Der Sozialismus des 21.Jahrhunderts und seine Perversion
Antonio Moscato*. Es ist schmerzhaft, über die aktuellen Ereignisse in Venezuela mit einer Linken zu diskutieren, die so desorientiert ist wie nie zuvor.
Das alte Argument des «sozialistischen Lagers», das von 1953 bis 1989 jeden Protest großer Bevölkerungsteile (von Berlin bis Budapest, von Pozna? bis Jerewan) mit den «Manövern der CIA und des Imperialismus» erklärte, erlebt eine neue Blüte und erspart jedwede Reflexion über die Eigenverantwortung «progressiver» Regierungen.
Man hinterfragt nicht, warum der US-Imperialismus (der keineswegs zur Vernunft gekommen oder weicher geworden ist) über ein Jahrzehnt lang keine der sogenannten «bolivarischen» Regierungen Lateinamerikas ernsthaft behindern konnte, obwohl er sie oftmals verbal ins Kreuzfeuer nahm. Präsident Obama begann sogar eine Entspannung mit Kuba, wenn auch mit dem Ziel, einen besseren wirtschaftlichen Zugang zur Insel zu bekommen; die USA machten gute Geschäfte mit Brasilien und profitierten vom venezolanischen Öl, bis dahin, dass sie sogar dessen direkte Vermarktung in den USA zuließen.
Viele Linke fragen sich nicht, ob die Rückkehr der USA (noch vor der Ära Trump) zu einer offensiveren imperialistischen Politik nicht vielleicht mit den Schwächen und Widersprüchen des fortschrittlichen Lagers und mit dem Rückgang der Unterstützung für die geschwächten Regierungen in der jeweiligen Bevölkerung zusammenhängen. In Argentinien verlief das Ende der Erfahrungen mit den beiden Kirchners einfach und anfangs fast schmerzfrei, in Brasilien war die Verteidigung von Lula und Dilma auf der Straße sehr schwach, hinzu kam dann das katastrophale Abschneiden von Lulas Partei PT in den Stichwahlen.
Erst nach vielen Monaten kam es in Brasilien zu einem Generalstreik, aber die Aussicht auf eine echte politische Gegenoffensive wurde durch die Beteiligung der PT-Führung an einem großen Bankett, zu dem die transnationalen Konzerne eingeladen hatten, zunichte gemacht. Die ganze korrupte politische Schicht war dazu eingeladen worden.
Die dem Lagerdenken verhaftete Linke begreift die voraussehbare Kehrtwendung der PMDB, die noch korrupter ist als die PT und die Regierungen Lula und Dilma (keineswegs gratis) gestützt hat, als «Staatsstreich». Der US-Imperialismus habe dabei Regie geführt und die parlamentarische Abstimmung manipuliert, die Temer an die Macht gebracht habe.
Dafür gibt es jedoch eine viel einfachere Erklärung: Der Zusammenbruch des Preises für Öl, Soja und andere Exportgüter hat die Margen für gewisse Formen der Korruption des Parteiklientels geschmälert, und das trifft auch die Zuwendungen an die ärmeren Teile der Bevölkerung, die zuvor zufriedengestellt werden konnten, ohne an der Macht der transnationalen Konzerne zu rühren.
Chaos und Gewalt
Der allgemeine Rückgang der Mobilisierungsfähigkeit der «linken» Regierungen ist schon seit längerem zu beobachten. Was dazu in bezug auf Venezuela zu sagen ist, ist ziemlich hart.
Seit anderthalb Monaten scheint Venezuela in einem Chaos zu versinken, das bereits 40 Todesopfer gefordert hat. Diejenigen, die gerne die Augen vor dem Geschehen verschließen wollen, skandalisieren die Tatsache, dass die bürgerliche Opposition einen Toten als den ihren präsentiert hatte, obwohl er ein Unterstützer der Regierung war. Als ob wir nicht alle wüssten, dass es in jedem so harten Konflikt immer Leute gibt, die jedes Ereignis für ihre eigene Propaganda ausschlachten. In Wirklichkeit ist es schwierig, eine politische Krise anhand der Anzahl der Opfer auf beiden Seiten zu beurteilen.
Zunächst ist zu bedenken, dass es in Venezuela unmöglich ist, gegen die Regierung zu demonstrieren, ohne sich zu bewaffnen. Der Protest steht im Zusammenhang mit unbestreitbaren Tatsachen. In der Nationalversammlung gibt es eine antichavistische Zweidrittelmehrheit. Maduro hat die Wahl dreier Abgeordneter in der entlegenen Amazonas-Provinz annullieren lassen und aufgrund dieser Tatsache die Nationalversammlung einfach für illegitim erklärt, anstatt für die drei Abgeordneten Nachwahlen zu organisieren.
Rechtsverstöße
Jede Abstimmung in der Nationalversammlung wurde vom Präsidenten bekämpft und annulliert, nicht einen Augenblick hat er daran gedacht, was die Gründe für die katastrophale Wahlniederlage der Regierungspartei PSUV sein könnten. Diese verdankte sich nicht einer Zunahme der Stimmen für die Oppositionskoalition MUD, sondern weil sich 3 Millionen Chavistas der Stimme enthalten oder ungültig gewählt haben.
Darüber hinaus hat Maduro mit der Amtshilfe der Wahlkommission und des Gerichtshofs, die seinerzeit vom Parlament eingesetzt wurden, als der Chavismo noch über eine Mehrheit verfügte, ein Referendum blockiert, das von der chavistischen Verfassung selbst vorgesehen war. Chávez selbst hatte sich seinerzeit ohne Furcht diesem Referendum unterworfen. Maduro hingegen blockierte es, indem er die Überprüfung von Millionen Unterschriften hinauszögerte, um Fristen verstreichen zu lassen. Gleichzeitig blockierte er auch alle vorgesehenen Kommunalwahlen, und hat sogar versucht, die Nationalversammlung durch den Obersten Gerichtshof zu ersetzen – ein Vorhaben, das mit dem Geist und dem Wortlaut der Verfassung unvereinbar war. Dieser Versuch schlug fehl – jedoch lediglich deshalb, weil die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega, eine Chavista, die von Maduro eingesetzt worden war, es missbilligte. Ersatzweise hat dasselbe Gericht dekretiert, dass Henrique Capriles, bei den letzten beiden Wahlen Listenführer der Opposition MUD, in den nächsten 15 Jahren nicht gewählt werden kann.
Währenddessen wurde die Liste von Marea Socialista, die trotzkistische Organisation, die zu Chávez’ Zeiten Teil der PSUV war, von den Wahlen ausgeschlossen – einfach dadurch, dass monatelang nicht auf ihren Antrag, ins Wahlregister aufgenommen zu werden, reagiert wurde. Der Kommunistischen Partei Venezuelas, die Chávez unterstützt hatte, in der letzten Zeit aber immer kritischer geworden war, wurden unerfüllbare Bedingungen gestellt, damit sie nicht zur Wahl antreten kann (die Präsidentschaftswahlen sollten 2018 stattfinden).
Was in Venezuela passiert, ist also nicht ein «Staatsstreich gegen Maduro», sondern eine offene Verletzung aller demokratischen Normen durch Maduro, darunter auch solcher, die von der chavistischen Verfassung festgelegt worden waren.
Maduros Staatsstreich
Seinen Tiefpunkt erreichte Maduro in den letzten Wochen. Er begünstigt die Korruption und vertraut Firmen, die von «bolivarischen» Militärs und ruchlosen chinesischen Unternehmern geleitet werden die Entwicklung einer Ökonomie an, die auf der Ausbeutung von Ressourcen beruht. Am 1.Mai hat er nun mit großem Tamtam und eigenmächtig die Einberufung einer Konstituierenden Versammlung verkündet.
Offenbar soll diese Versammlung zur Hälfte aus Delegierten bestehen, die von Teilnehmern an den misiones oder den comunes nominiert werden – diese waren eine Idee von Chávez gewesen, die nie wirklich Fuß gefasst hat, sie repräsentieren keinen signifikanten Teil der Bevölkerung. Nur die andere Hälfte soll regulär gewählt werden. Wie wenig er die Verfassung von Chávez respektiert, zeigt sich daran, wie kunterbunt Maduro die Kriterien aufzählt, die für die konstituierende Versammlung gelten sollen. An der konstituierenden Versammlung sollen u.a. teilnehmen: Arbeiter, Musiker, Rentner, Jugendliche, Indigene…). Dann kündigt er an, er werde schon am nächsten Tag das Dekret für diese eigenartigen Wahlen unterzeichnen und gibt live die Zusammensetzung der «Präsidialkommission» für die Konstituierende Versammlung bekannt. Sie soll vom Vizepräsidenten und derzeitigen Erziehungsminister Elías Jaua geleitet werden, flankiert von rund zwanzig Vertretern der ehemaligen Mehrheitspartei PSUV. Diese sollen dem Volk dann die neue Erfindung «erklären», das dem Land Frieden und Wohlstand bringen soll.
Der Zustand der Wirtschaft ist katastrophal, Maduro aber beschränkt sich darauf, einen neuen Mindestlohn anzukündigen (der, wie die vorherigen auch, sofort von der galoppierenden Inflation aufgefressen werden wird), und verspricht eine Preiskontrolle, «wenn das Volk auf die Straße geht».
Die Bolibourgeoisie
Es ist schwierig, den Ausgang dieser Propagandaoperation vorauszusehen. Sie appelliert an die Macht von nichtexistierenden Räten um zu verschleiern, dass Präsident Maduro sich mittlerweile von vielen Weggefährten Chávez’ getrennt hatte, einschließlich einiger Ex-Minister. Das konnte wohl nur deshalb mit Schweigen übergangen werden, weil in der parlamentarischen Mehrheit (die darauf beharrt, sich «Opposition» zu nennen) auch Vertreter der alten venezolanischen Bourgeoisie sitzen, die nur darauf warten, sich die Ölrendite wieder anzueignen.
Dennoch sollte man sich fragen, wie es der Opposition gelingen konnte, die Zustimmung von mehr als der Hälfte des Wahlvolks zu gewinnen, indem sie von der Enttäuschung vieler profitierte, die an einen «Sozialismus des 21.Jahrhunderts» geglaubt hatten. Die chavistische Rhetorik hat die Konsolidierung einer Schicht von «bolivarischen» Neureichen verschleiert, die von keineswegs selbstlosen Militärs gestützt wird. Hinzu kommt die Verbitterung über die Krise der internationalen bolivarischen Allianz (ALBA), die eines der wichtigsten Ergebnisse des Wirkens von Chávez war.
* Aus: http://antoniomoscato.altervista.org
Quelle: Soz Nr. 06/2017… vom 7. Juni 2017
Tags: Breite Parteien, Lateinamerika, Neoliberalismus, Venzuela
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