Hunderttausende in 18 brasilianischen Bundesstaaten im Streik, Proteste im ganzen Land
Labournet.de. In 18 der 27 Bundesstaaten Brasiliens beteiligten sich an diesem 30. Juni 2017 Hunderttausende Beschäftigte an „Streiks für demokratische Rechte“, wie der ursprünglich beschlossene Generalstreik kurzfristig umbenannt worden war. Eine gründliche Bilanzierung ist nötig, wenn dann also in einem Drittel aller Bundesstaaten gar kein Streik stattfand, und in den zwei Dritteln, in denen gestreikt wurde, sich Hunderttausende beteiligten: Beim Generalstreik am 28. April, also zwei Monate vorher, waren es viele Millionen gewesen, die gestreikt hatten. Dennoch waren auch an diesem Tag quer durchs Land Menschen auf den Straßen, die Widerstand leisten wollen gegen die antisozialen Reformen einer nur von den Unternehmerverbänden gewählten Regierung, die ihren Auftrag mit allen Mitteln erfüllen soll, notfalls eben auch mit ihrem Ersatz durch andere Gruppierungen, die dieselbe Zielsetzung verfolgen. Wie sich die Perspektiven des Widerstands in diesen zwei Monaten seit dem Generalstreik Ende April verändert haben – und wie sie sich vermutlich durch die Entwicklung an diesem 30. Juni weiterhin verändern werden – ist Gegenstand der kleinen Materialsammlung „Warum der Generalstreik „entschwunden“ ist“ vom 02. Juli 2017:
„Warum der Generalstreik „entschwunden ist“
„Milhares se mobilizam no dia da Greve por Direitos em todo o país“ am 01. Juli 2017 bei Brasil de Fato ist ein Überblick über die Ereignisse des 30. Juni, von dem einleitend geschrieben wird, es sei ein Tag der Proteste gewesen, die von den beiden Fronten Brasil Popular (im Wesentlichen ein leicht erweiterter Zusammenschluss der PT“ Familie)“und Povo Sem Medo („Volk ohne Angst“ von der KP Brasiliens und einer Reihe weiterer linkerer Gruppierungen) organisiert worden seien. Beim Überblick über die Demonstrationen, die den Schwerpunkt dieser Berichterstattung darstellen, wird unter anderem informiert, dass in Sao Paulo 40.000 Menschen beteiligt waren (was deutlich unter den Zahlen für den 28. April liegt, als es im gesamten Großraum auch noch mehrere Demonstrationen gegeben hatte).
„Minuto a minuto: a Greve Geral em todas as regiões do Brasil“ am 30. Juni 2017 beim Gewerkschaftsbund CUT war die Tageschronologie der Aktivitäten am 30. Juni, die trotz der Überschrift Generalstreik vor allem – versehen mit zahlreichen Fotos – von den Demonstrationen in vielen Städten quer durchs Land berichtet. Dabei wird schon deutlich, dass es eher in den „traditionellen Zentren“ gewerkschaftlicher Aktivität eher mäßig sich entwickelte, was die Teilnahme betrifft, während in kleineren Städten diverser Bundesstaaten recht massiv mobilisiert werden konnte.
„30 de junho: paralisações e protestos em todo país demonstram insatisfação e que é possível uma grande Greve Geral para derrotar Temer e as reformas“ am 30. Juni 2017 beim Gewerkschaftsbund CSP Conlutas ist der Tagesüberblick des linken Gewerkschaftsbundes, inklusive einer interaktiven Karte der Streiks an diesem Tag. Und obwohl diese Karte deutlich macht, dass es durchaus viele streikende Belegschaften gab, ist die Überschrift des Berichtes eindeutig: Der Tag habe mit Streiks und Protesten gezeigt, dass die herrschende Unzufriedenheit so groß sei, dass es durchaus möglich sei, einen großen Generalstreik erfolgreich zu organisieren. Dem ist hinzuzufügen, dass die beiden linken Verbände Conlutas und Intersindical überall, wo sie die Merheit haben, Vollversammlungen organisiert hatten, in denen Streikbeschlüsse zur Entscheidung anstanden, die zumeist – nicht immer – auch gefasst wurden.
„Greve Geral: Bloqueios em ruas e rodovias contra as Reforma Trabalhista e Previdenciária, pelo Fora Temer e Diretas Já“ am 30. Juni 2017 beim Gewerkschaftsbund Intersindical ist ein unvollständiger Überblick über die Streiks an diesem Tag verbunden mit einer Berichterstattung, die die zahlreichen Straßenblockaden im ganzen Land zum Zentrum hat.
„Químicos realizam atos e paralisações em empresas na 2ª Greve Geral“ ebenfalls am 30. Juni 2017 bei der Intersindical ist ein gesonderter Bericht über die Streiks in der Chemiebranche an diesem Tag, der insofern von besonderer Bedeutung ist, als die Chemiebeschäftigten nicht nur der Intersindical-Gewerkschaften diejenigen der Industriegewerkschaften waren, die die meisten Streikbeschlüsse umsetzten, zusammen mit den Ölarbeitern, während etwa die großen Metallgewerkschaften aller Verbände sich nicht an Streiks beteiligten.
„Riot cops repress workers picket at bus garage door in #PortoAlegre“ am 30. Juni 2017 bei Personal Escrito (Twitterkanal) ist einer der – sehr vielen – Berichte über Polizeieinsätze gegen Streiks und Kundgebungen, hier an der zentralen Garage der Busunternehmen von Porto Alegre.
„Metroviários não vão parar mas participarão das manifestações de 30/6“ am 29. Juni 2017 bei der Gewerkschaft der Metrobeschäftigten von Sao Paulo ist die Mitteilung der Gewerkschaft, dass die Metro von Sao Paulo – entgegen aller Erwartungen – am 30. Juni nicht bestreikt werde. Hintergrund dieses Beschlusses, den von der dezidiert linken Gewerkschaft nicht viele erwartet hatten, ist die Tatsache, dass die Transportgewerkschaften anderer Verbände – etwa die größte, die der Busfahrer von Sao Paulo, die der UGT angeschlossen ist – sich geweigert hatten, Streikbeschlüsse zu fassen. Da galt auch für die Eisenbahner der Zugstrecken im Großraum der Stadt und weitere Busfahrergewerkschaften aus dem Großraum. Die entsprechenden Gewerkschaften gehören meist den beiden Verbänden FS und UGT an, die von Beginn an deutlich gemacht haben, dass sie lieber mit der Regierung verhandeln wollen, als „schon wieder“ zu streiken. In dieser Situation war die Metrobelegschaft schwankend, ob sie „alleine auf weiter Flur“ streiken sollte – und die oppositionellen Strömungen, die es auch hier natürlich gibt, in diesem Fall meist die sozialpartnerschaftlichen Strömungen, nützten diese Situation zu heftiger Polemik gegen „politische Streiks“ aus.
„Não foi uma greve histórica por responsabilidade das direções das centrais sindicais“ von Fernando Pardal am 30. Juni 2017 bei Esquerda Diario ist ein sehr kritischer Beitrag zur Haltung der großen Gewerkschaftsverbände, die darauf hingearbeitet hätten, den ursprünglich gemeinsam beschlossenen Generalstreik zu unterbinden. Insbesondere werden der zweitgrößte Verband Forca Sindical und der drittgrößte UGT kritisiert, für ihre Verhandlungen mit der Regierung (zusammen mit einem dritten Verband) kritisiert, die sie nach dem gemeinsamen Generalstreikbeschluss ohne Absprache mit anderen Verbänden geführt haben, um die „Reformen“ mit zu gestalten…
„Primeiras reflexões sobre o Dia Nacional de Greves e Paralisações“ am 30. Juni 2017 bei Esquerda Online ist ein Beitrag, der darauf beharrt, dass trotz dieses eindeutigen Rückschlages, wie der Tag (nicht nur) hier bewertet wird, die Perspektiven für einen Erfolg der Massenbewegung gegen die antisozialen Reformen dieser Regierung und gegen die Regierung selbst nach wie vor gut seien – aber sehr stark davon abhängen, wie sich die großen Verbände weiterhin verhalten – auch etwa CUT und CTB, die nichts unternommen hätten, den Beschluss zum Generalstreik gegen Sabotage zu verteidigen, obwohl es die Möglichkeit dazu gegeben habe, da es sowohl bei FS als auch bei der UGT selbst von Außen deutlich sichtbare Opposition der Basis gegen die Kurs dieser Verbände auf Zusammenarbeit mit der Regierung gegeben habe.
- Siehe dazu zuletzt: „[30. Juni 2017] Generalstreik in Brasilien: Die Messlatte liegt sehr hoch – der Generalstreik vom 28. April“ am 30. Juni 2017 im LabourNet Germany inklusive Verweis auf frühere Berichte
Quelle: labournet.de… vom 3. Juli 2017
Tags: Arbeiterbewegung, Brasilien, Gewerkschaften, Lateinamerika, Neoliberalismus, Widerstand
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