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Die unerträgliche Lage im Gazastreifen

Eingereicht on 29. April 2017 – 16:44

Hanspeter Gysin. Der völlig abgeriegelte Gazastreifen ist ein Getto, das wegen der Blockade durch die Armee Israels und die kollaborierende ägyptische Militärdiktatur keinerlei Entwicklungsmöglichkeiten hat und sich nicht selbst versorgen kann.

Die Bevölkerung ist enormen psychischen Belastungen ausgesetzt. Die hier lebenden Menschen sind gezwungen, unter Bedingungen zu existieren, die keinerlei Perspektive bieten.

Der Gazastreifen umfasst ein Territorium von 360 km2. Davon sind rund 60 km2 nicht nutzbar, weil sich darauf die israelischen Sperranlagen befinden. Dazu gehören der angrenzende Todesstreifen und die sogenannte Risikozone. Weitgehend unbenutzbar ist auch das zum Teil kontaminierte Land, auf dem bis 2005 jüdische Siedlungen samt Industriezonen standen.[1] Der Todesstreifen, den die israelische Armee als Sicherheitszone bezeichnet, ist mit elektronischen Überwachungssystemen, Videokameras, Wärmebilderfassung, Ultraschalldetektoren, elektromagnetischen und seismischen Sensoren an den Mauern, Zäunen und Wachtürmen ausgerüstet. Jede Person, die erfasst wird, kann von israelischer Seite unter Beschuss genommen werden.

Die Risikozone wird weniger rigoros überwacht, aber auch dort haben in der Vergangenheit zahlreiche Menschen ihr Leben gelassen. Die Bauern getrauen sich deshalb nicht, ihre dortigen Felder zu bebauen, oder tun dies unter Lebensgefahr.[2] Von Bedeutung ist, dass sich gerade in diesem Grenzgebiet die fruchtbarsten Böden finden.[3]  Auf den Satellitenbildern von Google Map kann man sehr gut sehen, dass auf israelischer Seite die unmittelbar an die Sperranlage angrenzenden Felder intensiv landwirtschaftlich genutzt werden – von da stammen unter anderem die Frühkartoffeln, die im Frühling die Regale unserer Supermärkte füllen, oder die im Winter beliebten Erdnüsse.

Neben der beschriebenen Zone entlang der Sperranlage besteht der Gazastreifen an der Mittelmeerküste aus Sanddünen, vom Meer seit Tausenden von Jahren angespült. Innerhalb der verbleibenden 300 km2 leben heute 1,8 bis 2 Millionen Menschen. Gaza ist mit seinen Ortschaften Gaza, Rafah, Khan Younis, Beit Hanoun, Beit Lahya, Deir al-Balah sowie den acht Flüchtlingslagern also faktisch eine Stadt ohne das für die ausreichende Ernährung und wirtschaftliche Entwicklung notwendige Hinterland.

Um einen Vergleich aufzuführen: 300 km2 entsprechen der Fläche des Kantons Schaffhausen (299 km2), in welchem 76´000 Menschen leben, 254 pro km2. In Gaza teilen sich rund 5´000 Menschen einen km2. Gaza kann daher zu Recht als Gefängnis unter offenem Himmel bezeichnet werden.

Infrastruktur

Bei den israelischen Militärinterventionen der letzten Jahre haben israelische Bomben, Raketen und Artilleriegranaten systematisch die Infrastruktur wie etwa das einzige Elektrizitätswerk, Anlagen der Wasserversorgung, Lebensmittellager, Schulen und Krankenhäuser ganz oder teilweise zerstört und dabei Schäden in Milliardenhöhe angerichtet. Gaza ist damit fast vollständig von Energie-, Wasser- und Lebensmittelrationen aus Israel abhängig. UN-Institutionen müssen diese Versorgung vermitteln und mit den Parteien aushandeln. Israel nutzt seine Monopolstellung als Besatzungsmacht aus und verrechnet diese Güter zu überhöhten Preisen. Die sechs Grundwasserbrunnen Gazas sind entweder wegen Überausbeutung ausgetrocknet oder enthalten Salzwasser, welches vom Meer her eindringt.[4] Der einzige, meist unsichtbar unterirdisch fließende Wasserlauf, der Gaza durchquert, das Wadi Gaza, wird auf israelischer Seite genutzt und verschmutzt. Die Abwässer der israelischen Siedlungen und Landwirtschaftsbetriebe um den Gazastreifen herum werden rücksichtslos in dieses spärlich fließende Wadi abgelassen. Bei schweren Regenfällen im Winter (wie etwa 2016/17), wenn das Wasser an die Oberfläche dringt, werden die angrenzenden Wohngebiete von Schmutzwasser überflutet. Das Klären der letztlich ins angrenzende Meer mündenden Abwässer ist unmöglich, weil die notwendigen Einrichtungen fehlen oder funktionsuntüchtig sind.

Diese Situation führt unvermeidlich zu gesundheitlichen Problemen und schädigt zudem die Küstenfischerei. Ohne freie Flächen erstickt die Gegend im Müll, der nirgendwohin gebracht werden kann. Eine hygienische und effiziente Abfallentsorgung ist unter den gegebenen Umständen unmöglich, obwohl gerade die Zerstörungen der letzten Jahre Müll im Umfang von mehreren Millionen Tonnen hinterlassen haben. Auch dadurch steigt die Gefahr von Krankheiten. Zur gesundheitlichen Belastung hinzu kommt die Verseuchung mehrerer Gebiete durch israelische Uranmunition, Überreste von Phosphorbomben, durch Bomben entstandene krebserregende Chlorbestandteile, Dioxine und andere Gifte, denen nichts entgegengesetzt werden kann.

Wegen der eingeschränkten und immer wieder ausbleibenden Elektrizitätsversorgung stinkt Gaza zudem nach den Abgasen unzähliger benzinbetriebener Generatoren, mit denen verzweifelt versucht wird, wenigstens Spitäler in Betrieb zu halten. Die anhaltende Blockade verunmöglicht es, Materialien für den Wiederaufbau nach Gaza zu bringen. Zudem zementiert die durch die UNO vermittelte Regelung für den Wiederaufbau die israelische Kontrolle über den Gazastreifen und dessen anhaltende Blockade.[5]

Die Versorgungslage

Gezielt hat die israelische Armee bei ihren Bombardements neben der Infrastruktur auch Zuchtbetriebe für Geflügel und Schafherden vernichtet. Die für kurze Zeit bestehenden Versorgungstunnels an der Grenze zu Ägypten hat die dortige, von massiver Unterstützung der USA abhängige Militärdiktatur[6] in Absprache mit Israel unterdessen wieder zerstört. Die Fischerei als Nahrungsquelle kollabiert nach und nach, nicht nur wegen Überfischung der begrenzt zugänglichen Zone, sondern weil israelische Kanonenboote die Fischer selbst in unmittelbarer Küstennähe immer wieder beschießen. In der Folge sind die Preise für Nahrungsmittel, insbesondere Fleisch, massiv gestiegen. So müssen in Gaza annähernd zwei Drittel der Haushaltseinkommen für die unmittelbare Lebensmittelversorgung aufgebracht werden. Kommt dazu: Konservierungsmöglichkeiten durch Kühlung fehlen infolge unzuverlässiger Elektrizitätsversorgung weitgehend. Was auch zur Versorgung gehört: Einige wenige, die Möglichkeiten finden, den Gazastreifen zu verlassen, namentlich besser gebildete Menschen wie LehrerInnen und WissenschaftlerInnen, verlassen den Ort. Schulen und Universitäten leiden unter Lehrermangel, was zwangsläufig zu Einbrüchen im Bildungssektor führt. Von besonderem Zynismus ist: Um sicherzustellen, dass ein gewisses Maß an Unterversorgung aufrechterhalten wird, und ganz offensichtlich mit dem Ziel, Rivalitäten um Lebensmittel in der Bevölkerung zu schüren, haben die israelischen Behörden einen minimalen täglichen Bedarf von rund 2´300 Kilokalorien für die BewohnerInnen Gazas festgelegt und begrenzen die Lieferung von Nahrungsmitteln entsprechend. Ein israelischer Regierungsberater hat das mit den Worten ausgedrückt, die Menschen würden auf diese Weise „auf Diät“ gehalten.[7] Die Folgen sind unter anderem Blutarmut, Kraftlosigkeit, erhöhte Anfälligkeit für Krankheiten und Lernblockaden, namentlich bei Kindern.

Totale Überwachung

Im Unterschied zu anderen Stadtbevölkerungen, die das schreckliche Schicksal kriegerischer Auseinandersetzungen ertragen müssen, gibt es im abgeriegelten Gaza keinerlei Fluchtmöglichkeiten, auch keine sicheren Schutzräume. Dafür verfügt Israel über eine satelliten- und drohnengestützte präzise Kartierung des Gazastreifens[8] mit einer Genauigkeit von weniger als einem Meter. Jedes Haus und jeder Hinterhof sind von dieser Totalüberwachung erfasst. Die Feinerkundung übernehmen angeheuerte Informanten, die unter anderem in israelischen Gefängnissen rekrutiert werden. Die Bedrohungslage ist folglich zu jedem Zeitpunkt spürbar und auch hörbar, wenn die Überwachungsdrohnen am Himmel ihre Kreise ziehen. Umso tödlicher und von unvorstellbarer Brutalität sind die wiederholten Überfälle der israelischen Armee auf die eingeschlossene Bevölkerung. Und umso größer die psychische Belastung der BewohnerInnen. Besonders Kinder leiden unter Traumata, Belastungsstörungen, Angstzuständen und Depressionen. Psychosomatische Beschwerden wie Krämpfe, Herzrasen und chronische Schmerzen sind weit verbreitet, es kommt zu Beziehungsblockaden, Apathie, Essstörungen, Aggressivität bis zu Psychosen. Symptome, deren Einfluss auf die Kinder noch dadurch verstärkt wird, dass sie ihre Eltern als verzweifelt und hilflos erleben.

Die zerstörerischen Folgen der israelischen Überfälle und die militärische Blockade machen den Gazastreifen nicht nur zu einem großen Freiluftgefängnis, sie machen das Leben unerträglich.

Die Verantwortung

Die israelische Militärmaschinerie hat im Zug der wiederholten Militärschläge der vergangenen Jahrzehnte Hunderte Millionen Dollar an Werten in Form von Bauten, Nahrungsmittellagern, Ausrüstungsgütern etc. zerstört. Damit ist Israel für die katastrophalen Zustände und die psychische Verfassung der BewohnerInnen verantwortlich. Interessant ist jedoch, wie wenige Regierungen (darunter die Schweiz) und UNO-Gremien, welche die Gelder für die vernichteten Werte ursprünglich gesprochen hatten, gegen diese Zerstörungen protestieren. Noch nie hat es Rückforderungen gegenüber Israel gegeben. Zudem wird jegliche Ware, ob Nahrung, Wasser oder Betriebsstoffe (Öl, Benzin, Gas, Elektrizität) für die Besatzungszonen bei der Einfuhr von Israel besteuert und mit allerhand Gebühren (für Lagerung, Transport, Registrierungen, Kontrollen etc.) belegt, sodass nur ein Teil der von Hilfswerken zur Verfügung gestellten Gelder die notleidende Bevölkerung erreicht.[9]

Von Sanktionen gegenüber Israel war dennoch nie die Rede. Israel wird so nicht nur aus der gemäß internationalem Recht bestehenden Verantwortung entlassen, für die Bevölkerung unter Besatzung zu sorgen, sondern kann außerdem von der internationalen Überlebenshilfe für die PalästinenserInnen finanziell profitieren. Damit finanziert die sogenannte internationale Gemeinschaft, ob gewollt oder nicht, die Besatzung mit und steht folglich in der Mitverantwortung.

Quelle: Sonderausgabe Palästina-Info April 2017…

[1] Dies zeigt eine umfangreiche Untersuchung des UN-Umweltprogramms (UNEP, ISBN 92807-2697-8). Die jüdischen Siedlungen im Gazastreifen wurden bei ihrer Räumung von Israel systematisch verwüstet. Die Wohnhäuser wurden abgerissen, Treibhäuser mit ihren modernen Bewässerungssystemen, Dünge- und Heizanlagen zum größten Teil unbrauchbar gemacht, Industrieanlagen demontiert und teilweise giftiger Müll hinterlassen. Probleme sind auch der hinterlassene Asbest und andere Baustoffe, die eigentlich Sondermüll wären, für die jedoch an Ort keinerlei Entsorgungsmöglichkeit besteht. Die UNEP weist in ihrem Bericht darauf hin, dass „gemäß Angaben der israelischen Regierung“ mehr als 400 Tonnen asbesthaltiger Abfall, wie von der UN-Behörde gefordert, abtransportiert worden sei.

[2] Die israelische NGO B’tselem (www.btselem.org) belegt in zahlreichen Dokumenten die Beschießung von ZivilistInnen in dieser sogenannten „No-go-Area“.

[3] Rund 48–55 Prozent des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens im Gazastreifen liegt in dieser Pufferzone (vgl. Sara Roy, The Gaza Strip, 2016, Vorwort).

[4] Die Weltbank, der sicher keine besondere Sympathie für die PalästinenserInnen nachgesagt werden kann, stellt eine „alarmierende Wassersituation in Gaza“ fest (siehe bit.ly/2fEyfvT). Selbst Senatsmitglieder der US-Demokraten wie Jim McDermott und Kate Gould bezeichnen die Wasserkrise Gazas als tickende Zeitbombe (siehe time.com/4301139/gaza-water-crisis/).

[5] Siehe die Kritik am sogenannten Gaza-Wiederaufbau-Mechanismus: UN database for Gaza aid may give Israel targets to attack – secret memo, Electronic Intifada https://electronicintifada.net/blogs/aliabunimah/un-database-gaza-aid-may-give-israeltargets-attack-secret-memo, bit.ly/1OkbxTz

[6] Die ägyptische Militärdiktatur erhält jährlich um die 1,5 Milliarden Dollar Militär- und Wirtschaftshilfe von den USA (halb so viel wie Israel), ohne die eine Besänftigung der notleidenden Bevölkerung kaum möglich wäre, und es fließt auch wieder Erdgas aus ägyptischen Lagern nach Israel.

[7] Siehe Jonathan Cook, Israel’s starvation diet for Gaza, Electronic Intifada, Oktober 2012 (bit.ly/22yA3oB). Für einen wenig aktiven Mann wird üblicherweise von einem Bedarf von 3´200, für eine wenig aktive Frau von 2´800 Kilokalorien pro Tag ausgegangen. Der Bedarf erhöht sich bei körperlicher Aktivität um rund 300–400 Kilokalorien. Die durchschnittliche Kalorienaufnahme in westlichen Industrieländern liegt bei etwa 4´000 Kilokalorien pro Tag.

[8] Ofek-1 bis -7 heißen die israelischen Spionagesatelliten, wobei zu bemerken ist, dass Ofek-6 2004 beim Start abgestürzt ist.

[9] Gisha, Quotes by Israeli security and political figures about the connection between reconstruction in Gaza and Israel’s interests (bit.ly/2lx7GgF)

 

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