»Jugoslawien war kein Paradies«
Ein Gespräch über Serbiens Neue Linke, nationalistische Jugo-Nostalgie und die Folgen der Migration. Interview: Nina Scholz
Überall in Südosteuropa entstehen neue linke Gruppen, die eine andere Politik machen wollen als die alten. Sie sagen sich los von Jugo-Nostalgie oder Staatsparteien und interessieren sich stattdessen für Basisbewegungen, LGBT-Themen und Feminismus. Eine dieser Gruppen ist Marks21 aus Belgrad, die sich selber als post-trotzkistisch bezeichnet. Wir haben mit Anja Ilic und Pavle Ilic von Marks21 darüber gesprochen, was diese Neue Linke ausmacht.
Pavle, Anja, gibt es wirklich eine Neue Linke in Serbien?
Pavle: Ja, die gibt es. Das sind junge Leute, die meisten unter 35, die eine andere Politik wollen als es sie bisher im ehemaligen Jugoslawien gab.
Was für eine Politik?
Anja: Sie interessieren sich für Feminismus, für LGBT-Themen. Viele sind Studenten. Die meisten sind zum Beispiel gegen die hier vorherrschende nationalistische Politik. Denen ist es egal, ob Serbien sich zwischen der EU und Russland entscheidet, was ein ständig wiederkehrendes Thema ist.
Pavle: Viele werden politisiert, weil sie hier überhaupt keine Chancen haben. Sie werden keine vernünftige Arbeit finden, die meisten werden nie in ihrem Leben genug Geld verdienen. Deswegen richten sich viele, genau wie wir, gegen neoliberale Politik, die hier von allen Parteien vertreten wird.
Von allen?
Pavle: Alle – von den etwas progressiveren Demokraten über die Sozialisten bis hin zu den Faschisten – befürworten eine aggressive neoliberale Politik. Das ist auch ein Grund, warum die neue Linke sich von der alten abwendet.
Wer gehört für euch zur alten Linke?
Anja: Die alte Linke wird für mich von der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) repräsentiert, das ist die Partei von Slobodan Milosevic. Deren Symbolik ist vielleicht nostalgisch-sozialistisch, die Politik aber durchweg nationalistisch und neoliberal.
Es gibt von der alten Linken niemandem, mit dem ihr heute noch was anfangen könnt?
Pavle: Leider nein. Es gibt in Serbien sowie überall im ehemaligen Jugoslawien starke Brüche. Zur alten Linken gehören für uns alle, die früher mal die Elite waren und die nicht wirklich progressiv sind. Es gab natürlich auch vor uns schon eine progressive Linke, das sind die, die 1968 hier in Belgrad an den Studentenprotesten teilgenommen haben. Die hatten es später in Jugoslawien sehr schwer und sind heute auch eher desillusioniert.
Wie seid ihr zur Politik gekommen?
Pavle: Ich bezeichne mich als links, solange ich denken kann, aber ich habe bis vor ein paar Jahren eigentlich nichts gemacht. Ich habe mich früher immer als Anarchist bezeichnet, weil Sozialisten und Kommunisten für mich die Bösen waren. Aber als im Februar 2011 die Proteste auf dem Tahrir-Platz in Ägypten losgingen, wollte ich einfach was machen. Ich bin dann zu einer linken Gruppe hin, und da hing wirklich Josef Stalin an der Wand. Da hatte ich natürlich keine Lust drauf. Dann habe ich von Marks21 gehört und vor allem von den Lesegruppen, die sie veranstalten. Da habe ich ziemlich schnell festgestellt, dass Sozialismus nicht per se schlecht ist.
Anja: Ich habe angefangen, mich für Politik zu interessieren, als ich angefangen habe zu studieren. Bis dahin hätte ich mich als komplett apolitisch bezeichnet. Aber eigentlich nur, weil ich alle Optionen, die ich kannte, schrecklich fand.
Was hat sich geändert?
Anja: 2011 gab es Studentenproteste in Belgrad. Die Studenten der Philologischen Fakultät haben ein Unigebäude besetzt, um gegen die hohen Gebühren zu demonstrieren, und bald haben sich viele Studenten angeschlossen. Ich war relativ schnell enttäuscht von der Besetzung, die ging mir thematisch nicht weit genug. Aber dort hab ich Pavle getroffen, und so bin ich zum ersten Mal mit einer anderen Art von Marxismus in Berührung gekommen. Da gingen auch gerade die Proteste in Griechenland los. Ich wusste gar nichts über die, also bin ich zu den Debatten von Marks21 gegangen. Ich glaube, die Uniproteste haben viele politisiert, auch wenn die selber gar nicht so politisch waren.
Wie sieht es in anderen Balkanländern aus? Gibt es Austausch und Zusammenarbeit?
Pavle: Ja, gibt es! Wir versuchen gerade, ein Netzwerk aufzubauen, auch wenn es sehr langsam voran geht. In diesem Netzwerk sind neue linke Gruppen aus allen Balkanländern, also nicht nur aus den ex-jugoslawischen Ländern, sondern auch aus dem Kosovo, aus Albanien und Bulgarien. Gerade in den letzten dreien tut sich einiges.
Griechenland war immer ein besonderer Bezugspunkt für die serbische Linke. Wie habt ihr die Stimmung in Griechenland erlebt, also die Proteste, dann den Wahlsieg von SYRIZA, später das Einknicken vor der EU?
Anja: Wofür SYRIZA mal stand, ist immer noch eine Inspiration für uns. SYRIZA, so wie es heute da steht, ist eher ein Negativbeispiel.
Pavle: SYRIZA hat uns allen Hoffnung gemacht, dass man sich dem Diktat der EU nicht beugen muss. Ich glaube nicht, dass der Kampf, den SYRIZA gekämpft hat, der letzte der europäischen Linken war. Das ist ein Rückschlag, klar, aber wir können aus der Niederlage auch viel lernen.
Was denn?
Pavle: SYRIZA hatte keine richtige Strategie. Linke Parteien in Europa müssen sich noch viel stärker fragen, was sie von einer Regierungsbeteiligung wollen.
Könnt ihr euch vorstellen, dass es in naher Zukunft eine soziale Bewegung wie die aktuelle in Frankreich auch in Serbien geben könnte?
Pavle: Leider nein. Wir haben keine politische Geschichte, in der es für eine außerparlamentarische Linke normal ist, auf die Straße zu gehen. Wir haben auch keine Organisationen, die so etwas mobilisieren könnten. Wir merken schon, dass sich immer mehr Menschen für so eine Politik interessieren. Es gibt aber zu wenige Gruppen, die ihnen ein gutes Angebot machen könnten. Wir stehen wirklich erst ganz am Anfang.
Anja: Das macht mir auch große Sorgen, weil dadurch die gemeinsam erlebten Momente der Hoffnung fehlen. Die Menschen in Serbien sind dann sehr schnell wieder desillusioniert.
Gibt es keine Gewerkschaften, die sich als Bündnispartner anbieten?
Pavle: Es gibt zwei große Gewerkschaften, die das ganze Feld dominieren und im Grunde bürokratische Organisationen sind, die in der Vergangenheit nicht viel für die Arbeiter getan haben. Die drittgrößte Gewerkschaft vertritt eine neoliberale Agenda. Die kleinste Gewerkschaft ist ein bisschen links. Die am weitesten linken Position vertritt merkwürdigerweise der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft. Wirklich schockierend! (lacht) Es gibt aber in den letzten Jahren auch ein paar kleinere, syndikalistische Bestrebungen. Macht haben die aber zur Zeit noch keine.
Mit was für Gruppen arbeitet ihr sonst so zusammen?
Anja: Im Grunde mit allen, die wie wir antikapitalistisch sind beziehungsweise ein Verständnis dafür haben, dass der Kapitalismus uns alle auf sehr negative Art trifft. Das sind ökologische Gruppen, Initiativen aus der LGBT-Bewegung oder feministische Organisationen. Wir sind da sehr offen. Wir wollen eine Atmosphäre des gemeinsamen Kämpfens schaffen.
Habt ihr ein Beispiel?
Pavle: Die Linke in Serbien ist schwach, es gibt kaum Initiativen, an denen wir uns beteiligen können und wollen. Aber eine, an der wir gerade mitarbeiten, versucht, die offizielle Rehabilitierung von Tschetniks und Kollaborateuren mit den Faschisten aus dem Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Das wäre wirklich in keinem anderen europäischen Land vorstellbar. Diese Menschen sollen wieder als Helden und Vorbilder herhalten. Dagegen engagieren wir uns mit vielen anderen.
Wie sieht es mit der linken Geschichte in Jugoslawien aus? Interessiert ihr euch für die Partisanengeschichte? Ist das ein positiver Anknüpfungspunkt für euch oder zu viel Folklore, die schon von anderen missbraucht wurde?
Anja: Wir versuchen uns an einer kritischen Wiederbelebung. Manche Aspekte der Partisanengeschichte waren lange dämonisiert, da fragen wir schon nach, warum das so ist. Wir wollen aber auch nicht in die weitverbreitete Jugo-Nostalgie einstimmen.
Pavle: Jugo-Nostalgie ist wirklich problematisch. Ich muss mich selber immer wieder davor bewahren. Jugoslawien war kein Paradies, auch wenn der Staat viele Errungenschaften garantiert hat. Aber wir wollen nach vorn blicken und uns lieber fragen, was wir jetzt, genau in diesem Moment besser machen können.
Habt ihr eigentlich Probleme mit den vielen rechtsradikalen Gruppen in Belgrad?
Anja: Erst vor kurzem gab es wieder einen Angriff. Neonazis haben unsere Genossen vom Social Center Octobre angegriffen. Sowas passiert immer wieder, die tauchen überall auf, wo Linke sich treffen.
Pavle: Der Höhepunkt war 2011, als auch die Unibesetzungen waren. Die waren gar nicht explizit links, aber der Uni-Rektor hat in einer Zeitung gesagt, dass das Anarchisten und Kommunisten seien, Unruhestifter, und die Studenten dadurch ans Messer geliefert. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die sind da nämlich mit Messern aufgetaucht. Die Uni in Belgrad ist in der Mitte der Stadt. Die Polizei hat nur gesagt, wir mischen uns da nicht ein. So ist die Situation. Danach haben die Mobilisierungen abgenommen, auch die Angriffe wurden weniger. Seit diesem Jahr nimmt das wieder zu.
Wie macht sich das bemerkbar?
Pavle: Wenn sie zum Beispiel zum Jahrestag der Bombardierung Belgrads durch die NATO 1999 mobilisieren, zu dem hunderte Neonazis gekommen sind. Das war eine offen rechte Mobilisierung.
Wie sieht es mit Rassismus aus?
Pavle: Es gibt einen verbreiteten, tief sitzenden Rassismus in der serbischen Gesellschaft, der richtet sich aber fast ausschließlich gegen Roma, kaum gegen Geflüchtete. Bis 2013 hat das Thema in Serbien überhaupt keine Rolle gespielt. Es gab vielleicht 1.000 Asylanträge im Jahr. Niemand wollte hier leben. Seit es die großen Bewegungen von Geflüchteten gibt, sind sie zwar zum ersten Mal sichtbar, aber bis vor kurzem war klar, dass sie hier nur Zwischenstation machten.
Seit die EU die Grenzen dicht gemacht hat, stranden viele Geflüchtete in Serbien, auch in Belgrad.
Pavle: Letztes Jahr sind knapp 200.000 Geflüchtete durch Serbien gekommen, viele sind hier gestrandet. Die rassistische Rechte hat versucht, das Thema zu besetzen, aber ohne Erfolg. Die Erinnerung daran, selber zu flüchten, ist einfach noch zu frisch. Die ganz normalen Leute helfen, wo sie können. Ein Bäcker in Belgrad, der aus Sarajevo kommt, backt zum Beispiel seit Monaten für die Geflüchteten. Es gibt zahlreiche solcher Geschichten. Also ja, das ist ein Thema für uns, aber glücklicherweise kein so zentrales, weil wir kaum Überzeugungsarbeit leisten müssen.
Anja: Auch der serbische Staat reagiert nicht sehr feindselig. Sie helfen zwar nicht unbedingt, aber sie machen den Geflüchteten und den Menschen, die ihnen helfen, das Leben auch nicht unnötig schwer.
Gibt es etwas, das ihr euch von deutschen Linken wünscht? Irgendeine Form der Unterstützung?
Pavle: Ich würde mir wünschen, dass wir gemeinsam gegen die grausame, imperialistische und aggressive neoliberale Politik der EU vorgehen. Alle zusammen.
Quelle: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 617 / 21.6.2016
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