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Gianni Frizzo: Ein Schweizer Arbeiterführer bilanziert

Eingereicht on 18. November 2016 – 16:32

Am Samstag, den 22. Oktober 2016, fand in der Pitturia der Officine in Bellinzona das Abschiedsfest für Gianni Frizzo statt, der nach 34 Jahren Arbeit bei den SBB Werkstätten in Pension ging. Ein denkwürdiger Ort,

denn hier fanden im Frühjahr 2008 und danach die regelmässigen Vollversammlungen der Arbeiterinnen, Arbeiter und der Öffentlichkeit statt, als in den Officine der seit eh und je erfolgreichste Arbeitskampf der Schweiz stattfand. Gianni Frizzo war der scharfsichtige Führer der Streikbewegung. Mittlerweile allerdings scheint das Gewonnene unter dem andauernden Druck der SBB, der Komplizenschaft der politischen Behörden, der Gleichgültigkeit der Gewerkschaftsführungen und der Erschöpfung der Betroffenen hinwegzuschmelzen. (Wir berichteten)

Das folgende Interview mit Gianni Frizzo wurde in der Oktoberausgabe der Zeitung Solidarietà  publiziert. Die Übersetzung aus dem Italienischen erfolgte durch die Redaktion maulwuerfe.ch.

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Du hast einen grossen Teil deines Lebens damit zugebracht, für die Rechte der Lohnabhängigen zu kämpfen, der Klasse, der du angehörst. Du kannst also aus deiner Erfahrung eine Bilanz ziehen, wie sich dieser Kampf über 34 Jahre verändert hat, gerade in der Schweiz, die sich durch eine ausserordentliche politische und soziale Stabilität auszeichnet Was kannst du uns darüber sagen?

Von meiner bescheidenen Warte aus und stark vereinfacht möchte ich festhalten, dass die wirklichen Protagonisten des Wandels über die vergangenen Jahrzehnte, der Revolution in der Arbeitswelt, die Unternehmer und die Träger der neoliberalen Politik gewesen sind – und dies weiterhin sind. Sie haben, alles in allem, vor allem der Arbeiterklasse und den unteren und mittleren Schichten schweren Schaden zugefügt; sie waren dabei fleissig auf ihre Mission bedacht, die sozialen, politischen und gewerkschaftlichen Errungenschaften zu zerschlagen. Sie haben somit einen aktiven Klassenkampf geführt! Sie beschleunigten das Tempo ihres Angriffs fortwährend, während diejenigen, die zur Verteidigung unserer Errungenschaften da wären – die Gewerkschaften usw. – , abgesehen von einigen Ausnahmen, unter immer stärkeren Druck gerieten, kurzen Atem hatten, einen lahmen Schritt einnahmen und in einem hemmenden Pragmatismus verharrten. Sie sind keineswegs auf der Höhe ihrer – oder besser: unserer –  Gegner; diese werden immer frecher und fügen uns immer schmerzhaftere Verluste zu!

Deshalb sieht die Bilanz in den Augen derjenigen, die wirklich die Interessen der Lohnabhängigen verteidigen, sehr düster aus!

Jeder der unfähig ist, ein Minimum von Selbstkritik zu entwickeln und eher die Bilanz schönt und eine Politik des geringeren Übels verfolgt – sich damit also über alle hinwegsetzt, die schmerzhafte Niederlagen einstecken mussten -, behauptet auch weiterhin, dass es ausschliesslich den Weg des kleineren Übels gäbe. In anderen Worten, wenn es nach denen ginge, sollten wir zufrieden sein und denken, dass es uns nach allem noch gut gegangen sei, und wir beispielsweise immerhin noch eine Arbeit hätten.

Während deiner Tätigkeit hast du den Niedergang der Rolle der Gewerkschaften erlebt, des Willens (und der Möglichkeit) ihrer Führungen, gegen die neoliberale Politik der Unternehmer, die sich über die vergangenen Jahrzehnte entwickelt hat, einen Widerstand aufzubauen. Wie hast du diese Entwicklung der Gewerkschaften als Aktivist der Arbeiterbewegung erlebt?

Das Wichtigste habe ich bereits gesagt. Dem möchte ich noch beifügen, dass für die Schaffung eines Widerstandes, der die Konfrontation mit den Unternehmern aufnehmen kann, der über entsprechende Waffen verfügt, wäre es vor allem anderen notwendig gewesen und ist es weiterhin notwendig, all die Mechanismen des Druckes und der Erpressung zu beseitigen, über die die Unternehmer verfügen, um den Lohnabhängigen Angst, Ungewissheit usw. einzuflössen; sie blockieren damit jede Handlungsmöglichkeit, die autonom von der Basis, von den Arbeiterinnen und Arbeitern ausgeht.

Stattdessen bleibt den Lohnabhängigen letztendlich nichts anderes übrig, als ihre Anliegen an die Gewerkschaftsbürokratie zu delegieren. Sich also auf diejenigen abzustützen, die aller meistens über Fragen entscheiden, über die eigentlich die Arbeiterinnen und Arbeiter entscheiden müssten. Eine Situation – man denke etwa an die Officine –, die die Aufgabe der Firmenleitung nur noch mehr erleichtert; sie hat es nun mit Gesprächspartnern zu tun – mit der Gewerkschaftsführung -, die aus einzelnen Personen besteht, die ideologisch zuordenbar, pragmatisch ist und sich auf derselben hierarchischen Ebene befindet, weit entfernt von der Alltagswirklichkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter. Es fehlt nun das entscheidende Element, das man im Zusammenhang mit dem Streik von 2008 erlebt hat: die vorwärtsdrängende, kollektive Selbstorganisation, die Kraft der gemeinsamen Entscheidungen, die in den Versammlungen beschlossen wurden, der Geist der Improvisation (wo aus den Gewohnheiten ausgebrochen wurde), wo man sich als Teilnehmerin und deshalb als Vorkämpfer der eigenen Entscheidungen, im Guten wie im Schlechten, wahrnimmt. Somit ohne Wenn und Aber bis zur Erreichung der gemeinsamen vereinbarten Ziele voranschreitet!

Die Erfahrung des Kampfes der Officine ist sicher ein Wendepunkt in deinem Leben gewesen. Dieser hat in einem gewissen Sinne eine nun vor zwei Jahrzehnten begonnene Arbeit gekrönt, die durch Niederlagen und Teilsiege gezeichnet war. Denkst du, dass die Erfahrungen des Kampfes in den Officine auch heute für die künftigen Kämpfe nützlich sein können? Welches waren die wichtigen Punkte in den Kampferfahrungen, die weiterhin einen, sagen wir, allgemeinen Charakter haben und die sich in vielen anderen Kämpfen wiederfinden, vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen?

Mindestens müssten alle – selbst die Kritischsten – damit einverstanden sein, dass der Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter der Officine gezeigt hat, dass es möglich ist, sich erfolgreich den Restrukturierungsplänen der Unternehmer zu widersetzen. Der Streik erwies sich als sehr demokratisches Instrument zur Verhinderung der Umsetzung der üblen Absichten der Unternehmer, die zerstörerische gesellschaftliche Folgen hätten. Wie in deiner Frage dargelegt, ging der Widerstand dann aus den Officine hervor; vor über zwanzig Jahren hat sich ein Kern von Arbeitern gebildet, der getragen war von einem klaren, und ich wage zu sagen: mutigen, kritischen Geist gestützt war, sowohl was die Absichten der Unternehmer als auch diejenigen der Berufsgewerkschaften angeht. Es war eine andauernde und geduldige Arbeit, gezeichnet auch von manchen Enttäuschungen und Niederlagen – ein Preis, den diejenigen leider zu zahlen haben, die gegen den Strom schwimmen wollen; diese sind eine Folge von Gutgläubigkeit und dem Festhalten an nicht verhandelbaren Grundsätzen, wie die Gewerkschaftsrechte und vor allem die Würde der Arbeiterinnen und Arbeiter.

Die letzte Frage würde ich mit Ja beantworten! Mit einigen Anpassungen an die spezifischen Umstände würde ich bescheidener Weise annehmen, dass es mehr als möglich, ja nötig wäre, diese Kampferfahrungen wiederaufzunehmen und sie deshalb zu verallgemeinern. Dies nicht lediglich wegen der Wichtigkeit der erzielten Erfolge, sondern vor allem wegen der Frage, wie es möglich war, diese zu erzielen. Es ging beim Kampf in den Officine um eine kohärente Verwirklichung einer Gewerkschaftspolitik, die allen konkreten Erfahrungen Rechnung trägt, mit allen Stärken und Schwächen, wo die Beteiligten in erster Linie die Arbeiterinnen und Arbeiter waren; dieser Kampf hatte zudem die Fähigkeit, die Öffentlichkeit anzustecken und konnte somit die Sensibilität der Bevölkerung und der Institutionen einer ganzen Region und darüber hinaus nutzen. Ein Kampf, der meiner Ansicht nach deshalb mehr Aufmerksamkeit, Vertiefung und Achtung seitens derjenigen nötig hätte, die sich als «Vorkämpfer» der Verteidigung der Lohnabhängigen ausgeben.

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