Ungleichheit wächst: 40 Prozent verdienen weniger als vor 20 Jahren
Marianne Arens. In Deutschland verdienen vierzig Prozent der Beschäftigten weniger als vor zwanzig Jahren. Das geht aus einem Papier des Bundesarbeitsministeriums hervor, das diese Woche an die Öffentlichkeit gelangte.
Danach waren die realen Bruttostundenlöhne der „unteren 40 Prozent“ im Jahr 2015 bis zu 7 Prozent niedriger als 1995, während die Löhne der „oberen 60 Prozent“ Zuwächse bis zu 10 Prozent verzeichneten. Die Schere bei den Löhnen ging also deutlich auseinander.
Noch krasser ist der Unterschied bei den Haushaltsnettoeinkommen. Haushalte mit niedrigen Einkommen erlitten zwischen 1991 und 2014 reale Einkommenseinbußen von 5 bis 10 Prozent. Haushalte mit hohen Einkommen erzielten dagegen reale Einkommenszuwächse von über 25 Prozent.
Die Lohnungleichheit hat „bis zum Jahr 2010 deutlich zugenommen und verharrt seither auf einem historisch hohen Niveau“, heißt es in dem Papier. Während „Gutverdiener und Kapitalbesitzer deutliche Einkommenszuwächse verbuchen“, haben die Löhne der Geringverdiener in den letzten zwanzig Jahren abgenommen.
Insgesamt sind die Stundenlöhne, gemessen an ihrer Kaufkraft, in der Zeit zwischen 1996 und 2007 gleichgeblieben, obwohl sich die Arbeitsproduktivität im gleichen Zeitraum um 20 Prozent erhöht hat. Profitiert haben ausschließlich Unternehmer und Kapitalbesitzer.
Die wachsende Lohnungleichheit ist verbunden mit einer massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors. Verdienten Mitte der 1990er Jahre noch etwa 16 Prozent der Beschäftigten weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns, liegt dieser Anteil seit dem Jahr 2006 ziemlich konstant bei etwa 22 Prozent. Das bedeutet, dass über ein Fünftel aller Beschäftigten für weniger als 10 Euro in der Stunde arbeiten.
Die Daten bestätigen, was die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) in ihrem Wahlkampf tagtäglich vor Ort erfährt. Immer wieder berichten Betroffene über die miserablen Arbeitsbedingungen bei Paketdiensten und Onlinehändlern wie Amazon oder Zalando, in Call-Centern, in Flughäfen oder am Bau. Zeitarbeiter erzählen über prekäre Arbeitsverhältnisse und Niedriglöhne. Studierende klagen über den Stress, dem sie durch das ständige, schlecht bezahlte Jobben neben dem Studium ausgesetzt sind. Ganz zu schweigen von den Rentnern, Arbeitslosen und Alleinerziehenden, die tagtäglich kämpfen müssen, um über die Runden zu kommen.
[…] Das Papier aus dem Wirtschaftsministerium, das von der SPD-Politikerin Brigitte Zypries geführt wird, ist ein verheerendes Urteil über ihre eigene Partei. Während der vergangenen 19 Jahre war die SPD 14 Jahre lang Mitglied der Bundesregierung. Sieben Jahre lang stellte sie den Bundeskanzler. Während der gesamten 14 Jahre war sie für das Arbeitsministerium verantwortlich. Alle Gesetze, die zur Senkung der Löhne, zur Erhöhung des Rentenalters und zur Herausbildung eines riesigen Niedriglohnsektors geführt haben, tragen ihre Unterschrift.
Vor allem die Agenda 2010 von SPD-Kanzler Gehard Schröder hat dafür gesorgt, dass Arbeiterinnen und Arbeiter zu immer schlechteren und entwürdigenderen Bedingungen arbeiten müssen, um nicht in der Hartz-IV-Falle zu enden. Gleichzeitig hat die Regierung Schröder mit einer umfassenden Steuerreform die hohen Einkommen und Vermögen entlastet und so zur massiven Umverteilung von unten nach oben beigetragen.
Dabei untertreibt das Papier des Wirtschaftsministeriums die Lage noch. Selbst das Finanzblatt Financial Times, das nicht gerade als Freund der Armen gilt, hat unter der Überschrift „Die verborgene Spaltung in Europas reichstem Land“ über die große „Ungleichheit zwischen Arm und Reich“ berichtet, die für viele Deutsche ein Problem darstelle und eine Schlüsselfrage im Bundestagswahlkampf sei.
Beim Haushalteinkommen liege die Ungleichheit in Deutschland nahe dem EU-Durchschnitt, schreibt die FT. „Aber beim Vermögen ist Deutschland wesentlich ungleicher als ihre Partner in der EU. Die reicheren Haushalte kontrollieren einen größeren Vermögensanteil als in den meisten anderen westeuropäischen Staaten. Die ärmsten 40 Prozent der Deutschen haben so gut wie kein Vermögen, nicht einmal Sparguthaben.“
Auch bei Bildung und Gesundheit, so die FT, gebe es „eine tiefe Spaltung zwischen Reich und Arm, die in Deutschland größer ist als der EU-Durchschnitt“.
Für die FT steht außer Frage, dass der Rückgang der Arbeitslosen- und der Anstieg der Beschäftigtenzahlen lediglich die Kehrseite einer „Erhöhung der ‚Mini‘-Jobs, kaum regulierter Teilzeitstellen, von 4,1 Millionen im Jahr 2002 auf 7,5 Millionen in diesem Jahr“ ist. Während Befürworter die neuen Jobchancen lobten, kritisierten Gegner, die Mini-Jobs hätten Vollzeitarbeitsplätze verdrängt und sich als „Sackgasse“ für Arbeiter erwiesen, schreibt die FT.
Der SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz sei sich des Problems bewusst, umgehe die Frage aber sorgfältig. Sein Wahlversprechen zum Thema Ungleichheit beschränke sich darauf, „die Steuern für gut Bezahlte zu erhöhen um Steuersenkungen für mittlere und untere Einkommen zu finanzieren“.
Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries versucht nun, Schulz etwas unter die Arme zu greifen. Ihr Ministerium hat „ein Zehn-Punkte-Plan für inklusives Wachstum“ veröffentlicht, der das Problem der wachsenden sozialen Ungleichheit zumindest anspricht. „Der wirtschaftliche Erfolg spiegelt sich in der Lebenswirklichkeit zahlreicher Menschen nicht wider“, heißt es am Anfang.
Was dann kommt, ist allerdings eine Fortsetzung von Schröders Agenda-Politik. Kein Hartz-Gesetz wird zurückgenommen. Stattdessen wirbt das Papier für Wirtschaftsförderung, flexible Arbeitszeiten, Freihandel und ein „wachstumsförderndes“ Steuersystem.
Nach zwei Jahrzehnten Erfahrung glaubt der SPD ohnehin niemand mehr, wenn sie in Wahlreden und auf Wahlplakaten mehr „soziale Gerechtigkeit“ verspricht. Das – und ihr Eintreten für Law-and-Order und Militarismus – ist der Grund, weshalb Schulz trotz hektischer Bemühungen nicht aus dem Umfragetief herauskommt.
Die SPD ist eine rechte, kapitalistische Partei, die der herrschenden Klasse beweisen will, dass sie ihre Interessen nach innen und außen besser vertreten kann, als die anderen Parteien. Wer gegen soziale Ungleichheit, Diktatur und Krieg kämpfen will, muss eine andere, sozialistische Partei aufbauen.
[…] Eine solche Partei kämpft für eine Gesellschaft, in der die Bedürfnisse der Menschen höher stehen als die Profitinteressen der Wirtschaft. Dazu müssen die großen Vermögen, die Banken und die Konzerne enteignet und unter demokratische Kontrolle gestellt werden. Nur so können die sozialen Rechte aller gesichert werden.
Quelle: wsws.org…> vom 25. August 2017 mit kleinen Änderungen durch Redaktion maulwuerfe.ch
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitswelt, Deutschland, Imperialismus, Neoliberalismus, Strategie, Widerstand
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