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«Erfolgsmodell Schweiz»: Soziale Schere öffnet sich immer weiter

Eingereicht on 22. Juni 2017 – 9:45

Marianne Arens. Wie in den meisten Ländern Europas und weltweit klafft auch in der „reichen“ Schweiz die soziale Schere immer weiter auseinander. Seit der Frankenkrise 2015 sind sowohl die Armut, als auch die Managerlöhne stark gestiegen.

Die Managergehälter wuchsen im letzten Jahr zehnmal stärker als die Löhne der abhängig Beschäftigten. Das hat eine Studie ergeben, die die Gewerkschaft Unia am Dienstag (20. Juni) den Medien vorstellte. Die Studie untersucht jährlich die Lohn- und Gehaltsstruktur von vierzig großen Schweizer Unternehmen. Ihr zufolge wuchsen die Vorstandsgehälter im letzten Jahr um 7 Prozent oder fast zehn Millionen Franken, während die Effektivlöhne der Arbeitnehmer nur um gerade einmal 0,7 Prozent, ein Zehntel davon, zunahmen.

In der Schweiz gab es vor vier Jahren mehrere Abstimmungen, um die „Abzockerei“ und die soziale Ungleichheit einzuschränken. Die 1:12-Initiative, die nur knapp scheiterte, hatte vorgeschlagen, dass der höchstbezahlte Lohn in einem Unternehmen nicht mehr als das Zwölffache des niedrigsten Lohns im selben Betrieb betragen solle. Seither hat sich die Lohnschere weiter geöffnet, und das Verhältnis zwischen dem niedrigsten und den höchsten Lohn innerhalb einer Firma beträgt heute tatsächlich 1:165 (im Vorjahr: 1:150).

Die Vorstandschefs werden offenbar besonders belohnt, wenn sie Druck auf die Beschäftigten ausüben. In mehreren Industriefirmen (Schindler, Sulzer, Georg Fischer) erhielten die CEO Gehaltserhöhungen und Millionen-schwere Extraboni, nachdem sie Arbeitsplätze gestrichen oder den Belegschaften monatelange unbezahlte Mehrarbeit aufgenötigt hatten. Bei Georg Fischer mussten die Arbeiter 2015 elf Monate lang wöchentlich vier Stunden zusätzlich arbeiten und erhielten dafür eine einmalige Prämie von 1000 Franken, aber keine Lohnerhöhung. Ihr Vorstandschef Yves Serra erhielt dagegen sowohl 2015 als auch 2016 pro Jahr fast 3 Millionen Franken.

„In Europa verdient niemand mehr als die Schweizer CEOs“, schrieb Der Bund am 13. Juni 2017. Im vergangenen Jahr seien demnach vier der zehn meistverdienenden Firmenchefs Europas die CEOs der Schweizer Unternehmen Roche, UBS, Novartis und Nestlé gewesen. Die Zeitung stützt sich auf eine Untersuchung der Unternehmensberatung HKP über die 70 größten Unternehmen Europas.

Die zwei reichsten der zehn einkommensstärksten CEOs waren demnach Roche-Chef Severin Schwan mit 13,24 Millionen Euro und UBS-Chef Sergio P. Ermotti mit 12,29 Millionen Euro. Der Bund merkt an, dass unter den 20 größten Schweizer Konzernen im Leitindex SMI nur ein einziger Konzernchef zu finden sei, dessen Lohn inklusive Boni weniger als 2 Millionen Franken beträgt.

Laut Unia-Studie hatte Severin Schwan im Jahr davor 266mal so viel verdient wie die geringsten Lohnempfänger bei Roche, und bei UBS-Chef Ermotti war es 264mal so viel. Das bedeutet, dass die am schlechtesten bezahlten Mitarbeiter dieser Firmen und Banken auch in zwanzig Jahren nicht so viel verdienen können wie ihre obersten Chefs in einem Monat.

Die soziale Polarisierung hat in den letzten zwei Jahren stark zugenommen. Im Januar 2015 gab die Nationalbank den Wechselkurs frei, worauf der Kurs des Schweizer Frankens in die Höhe schoss. Unternehmer und öffentliche Arbeitgeber holten zu einem Rundumschlag gegen die Arbeiterklasse aus. Jeder vierte Betrieb nahm die Frankenaufwertung zum Anlass, Arbeitsplätze abzubauen oder Löhne zu senken, und in der Schweizer Industrie wurden rund 13.000 Stellen abgebaut, während die Verbraucherpreise stiegen.

Zwar ist die Arbeitslosigkeit im europäischen Vergleich immer noch relativ niedrig (4,5 Prozent nach ILO, 3,5 Prozent nach Schweizer Definition), sie steigt aber schon seit 2012 stetig an. Auch ändert sich der Charakter der Beschäftigungsverhältnisse. Es gibt immer mehr befristete und Projekt-bezogene Jobs und prekäre Stellen über Zeitarbeits-Firmen. Dadurch verschlechtert sich die Lage der Arbeiterklasse, und die soziale Ungleichheit nimmt auch in der Schweiz ständig zu.

Im Jahr 2015 waren offiziell 7 Prozent der Bevölkerung, das sind rund 570.000 Personen, von Einkommensarmut betroffen. Das teilte das Departement des Innern am 15. Mai 2017 mit. Diese Zahlen berücksichtigen noch nicht die jüngste soziale Polarisierung seit der Frankenaufwertung. Doch auch laut dieser Studie über die Einkommen und Lebensbedingungen (SILC) des Bundesamtes für Statistik (BFS) ist die Armutsquote schon 2015 im Vergleich zum Vorjahr (6,6 Prozent) deutlich angestiegen.

Von Armut betroffen sind besonders Familien von Arbeitslosen und Alleinerziehenden, aber auch alleinlebende Senioren über 65 Jahren. 1,1 Millionen Menschen sind offiziell „armutsgefährdet“ – das heißt, sie könnten unerwartete Schläge und Ausgaben nicht verkraften. Auch Menschen, die heute noch Arbeit haben, sind zunehmend von Armut betroffen. 238.000 absolut Arme lebten 2015 in einem Haushalt mit mindestens einer erwerbstätigen Person.

Wer seine Stelle verloren hat, gerät leicht in eine regelrechte Abwärtsspirale. Das Arbeitslosengeld, das sich nach Alter und Beschäftigungszeit richtet, läuft oft schon nach weniger als einem Jahr, im Höchstfall nach etwa 520 Tagen aus. Es wird als Taggeld ausbezahlt und schwankt je nach Anzahl Arbeitstagen pro Monat zwischen 20 und 23 (im Mittel 21,7) Tagsätzen. Dadurch ergeben sich deutliche Unterschiede, z.B. wenn man im März mit dem Arbeitslosengeld vom Februar 31 Tage lang auskommen muss.

Wer ausgesteuert wird, fällt in die Sozialhilfe. Das betraf vor zwei Jahren 260.000 Menschen. In diese Situation geraten auch viele Rentner, deren AHV (Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung) zum Überleben nicht reicht. Sie müssen bei der Sozialkasse Ergänzungsleistungen beantragen und sämtliche Kontoauszüge, Versicherungen und Mietverträge etc. offenlegen. Das Sozialamt entscheidet dann, was bezahlt wird und was nicht. Wer in einer Wohnung lebt, die als zu teuer gilt, wird zum Umzug in eine billigere Wohnung aufgefordert, die dann wesentlich kleiner, oft heruntergekommen und abgelegen ist. Finanzieren muss man den Umzug selbst.

Die Sozialhilfeempfänger werden auch als billige Arbeitskräfte missbraucht. Die Wochenzeitung berichtet über den Fall einer alleinerziehenden Mutter dreier Kinder, die nebenbei als Verkäuferin arbeitet und dafür gerademal 100 Franken zur Sozialhilfe hinzubekommt. Die Frau, die früher im öffentlichen Dienst beschäftigt war, arbeitet bereits seit drei Jahren ohne Bezahlung. Sie kann sich aber nicht weigern, denn sonst droht das Sozialamt mit Streichung der Sozialhilfe und sogar Entzug der Kinder. „Ich komme aus diesem System nicht mehr heraus“, wird die Frau zitiert.

Das Niveau der Sozialhilfe ist von Kanton zu Kanton und selbst von Kommune zu Kommune unterschiedlich geregelt. Während in den letzten 15 Jahren fast alle Kantone die Steuern für die Reichen gesenkt haben, um kapitalkräftige Steuerzahler anzulocken, werden die Sozialleistungen, wie auch die Bildungsausgaben, immer weiter beschnitten. Daran beteiligen sich nicht nur Politiker der rechtspopulistischen SVP von Christoph Blocher, sondern alle Parteien, die den Schweizer Kapitalismus verteidigen, darunter allen voran die Grünen und die SP.

Zum Beispiel ist der Regierungsrat im Kanton Bern, dem zwei Sozialdemokraten und ein Grüner angehören, gerade dabei, den Grundbedarf an Sozialhilfe um zehn Prozent abzusenken. Junge Erwachsene und geduldete Flüchtlinge sollen sogar 15 Prozent weniger bekommen. Der Kanton Schaffhausen hat letztes Jahr die Beiträge für junge Erwachsene um 23 Prozent auf 755 Franken im Monat gekürzt. Der Bund und mehrere Kantone haben beschlossen, die Verbilligung der hohen Krankenkassenprämien für sozial Schwache zu kürzen oder abzuschaffen. In Luzern hat der Kantonsrat dem Lehrpersonal eine Woche Zwangsferien ohne Lohnausgleich verordnet. In Zürich kürzt der Regierungsrat die Gelder für die Sonderschulen und Musikschulen, beschneidet die Löhne im öffentlichen Dienst und streicht die Sozialhilfe für nicht anerkannte Flüchtlinge.

Quelle: wsws.org… vom 22. Juni 1017

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