Der berufsgruppenübergreifenden Protesttag am 19. April in Frankreich
Bernard Schmid. Teilnahme am ersten berufsgruppenübergreifenden Protesttag (19. April): durchwachsen – Die CGT-Eisenbahner überlegt, nun andere Saiten aufzuziehen und das bisherige Korsett des Streikkalenders zu durchbrechen – Bahngewerkschaften brechen Gespräche mit der Transportministerin ab und verlangen, eine Etage höher empfangen zu werden – Die CGT im Energiesektor droht mit gezielten Stromsperren – Mobilisierungsversuch auch in den Pariser Nahverkehrsbetrieben (RATP); doch am gestrigen Tag ohne spürbare Auswirkungen auf den Verkehr – Studierendenprotest: Examina in Nanterre mussten verschoben werden, Fakultät von Tolbiac wurde am Freitag früh geräumt – Nächste berufsgruppenübergreifende Termine: 1. Mai und Samstag, der 05. Mai – Unterdessen sorgt die CFDT sich vor allem um Eines: dass der Transportstreik nur ja nicht ihren anstehenden Gewerkschaftstag beeinträchtigt…
Es war eine gute Sache an und für sich, doch der Erfolg ist im Augenblick durchwachsen. Am gestrigen 19. April fand der erste berufsgruppenübergreifende gewerkschaftliche „Aktionstag“ (journée d’action interprofessionnelle) statt, der die derzeit laufenden Arbeitskämpfe – seit dem 03. April bei der Bahngesellschaft SNCF, seit mehreren Wochen im Rhythmus von je zwei aufeinanderfolgenden Streiktagen bei Air France – sowie die Proteste in den öffentlichen Diensten (nächster Streiktag: 22.05.18) und an den Universitäten überwölben und bündeln soll.
Zu ihm hatte die Spitze des Dachverbands im März d.J. die Initiative ergriffen. Nachdem Letztere einseitig zu dem Datum aufrief, ohne vorherige Gespräche mit anderen Organisationen, nutzten die rechts von der CGT stehenden Dachverbände (CFDT und FO u.a.) dies als Argument, um sich fein herauszuhalten. Seinerseits protestierte der linksalternative Gewerkschaftszusammenschluss Solidaires (oder Union syndicale Solidaires) gegen das Vorgehen des Dachverbands CGT, schloss sich jedoch dann dem Aufruf zur Mobilisierung am gestrigen Donnerstag an.
Und so fanden in 130 französische Städten Versammlungen und Demonstrationen statt, allerdings jedoch i.d.R. ohne Aufrufe zum Streik außerhalb der Teilnahme an den Straßendemonstrationen. Als Veranstalter/innen traten auf frankreichweiter Ebene die CGT und Solidaires auf; in der Hauptstadt Paris schlossen sich auch kleinere Abordnungen aus den Reihen des – politisch heterogenen – Dachverbands FO sowie die Eisenbahnersektion des Gewerkschaftszusammenschlusses UNSA (vordergründig „unpolitisch“, durch die bürgerlichen Medien als „moderat“ gehandelt) zusätzlich an. Voraus gingen Abordnungen von Studierenden aus den derzeit im Protest gegen die künftige Einschränkung des Hochschulzugangs befindlichen Universitäten.
Auf frankreichreichweiter Ebene betrug die Spannbreite der Teilnehmer/innen/zahlen, je nach Angaben (CGT oder Innenministerium usw. lieferten sich die üblichen Zahlenklaubereien), zwischen 119.000 und 300.000; vgl. etwa: actu.orange.fr…
In der Hauptstadt Paris, wo die Demonstration um 14 Uhr am Montparnasse-Bahnhof losging, zählte die Polizei 11.500 Teilnehmer/innen, und ein unabhängiges Medienkollektiv – das die Zahlenangaben gegen den Behauptungen beider Seiten (Staatsmacht und Gewerkschaftsführungen), die i.d.R. unter- respektive übertrieben sind, zu objektivieren versucht, gab ihre Zahl mit 15.300 an. (Vgl. dazu eine AFP-Meldung: lefigaro.fr…) Zur Teilnahme speziell in Paris hatte die CGT-Führung am frühen Donnerstagabend zunächst keine eigenen Zahlen publiziert. Inzwischen wurde seitens der CGT die, übertriebene, Anzahl von 50.000 bezogen auf Paris genannt.
Diese Zahlen sind für berufsgruppenübergreifende soziale Protestmobilisierungen in Frankreich eher unterdurchschnittlich. Ähnlich wie bereits im Frühjahr und Frühsommer 2016 im Protest gegen das damals geplante „Arbeitsgesetz“ (in Kraft getreten am 08.08.2016) ist zu beobachten, dass die aktive Teilnahme am Protest gegen frühere soziale Bewegungen der Jahre 1995, 2003, 2006, 2010 zahlenmäßig zurückbleibt – dass es jedoch einen größeren „radikalen Kern“ gibt. Ähnlich wie im Frühjahr und Frühsommer 2016 formierte sich auch am gestrigen Tag in Paris ein mehrhundertköpfiger „Kopfblock“ (cortège de tête), welcher der offiziellen Demonstrationsspitze vorausging. In ihm befanden sich – oft mit Atemschutzmasken oder Schutzbrillen gegen Tränengas ausgestattet – auch viele zornige jüngere Gewerkschafter/innen, etwa aus dem öffentlichen Gesundheitswesen. Unter den Anwesenden befanden sich auch mehrere Hundert Vermummte.
Diese sind sicherlich nicht alle über einen Kamm zu scheren, was ihre Motivation und ihre Aktionsformen betrifft. Ein Teil von ihnen (Agents provocateurs?, adrenalinbesoffene Jungerwachsene?, Hooligans?) legt auch ausgesprochen problematische Aktionsweisen an den Tag, die wiederum für ein mitunter hochaggressives Agieren der Polizei den Anlass, Grund oder auch Vorwand liefern. Dazu zählte am gestrigen Nachmittag auch das Entglasen (unter den Augen des Autors dieser Zeilen) eines kleineren Restaurants und einer Bushaltestelle, neben Zeitarbeits-Agenturen und Werbetafeln. Ein Versuch von Vermummten, ein Luxushotel (Marriott) in Mitleidenschaft zu ziehen – vgl. in der bürgerlichen Presse dazu u.a. huffingtonpost.fr…– führte zu einem ausgesprochen rabiaten Polizeieinsatz, wobei die Gewalt anfänglich nicht immer und allein von deren Einsatzkräften ausging, wie der Verf. als Augenzeuge mitteilen kann. Bei dem daraus resultierenden Prügel- und Granateneinsatz wurden auch sechs Studierende von der Pariser Hochschule Jussieu (Universität Paris-6 und 7) im universitären Protestzug durch Granateneinsatz verletzt.
Die o.g. angegebenen Zahlenangaben erscheinen insgesamt realistisch. Das Vorbeiziehen des Protestzugs an einem festen Punkt (Einbiegung vom boulevard Saint-Jacques in die rue de la Tombe-Issoire) dauerte eine starke halbe Stunde, wobei der Boulevard ziemlich breit ausfiel. Gut 75 Prozent des Pariser Demonstrationszugs bestand aus den traditionell mobilisierbaren Kerntruppen der CGT, nach Bezirksverbänden aufgereiht, darunter viele öffentlich Bedienstete, aber auch „harte Kerne“ aus der Privatindustrie, insbesondere Renault aus dem nördlichen Pariser Umland. Daneben konnte etwa auch das bei der CGT organisierte Personal in Banken und Versicherungen mobilisiert werden. (Vgl. auch natixis.reference-syndicale.fr…) Eine optische und akustische Attraktion (aber auch eine Belastung für das Trommelfell mit Zughupen und Megaböllern…) bildeten die Eisenbahner, die zahlreicher aus den Reihen der Solidaires-Mitgliedsgewerkschaft SUD Rail als aus denen der CGT erschienen waren. In den anderen Städten müsste man jeweils die genauere Zusammensetzung der Protestzüge analysieren.
Noch weiter klaffen die Zahlenangaben beider Seiten für Marseille auseinander, was in der Mittelmeermetropole allerdings bereits Tradition hat. Hier spricht die CGT von „65.000“ und die Polizei von „5.700“ Demonstrierenden, die Zahlenangaben klaffen also um mehr als einen Faktor Eins zu Zehn auseinander (grrr)… – Vgl. linternaute.com…Bislang stellt sich die Streikstrategie bei der französischen Eisenbahn aus Sicht jedenfalls mancher Kräfte, unter ihnen SUD Rail, eher als Hemmschuh heraus. Zwischen dem 03. und 04. April und dem 27.-28. Juni wurden insgesamt 36 Streiktage vorab festgelegt, wobei jeweils auf zwei bestreikte Tage eine Wiederaufnahme der Arbeit/des Verkehrs für je fünf Tage folgt. Radikalere Kräfte betrachten dies als Hindernis für eine Dynamik, die sich aus einer unbefristeten Streikdynamik heraus entwickeln könnte. Über ein wirkliches Patentrezept verfügt jedoch niemand, da das Risiko, dass die öffentliche Meinung im negativen Sinne kippt und dass der Arbeitskampf unpopulär wird, wesentlich höher erscheint als etwa beim mittlerweile „historischen“ Bahnstreik von November und Dezember 1995 (als die Streiks stets durch eine deutliche Mehrheit der französischen Bevölkerung unterstützt wurden). Bislang gaben die Mehrheitsgewerkschaften CGT / CFDT / UNSA bei der Bahngesellschaft SNCF an, mit ihrer Streikstrategie die Hoffnung zu verknüpfen, die öffentliche Meinung zu schonen – und eventuell parallel eine berufsgruppenübergreifende Protestdynamik Raum greifen zu lassen.
Die speziellen Sorgen der CFDT-führung
Allerdings scheint der Dachverband CFDT (an der Spitze rechtssozialdemokratisch) sich längst auf ein „Herunterkommen“ vom Streik vorzubereiten. Ein tief blicken lassender Artikel zum Verhalten von dessen Generalsekretär Laurent Berger erschien dazu am vorgestrigen Mittwoch, den 18. April 18 in der Wochenzeitung Le Canard enchaîné (nicht online) auf Seite Drei. Demnach wollte Laurent Berger bereits zur Beendigung des Streiks pfeifen, doch innerhalb der CFDT signalisierte ihm die Eisenbahnersektion, dass noch ein paar Zugeständnisse der Regierung über die bisherigen hinaus leicht zu erzielen seien, wenn man noch ein bisschen den Druck aufrechterhalte. Das bisherige Zugeständnis der Regierung an die CFDT lautet, dass bei der Öffnung des Schienenverkehrs (Güter plus Personentransport) für private Anbieter – diese soll vollständig bis 2023 erfolgen – Letztere einen Kollektivvertrag aufweisen (also nach deutscher Terminologie „tarifgebunden“ sein) müssen. Nur dann, so die Regierungsposition, sei ein Betriebsübergang mit eventueller Übernahme bisherigen SNCF-Personals durch private Transportfirmen denkbar. Anscheinend wollte CFDT-Generalsekretär Berger es dabei bewenden lassen, die Eisenbahner-Branchengewerkschaft der CFDT jedoch noch etwas mehr herausholen.
Laurent Berger seinerseits macht sich demselben Artikel zufolge allerdings vor allem mit anderen Sorgen einen Kopf/ Am 04. Juni dieses Jahres wird in Rennes der nächste Kongress (dt. „Gewerkschaftstag“) des Dachverbands CFDT eröffnet. Es wäre peinlich, meint Generalsekretär Berger demnach, falls die Anreise der geladenen – auch internationalen – Gäste dann durch den Transportstreik beeinträchtigt oder verzögert würde. Sprich, bis dahin soll dann vielleicht Schluss mit lustig sein..
CGT bei der Eisenbahn und im Transportsektor
Umgekehrt drohte die Eisenbahnersektion der CGT inzwischen – bisher zumindest verbal – damit, sie könnte auch über den bisherigen Streikkalender mit seinen 36, vorher einzeln angemeldeten Streiktagen hinausdenken. Auch ein Aufruf zum Eintritt in einen, dieses Mal nicht von vornherein befristeten Arbeitskampf sei demnach denkbar. Vgl. linternaute.com… (Eintrag vom 17. April d.J.) Bislang blieb es allerdings bei der Ankündigung.
Im Energiesektor droht die CGT, die dort vom gestrigen 19. April bis Ende Juni Arbeitsniederlegungen – zu spezifischen Forderungen in ihrem Sektor, wie die Einrichtung eines öffentlichen Diensts für Energie – angekündigt hat, damit, gezielte Stromsperren an. Solche trafen bei Arbeitskämpfen in der Vergangenheit etwa politische Institutionen, jedenfalls kurzfristig; dieses Mal steht auch im Raum, Unternehmen, die Massenkündigungen aussprechen wie derzeit die Supermarktkette Carrefour (2.600 Arbeitsplätze sollen dort futsch gehen), zeitweilig den Saft abzudrehen. Auch an die Belieferung von Haushalten zum günstigeren Nachtarif, wie dies bei vorangegangenen Arbeitskämpfen (2004 gegen die Privatisierung des Stromversorgers EDF, 2010 gegen die „Rentenreform“ unter Nicolas Sarkozy..) der Fall war, wird gedacht. Vgl. dazu als Widerhall in bürgerlichen Medien bspw. rmc.bfmtv.com… oder lefigaro.fr…sowie in Interviewform: sudradio.fr… Beim Pariser Buslinien-, Métro- und RER- (dt. ungefähr S-Bahn-)Betreiber RATP wurde am gestrigen Donnerstag, den 19. April ebenfalls zu einer Personalversammlung im Rahmen des berufsgruppenübergreifenden Aktionstags aufgerufen. Auch zum Streik wurde, durch die CGT bei der RATP, seit dem Vorabend aufgerufen. (Vgl. etwa paris.demosphere.eu…) Allerdings blieb der Verkehr innerstädtisch in Paris am Donnerstag weitestgehend normal, jedenfalls auf den Métro-Linien. Auf einigen Buslinien scheint er leicht beeinträchtigt gewesen zu sein. Die RER-Linien, die PARis durchqueren (entspricht im Deutschen ungefähr S-Bahn-Linien) und zum Teil durch die RATP und jenseits der Stadtgrenzen zum Teil durch die Eisenbahngesellschaft SNCF betrieben werden, sind ohnehin durch den Streik beim Bahnunternehmen berührt.
Studierende
Der Studierendenprotest gegen die drohenden Einschränkungen beim Hochschulzugang ab 2018/19 mit dem Gesetz ORE (vgl. zuletzt unseren Bericht bei Labournet vom Montag, den 16.04.18) bleibt ebenfalls dynamisch, jedoch von starken örtlichen Ungleichzeitigkeiten geprägt. Zusätzlich fingen nun seit dem vergangenen Wochenende des 14./15. April in einem Teil des Pariser Raums vierzehntägige Hochschulferien an, während umgekehrt etwa in Nanterre – westlich von Paris – just diese Woche bereits die Examensphase beginnen sollte. In den letzten Jahren hat sich die Tendenz, dass die Universitäten (seit einem Gesetz Nicolas Sarkozys aus dem Jahr 2007 verwaltungsrechtlich „autonom“ gestellt) ihren je eigenen Studienjahres- und Prüfungskalender festlegen und eine starke Uneinheitlichkeit herrscht, verstärkt.
In Nanterre mussten jedoch infolge von Protesten und Blockaden seit Montag, dem 16. April die für diese Woche geplanten Jahresabschlussprüfungen – zunächst auf unbestimmte Zeit – verschoben werden. (Vgl. auch etwa die AFP-Meldung dazu: lefigaro.fr…) Am gestrigen Donnerstag beschloss eine studentische Vollversammlung mit rund 1.500 Teilnehmenden eine Fortführung der Hochschulblockade bis zum 02. Mai dieses Jahres. (Vgl. lefigaro.fr…)
Hingegen wurde die sozialwissenschaftliche Fakultät von Tolbiac im südlich gelegenen 13. Pariser Bezirk – eine Dependance der Sorbonne, ihr Hauptgebäude liegt im historischen Zentrum von Paris – an diesem Freitagvormittag, 20. April nun doch polizeilich geräumt. Ein vorheriger Räumungsversuch hatte zwar dem Hauptgebäude der Sorbonne gegolten, war in Tolbiac jedoch gescheitert (vgl. unseren Beitrag im Labournet vom Montag, den 16. April 18)/ Dieses Mal hat die Räumung jedoch stattgefunden und war mit erheblicher Gewalt verbunden. Vier Studierende mussten mit ihren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. (Vgl. npa2009.org…; und in bürgerlichen Medien zur Räumung: francebleu.fr…)
Am Freitag für 12 Uhr wurde jedoch auf breiten Kanälen über die „sozialen Medien“ zu einer Protestversammlung rund um die geräumten Gebäude aufgerufen. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses war dazu leider noch nichts Näheres auszusagen. Wir werden unsere Leser/innen/schaft jedoch in nächster Bälde dazu unterrichtet halten.
Ansonsten zeichnet sich ab, dass neben den diesjährigen 1. Mai-Demonstrationen vor allem der Sonnabend, 05. Mai von entscheidender Bedeutung für den Fortgang der Protestdynamik haben wird. Zu diesem Datum wird seit einem Treffen im Pariser Gewerkschaftshaus am Abend des 04. April d.J. (wir berichteten mehrfach) zu einer berufsgruppenübergreifenden Mobilisierung aufgerufen. Diese steht unter dem Namen Une fête pour Macron! Dies bedeutet zwar wörtlich so viel wie „Eine Party pour Emmanuel Macron“, doch lebt von der sprachlichen Doppeldeutigkeit: Ce sera la fête à xy… bedeutet nämlich vom Sinn her auch: „Na, XY wird was erleben!“ Es lässt sich also auch, vergröbernd, mit „Ein blaues Wunder für Macron“ übersetzen. Oder vielleicht ein rotes, wenigstens ein rötliches Wunder…? Warten wir es vorläufig noch ab!
Quelle: labournet.de… vom 20. April 2018
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitskämpfe, Arbeitswelt, Frankreich, Neoliberalismus, Widerstand
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