Zehn Sekunden: So lange existierte die Katalanische Republik von Puigdemont
Hovhannes Gevorkian. Mit großer Spannung war die Rede des katalanischen Präsidenten Carles Puigdemont erwartet worden. In der ersten Sitzung des Parlamentes nach dem Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Oktober betonte er zwar, „Das Ja hat gewonnen“ und „Das ist der Weg, den ich beschreiten werde“. Doch nur Sekunden später suspendierte er die Erklärung der Unabhängigkeit.
Obwohl nach Puigdemont die Lage Kataloniens „in den letzten Jahren immer schlimmer geworden“ sei, machte er in seiner Rede einen verräterischen Rückzieher. Entgegen dem klaren Ergebnis des Referendums vom 1. Oktober, wo über 90 Prozent mit Ja gestimmt hatten, erklärte er nicht die Unabhängigkeit. Es ist in erster Linie eine Verschiebung der Unabhängigkeitserklärung, die ein faules Manöver darstellt: Mit der Aussetzung des Unabhängigkeitsprozesses und dem Angebot zum Dialog mit dem 78er Regime will er Zeit gewinnen, um die aufgebrachten Massen zu beruhigen und vor allem auf den institutionellen Weg zurückzubringen.
Denn spätestens seit dem Generalstreik am 3. Oktober begannen diese, unter der Führung der Arbeiter*innenklasse immer mehr die Eigeninitiative zu ergreifen. Das Einknicken Puigdemonts stellt eine Kapitulation gegenüber dem 78er Regime dar, denn dieses hat sich bis zum heutigen Tage nicht einen Millimeter in seiner kompromisslosen Haltung auf Barcelona zubewegt. Immer wieder bekräftigte die konservative Regierung um Mariano Rajoy, dass sie keine Vermittlung akzeptieren werde. Der Druck vergrößerte sich in den letzten Tagen: Aus dem ganzen Spanischen Staat wurde am Sonntag nach Barcelona mobilisiert, um für die „Einheit” des Zentralstaates zu demonstrieren.
Aufgeschoben…
… ist nicht aufgehoben? Die Parlamentssitzung fand mit einer Stunde Verspätung statt, weil es vorher Diskrepanzen mit der CUP gab, die eine deutlich radikalere Erklärung haben wollten. Doch obwohl Puigdemont seine Rede mit zahllosen Anklagen gegenüber Madrid begann – er zählte auf, dass „seit dem Tode Francisco Francos niemand mehr zur Demokratie beigetragen habe als Katalonien”, und benannte die Festnahmen vom 20. September –, konnte er letztlich nichts weiter tun, als vor Madrid auf die Knie zu fallen. Immer wieder kam er auf den friedlichen Charakter der Unabhängigkeitsbewegung zu sprechen; immer wieder betonte er den Wunsch, innerhalb der pro-imperialistischen Institutionen wie der EU oder der UN die Selbstbestimmung Kataloniens durchzusetzen. Doch diese verweigerten jedes Mal eine Vermittlungsrolle und stellten sich auf die Seite der Zentralregierung.
In diesem „außerordentlichen Moment von historischer Dimension” konnte er den Arbeiter*innen und Jugendlichen jedoch nicht mehr bieten als die Suspendierung der Unabhängigkeitsprozesses. Damit legte er einmal mehr den Beweis dar, dass nur unter der Führung der Arbeiter*innenklasse mit den Methoden Klassenkampfes das Selbstbestimmungsrecht der katalanischen Nation durchgesetzt werden kann. Ja, diese unterdrückte Nation hat das „Recht verdient, einen unabhängigen Staat“ zu haben, wie es auch Puigdemont feststellte. Doch dieses Recht kann nur mit einem unversöhnlichen Bruch gegenüber dem reaktionären 78er Regime durchgesetzt werden.
Das Regime in Madrid zeigte nicht zuletzt durch den schonungslosen Polizeieinsatz beim Referendum, dass es eine kompromisslose Linie in der nationalen Frage fährt. Es ist das Erbe des Franquismus, und es ist eine Illusion – wie die kleinbürgerliche Führung um Puigdemont – zu glauben, auf dem pazifistisch-institutionellen Wege sei ein unabhängiges Katalonien zu erreichen. Diese Illusion ist mit dem heutigen Verrat von Puigdemont auf dem Friedhof der Geschichte gelandet. Es ist nun an der Zeit, dass unsere Klasse das Heft in die Hand nimmt und in Einheit mit der gesamten Arbeiter*innenklasse des Spanischen Staates für das Selbstbestimmungsrecht Kataloniens kämpft.
In den letzten Tagen wurde Puigdemont nicht zuletzt von Pablo Casado, stellvertretender Sekretär für Kommunikation des Partido Popular, mit Lluís Companys verglichen. Companys hatte am 6. Oktober 1934 die „eigenständige katalanische Republik“ ausgerufen. Am nächsten Tag erfolgte die Niederschlagung der katalanischen Republik mit rund 80 Todesopfern. Companys wurde verhaftet und saß die nächsten zwei Jahre in Haft.
Die katalanische Republik von Companys existierte zehn Stunden – Puigdemonts Republik existierte nur zehn Sekunden. Tränen und Wut waren nach dem Verrat von Puigdemont vor dem Parlament zu sehen, wo sich tausende Menschen versammelt hatten, um die Parlamentssitzung zu verfolgen.
Salvador Lou, Mitglied der Revolutionären Arbeiter*innenströmung (CRT), wertet die Ereignisse aus:
Heute hat sich gezeigt, dass das Referendum vom 1. Oktober nicht von der Regierungspartei PdeCAT, der traditionellen Partei der katalanischen Bourgeoisie, verteidigt wird. Sie wollen nicht mit dem Regime von ’78 brechen, sie wollen sich nicht mit der Großbourgeoisie anlegen, die einen Wirtschaftskrieg gegen das Recht auf Selbstbestimmung der Katalan*innen eröffnet haben.
Das Ergebnis des Referendums kann nur durchgesetzt werden, wenn die Arbeiter*innen, die Jugend und die Frauen die Führung des demokratischen Kampfes für die Unabhängigkeit Kataloniens übernehmen. Wenn die Komitees in Fabriken, Stadtteilen, Schulen und Unis müssen ausgeweitet werden. Wenn sie den Generalstreik proklamieren. Wenn wir die Unternehmen besetzen, die jetzt Katalonien verlassen wollen. Und wenn wir jetzt kämpfen, um einen freien und souveränen verfassungsgebenden Prozess zu eröffnen, um ein unabhängiges Katalonien zu schaffen. Ein Katalonien, das uns Arbeiter*innen, Jugendlichen und Frauen gehört und nicht den Kapitalist*innen.
Quelle: klassegegenklasse.org… vom 11. Oktober 2017
Tags: Arbeiterbewegung, Neue Rechte, Spanien
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