weil es um die Macht geht, diese Art Rätedemokratie so entscheidend ist. Alle andern Formen der Diktatur des Proletariats, insbesondere die bürokratische Diktatur über das Proletariat, sind eine permanente Gefährdung der Arbeitermacht. Sie bringen Fehlplanungen hervor, sie entpolitisieren die Arbeiter. Die technischen Probleme dieser Demokratie sind heute ein Kinderspiel. Ein Stahlkonzern in der BRD kann bereits mit einem Stahlkonzern in Frankreich und Italien via Telekommunikation eine gemeinsame Streikversammlung durchführen, ohne dass sich mehr als 20 Techniker von einem Ort zum andern bewegen.
Die antimonopolistische Politik – wie sie von der PdA und neuerdings auch von der POCH formuliert wird – geht davon aus, dass die Politik des Monopolkapitals nicht nur m Widerspruch zur Arbeiterklasse steht, sondern mehr und mehr auch im Widerspruch zu den Interessen von Bauern, Intellektuellen, Gewerblern, kleinen und mittleren Unternehmern sowie zahlenmässig nicht definierbaren Käften wie Konsumenten, Frauen oder Jugendliche gerät. Daraus wird abgeleitet, dass es für die Arbeiterklasse möglich und notwendig ist, mit diesen Kräften Bündnisse zu schliessen, um den dominierenden monopolistischen Kern der Bourgeoisie zu isolieren. Was hälts du von dieser Konzeption?
Das innerhalb des bürgerlichen Lagers Widersprüche bestehen, anerkenne ich. Die RML ist auch dafür, dass diese Widersprüche ausgenutzt werden. Wir haben allerdings eine andere Einschätzng über den Charakter dieser Widersprüche. Wenn die Arbeiterklasse selbst relativ kleine Probleme zu lösen versucht, stösst sie sehr rausch auf den Kern der Dinge, nämlich auf das Privateigentum an Produktionsmitteln. Wo das Privateigentum an Produktionsmitteln durch die Arbeiterklasse tangiert wird, verschwinden allfällige ‚innerkapitalistische Widersprüche‘ sehr rasch im Hintergrund.
Selbstverständlich sind wir der Meinung, dass die Arbeiterbewegung Bündnisse schliessen kann und muss. Diese Bündnisse sind aber nicht Zugeständnisse. Die Arbeiterklasse soll die Frauen, die Studenten, eine AKW-Bewegung usw., selbst die klassischen Kleinbürger zu ihrem Bündnispartner machen. Bündnisse hängen aber davon ab, welche Stärke die Arbeiterklasse selbst entwickelt und sich als fähig erweist, all diesen Schichten im Rahmen ihrer Klassenmacht Lösungen zu zeigen. Wenn man aber mit nichtmonopolistischen Unternehmern Bündnisse schliesst, dann geht man total darüber hinweg, dass gerade sie ja auch die Arbeiter ausbeuten müssen, um überhaupt als Unternehmer existieren zu können. Bündnisse, d.h. Allianzen mit ihnen zu schliessen, heisst die Arbeiterklasse den Interessen ihres Klassengegners unterzuordnen, was bis jetzt schon genügend getan wurde in der Schweiz.
Betreibt die RML in der Anti-AKW-Bewegung nicht selbst antimonopolistische Politik?
Die Anti-AKW-Bewegung ist im grossen und ganzen eine Bewegung von Lohnabhängigen. Sicher arbeiten auch einige Kleinbürger, vielleicht sogar einige kleine Unternehmer mit. Sicher ist nicht unser Hauptziel, diese zu vertreiben und irgendwelche Klassenlupenreinheit herzustellen. Aber wir wollen auch nicht auf sie unsere Politik ausrichten. Wir wollen die Arbeiterklasse und –bewegung für die Umweltfragen gewinnen und zum Bündnispartner machen. Wir wollen ihnen zeigen, wie effektiv Massenbewegungen sind. Wir stellen die Frage der Verstaatlichung der Energiekonzerne und mit ihrer Kontrolle durch Arbeiter und ihre Organisationen. Wir stellen die Frage von Sondersteuern auf Unternehmergewinne für Entwicklung von Alternativenergien. Wenn dann etwelche Bürger mitmachen wollen, umso besser.
Kannst du zum Schluss das Verhältnis der RML zu den andern Organisationen der Arbeiterbewegung charakterisieren?
Wir sind dafür, möglichst viele Bündnisse innerhalb der Arbeiterklasse herzustellen und zwar Bündnisse zur Erreichung ganz konkreter Kampfziele. Nur so wird es möglich sein – über alle grundsätzlichen Differenzen hinweg – die Interessen der Arbeiterklasse zu verteidigen. Nur so wird die Arbeiterklasse wieder Vertrauen schöpfen, dass sie die Verhältnisse sowohl in Teilbereichen als auch grundlegend ändern kann. Wir wenden uns gegen jede Ausschlusspolitik bei Aktionseinheiten.
Tags: Antikapitalistische Linke Schweiz, Arbeiterbewegung, Neoliberalismus, Strategie
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