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Der vergessene Krieg – die Kurden in der Türkei

Eingereicht on 7. Dezember 2016 – 10:20

Martin Dudenhöffer. Gut eineinhalb Jahre ist es her, dass der älteste Binnenkonflikt der Türkei wieder entflammt ist und die beiden Hauptakteure, türkischer Zentralstaat und bewaffneten kurdische Milizen zu den Waffen zurückgekehrt sind.

Der Anschlag von Suruç im Juli 2015 gilt bis heute als Stein des Anstoßes. Die Bilanz ist verheerend, die Lage für die kurdische Zivilbevölkerung ist so dramatisch wie seit langem nicht mehr: Tausenden Menschen haben die gewaltsamen Auseinandersetzungen das Leben gekostet, große Teile der Infrastruktur sind zerstört, und die Spannungen im Land nehmen im Zuge der Entdemokratisierung immer weiter zu.  Die „Kurdenfrage“ ist im internationalen politischen Diskurs ein untergeordnetes Thema, eigentlich ist sie jedoch eng mit den derzeit drängendsten Problemen der Türkei verbunden und verdient deshalb mehr Beachtung. Ein Abriss eines alten Krieges, der etwas in Vergessenheit geraten ist.

Der vergangene Monat hat nochmal internationale Aufmerksamkeit auf einen Konflikt gelenkt, der angesichts großer politischer Umwälzungen in Europa, terroristischer Bedrohungen und der Kriege in Nahost weniger die Schlagzeilen bestimmt hatte. Anfang November wurden große Teile der politischen Führung der linken und pro-kurdischen HDP verhaftet, zuvor waren es die Bürgermeister der Kurdenhauptstadt Diyarbakır, landesweit wurden unzählige kurdische Medien geschlossen, zigtausende Menschen festgenommen oder einfach entlassen. Im kurdischen Kontext geschieht all dies im Lichte angeblicher Anti-Terror-Maßnahmen gegen die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Prominente Kurdenpolitiker wie die HDP-Vorsitzenden Selahettin Demirtaş und Figen Yüksekdağ mussten zwar nach der Aberkennung ihrer parlamentarischen Immunität im Mai 2016 mit einer Verhaftung rechnen, fast einhundert Verfahren liefen alleine gegen Demirtaş, doch der Kahlschlag gegen die kritische Opposition kam trotzdem wie ein Schock. Nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli dieses Jahres und dem damit verbundenen Ausnahmezustand scheint die Türkei als demokratischer Rechtsstaat kaum noch zu retten sein. Seit Monaten agiert die regierende AKP-Führung zusammen mit dem Präsidenten fernab dieser allgemeingültigen Prinzipien, sie hat den bedeutendsten innerstaatlichen Konflikt des Landes, der die Türkei seit Gründungstagen begleitet, aus politischem Kalkül bewusst befeuert.

Fast zyklisch kehrt der Kurdenkonflikt in der Türkei zurück. Als der Staat 1980 erneut von einem Militärputsch erschüttert wurde, begann für die politische Linke im ganzen Land der Niedergang. Die rigide Unterdrückung von progressiven, liberalen, und alternativen Kräften wirkte sich naturgemäß auch auf die Situation der KurdInnen aus, die im autoritären „kemalistischen“ Staate Türkei politisch, ökonomisch und gesellschaftlich sowieso marginalisiert waren. Nur wer bereit war, die eigene kurdische Nationalität zugunsten der von Atatürk propagierten homogenisierten türkischen Nationalidentität einzutauschen, konnte integriert oder assimiliert werden. Die Vision eines autonomen Kurdenstaats wurde mit Gründung der modernen Türkei und den neuen Grenzverläufen gemäß dem Vertrag von Lausanne zunichtegemacht. Das durchaus in sich verschiedene Volk der KurdInnen wurde in die von den Westalliierten kontrollierten Staaten Syrien, Irak und Iran verteilt. Die Ende der 1970er von Abdullah Öcalan gegründete leninistisch-marxistische PKK gelang es auch durch Unterstützung ausländischer Mächte wie der Sowjetunion, Syriens und Griechenlands den türkischen Zentralstaat herauszufordern und somit die auffälligste aller kurdischen Organisationen im Land zu werden.

Fast 30 Jahre bewaffneter Kampf, in dem sich die PKK zwischen terroristischer Vereinigung und etablierter Kriegspartei bewegte, stieß ausgerechnet die islamisch-konservative AKP den Friedensprozess wieder an. Der damalige Ministerpräsident Tayyip Erdoğan war es, der durch Erleichterungen bezüglich der kurdischen Sprache vor allem eine Wiederannäherung zwischen Ankara und den KurdInnen vorschlug. In mehr oder minder geheimen Verhandlungen trafen sich führende Vertreter der türkischen Regierungen mit ihren Kollegen der kurdischen Seite, unter anderem mit dem im Gefängnis einsitzenden PKK-Führer Öcalan, um die „Kurdenfrage“ in ruhigere Fahrwasser zu bringen. Zweifelsohne steckte hinter der Öffnung gegenüber kurdischen Kräften auch eine einfache wahltaktische Überlegung: Die konservativ geprägten KurdInnen können nach Gewährung einiger kulturellen Rechte und tiefergehenden politischer und wirtschaftlicher Inklusion als WählerInnen der AKP gewonnen werden, eine Strategie, die bis 2014 etwa sogar aufging. Dann begann der demokratische Abstieg der Regierung Erdoğan, die Repression nahm massiv zu, die Kriege in Syrien und Irak verschärften die türkisch-kurdischen Beziehungen enorm. Dafür stehen symbolisch die Fälle Kobanî und Suruç. Allein der Anschlag von Suruç kostete 34 zumeist jungen KurdInnen das Leben. Viele Stimmen warfen daraufhin der türkischen Regierung vor, den Vormarsch der (IS-)Islamisten zu unterstützen und die KurdInnen als gemeinsamen Feind auserkoren zu haben. Als die PKK mit Vergeltung auf türkische Sicherheitskräfte reagierte, brach der Krieg schlussendlich wieder von Neuem aus. Zu den seit 1984 getöteten 40.000 Menschen, kamen seit 18 Monaten in etwa 2.400 neue Opfer hinzu, die einzige politische Vertretung der KurdInnen von Bedeutung, die HDP, ist nun vom parlamentarischen Betrieb ausgeschlossen, ihre VertreterInnen sitzen reihenweise im Gefängnis.

Der Konflikt seit 2015 in Zahlen

Die in Brüssel sitzende NGO „International Crisis Group (ICG)“ hat seit Juli 2015 den Kurdenkonflikt in der Türkei beobachtet und in ihrem fortlaufenden Bericht die Kriegsakteure, -gebiete, -führung, und -opfer im Detail aufgeschlüsselt. ICG kategorisierte die Gesamtopfer in türkische Sicherheitskräfte, PKK-Milizionäre, Zivilisten und Jugendliche ohne klare Verbindung zu einer der involvierten kurdischen Milizen. Bis Anfang Dezember sind schätzungsweise 2.400 Menschen getötet worden. Die meisten Opfer (965) macht die Gruppe der PKK-Milizen aus, darunter gehört neben der PKK als Mutterorganisation auch die bewaffneten Untergruppierungen der HPG und YPS sowie deren militanten Frauenverbände. In die Gruppe der türkischen Sicherheitskräfte gehören hauptsächlich die Türkischen Streitkräfte (TSK), die nationale Polizei und weitere für den Staat agierende Einheiten. Sie bilden die zweitgrößte Opfergruppe mit mindestens 808 Toten. Getötete Zivilisten zählt ICG mindestens 368 und 219 Jugendliche, die nicht klar einer Rebellengruppe zugeordnet werden können.

In eineinhalb Jahren direkter Kampfhandlungen, die sich in den kurdisch-dominierten Gebieten im Südosten der Türkei konzentrierten, bewegte sich die monatlichen Toten fast immer zwischen 100 und 200 Menschen. Nach einer Explosion der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Milizen, die im Sommer 2015 einsetzten, erreichte der Konflikt seine negative Klimax im Februar 2016, als die meisten Opfer zu beklagen waren. Um den Jahreswechsel erhöhte die Regierung ihre Maßnahmen. So wurden durch Bodentruppen und Artillerieschläge der TSK ganze Dörfer und Städte insbesondere in den Provinzen Diyarbakır, Şırnak, Mardin und Hakkarî zerstört, so auch die zivile Infrastruktur, die die Versorgung mit Wasser, Strom, Lebensmitteln und Medikamente sicherstellen soll. Die humanitäre Situation der BürgerInnen vor Ort hatte sich erheblich verschlechtert, der türkischen Regierung hatte das trotzdem kaum internationale Kritik eingebracht, obwohl nachweislich Prinzipien der Verhältnismäßigkeit, vor allem gegenüber der Zivilbevölkerung, missachtet wurden.

Im Laufe des ersten Halbjahres 2016 wurde sichtbar, wie zum Beispiel die Städte Cizre, Nusaybin, und Sur in den Kurdenprovinzen praktisch dem Erdboden gleichgemacht worden sind. Neben der überwältigenden militärischen Übermacht halfen dem Staat auch breit ausgelegte und teils noch immer geltende Ausgangssperren, um noch engmaschiger angreifen und kontrollieren zu können. Weiter befeuert wurde der Konflikt durch das türkische Militärengagement nur wenige Kilometer entfernt auf syrischem Staatsgebiet. Die türkische Regierung zielt bis heute auf eine vollständige Kontrolle der türkisch-syrischen Grenze ab, entlang derer sich die kurdischen Volksverteidigungseinheiten aus HPG, YPS und syrischer YPG entgegenstellen. Im Gegenzug zu den weitreichenden Militäroperationen Ankaras, verstärkten Milizen wie die Kurdischen Freiheitsfalken (TAK), die der PKK nahestehen, ihre Gewaltaktionen gegen genau diese staatlichen Repräsentanten. Bei gezielten Bombenanschlägen mit sogenannten „IEDs“ (improvised explosive devices, engl.) auch in Städten wie Istanbul (23 Tote) und Ankara (64 Tote) töteten die PKK und ihr unterstehende bewaffneten Gruppen hunderte Sicherheitskräfte, aber auch viele Zivilisten. Dem Staat wiederum gaben diese Vorfälle die Legitimation, den kurdischen Widerstand als reinen Terrorismus zu deklarieren.

Die Kurdenfrage im In- und Ausland

Die Zuspitzung der äußerst angespannten innenpolitischen Situation, in der Ankara das Problem mit der kurdischen Minderheit zunehmend im Kontext Terrorismus zu „framen“ versucht, war die Konsequenz. Unter dem Deckmantel des nationalen Anti-Terrorkampfes, begeht die AKP – von nationalistischer Stimmung im Land angetrieben – schwerwiegende Brüche demokratischer Standards. Die repressive Politik der Regierung gegen kritische Stimmen im Land, seien es JournalistInnen, PolitikerInnen oder ganz gewöhnliche BürgerInnen, hat sich innerhalb der letzten wenigen Jahre nochmal drastisch intensiviert, dazu kamen Kriegshandlungen, die Hunderten den Tod brachten. Zusammen mit einer immer aggressiveren außenpolitischen Linie, die die Türkei in eine regionale Hegemonialmacht verwandeln soll, mutet die Entwicklung des Landes immer mehr wie die eines quasi-faschistoiden Staates eines einzelnen Mannes an. Galt Präsident Erdoğan vor Jahren noch als Mit-Initiator der Öffnung gegenüber den KurdInnen, ist er heute einem fatalen Größenwahn verfallen, der die Türkei so langsam auch international isoliert.

Die massiv verschärfte Unterdrückung der kurdischen Minderheit, die jetzt im November ihren vorläufigen Tiefpunkt fand, weckte wohl doch einige politische Verantwortliche in Europa auf. Die EU-Beitrittsverhandlungen, eine große Farce ohnehin, könnten wohl ausgesetzt werden, was dem Regime Erdoğan innenpolitisch erstmal von Nutzen sein kann. Für die Kurdenfrage könnte ein vollständiger Rückzug des europäischen Monitorings aber eine Gefahr darstellen, hat doch das Schicksal der kurdischen Zivilgesellschaft, wie auch der Rest der liberalen, linken und progressiven Kräfte in der Türkei insgesamt, Europas Mächtige viel zu wenig interessiert. Die Türkei ist bekanntlich einer der wichtigsten geostrategischen Partner des Westens, allem voran der NATO-Mitglieder in Europa und USA, und sie zeigte sich zumindest offiziell gewillt, den Kampf gegen den IS-Terrorismus mitzutragen, auch wenn die Verbindungen zwischen türkischem Staat und Terroristen kaum noch ein Geheimnis sein dürften. Es war gerade der nachlässige bis kooperative Umgang der Regierung mit radikalen Islamisten, die den Kurdenkonflikt im Sommer 2015 wieder ausbrechen liess. Den kurdischen Einheiten der PKK kam der bewaffnete Kampf auch eher entgegen, als denn eine zivile und friedliche Lösung der Kurdenfrage, wie man es nach den Wahlerfolgen der HDP im Juni 2015 noch für möglich  hatte.

An der Spitze aller politischen Interessen der EU rangiert aber noch immer das Abkommen zur Reduzierung der Flüchtlingszahlen. Die Dienste der Türkei, ihre Grenzen zu den Kriegsgebieten in Syrien und dem Irak sowie den europäischen Außengrenzen zu Griechenland, dem Mittelmeer und Bulgarien stärker zu kontrollieren und im Gegenzug „illegal“ eingereiste Menschen auf der Flucht wieder zurückzunehmen, sind absolute „top priority“ für die Regierungen der Mitgliedsländer, in denen Rechtspopulisten auf dem Vormarsch sind. Folglich sind Fragen nach der Rettung der türkischen Demokratie, mit der die Kurdenfrage so eng verbunden ist, mehr als untergeordnet behandelt worden. Wiederholt wurde seitens führender PolitikerInnen Verständnis geäußert, der türkische Staat habe das Recht gegen „Putschisten“ und „Terroristen“ vorzugehen, auch wenn jedem Beobachter klar sein sollte, dass diese Maßnahmen Akte der Repression, Gleichschaltung und Vernichtung gegen alles ist, was sich dem System Erdoğan entgegenstellt. Die KurdInnen in der Türkei können momentan weder auf Unterstützung der europäischen Entscheidungsträger hoffen, noch wird in naher Zukunft eine Umkehrung der diktatorischen Ausrichtung in der Türkei selbst zu erwarten sein. Durch den politischen Ausschluss und die institutionelle Unterdrückung nahezu jeglicher kurdischen Stimme könnte der Konflikt auch in Zukunft auf dem Schlachtfeld ausgetragen werden, so wie in den letzten eineinhalb Jahren.

Quelle: Die Freiheitsliebe… vom 5. Dezember 2016

 

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