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Französischer Eisenbahnerstreik wird fortgesetzt

Eingereicht on 6. April 2018 – 13:47

Bernard Schmid. Gewerkschaften zeigen sich empört über Regierungshaltung am Donnerstag, 05. April – Streik wird fortgesetzt – Vier weitere Streiktage wurden bei Air France angesetzt – Linksautoritärer Politiker Jean-Luc Mélenchon wurde aus einer Pariser Streikdemonstration hinausgeworfen – Initiative für eine Zentraldemo der Sozialproteste am 05. Mai 18 macht auf sich aufmerksam.

Ohne Einigung, ja ohne jeglichen Kompromissvorschlag seitens der Regierung trennten sich die Verhandlungsparteien (Regierung und Gewerkschaften bei der Bahngesellschaft SNCF) an diesem Donnerstag, den 05. April 18. Die Gewerkschaften zeigten sich empört über eine „Verhandlungsparodie“ (vgl. actu.orange.fr…), bei welcher die Regierung nicht einmal in Ansätzen verhandlungsfähige Vorschläge auf den Tisch gelegt habe.

Die Regierung setzt darauf, die öffentliche Meinung werde sich gegen die Streikenden kehren. In bürgerlichen Medien werden ständig die immerselben Begriffe wie journée noire dans les transports („Schwarzer Tag in den Verkehrsmitteln“), pagaille („Saustall, Chaos“) oder auch colère des usages („Wut der Nutzer/innen“) wiedergekäut – Googeln genügt, um sich über das Ausmaß dieser Propaganda ein Bild zu machen. Einige besonders spektakuläre Beispiele von Nutzerverhalten in – aufgrund des Streiks erwartungsgemäß mit wartenden Passagieren überfüllten – Bahnhöfen wurden besonders durch die Medien respektive Nachrichtenportale gehyped. Dazu zählt der unglückliche Zwischenfall, bei dem eine Frau an der Gare de Lyon (einem der Pariser Bahnhöfe) auf die Geleise fiel – vgl. actu.orange.fr… oder sudouest.fr… – sowie jene Szene, in deren Verlauf Passagiere über die Fenster statt durch die überlaufenen Türen in einen Pariser RER (in Deutschland wäre es eine S-Bahn) einstiegen. (Vgl. bfmtv.com… und challenges.fr…) Neben dem in Ansätzen begreiflichen Unmut von Nutzer/inne/n öffentlicher Verkehrsmittel kommt in konkreten Einzelfällen hinzu, dass sich manche Individuen wie Tiere benehmen und schlicht nicht versuchen, für die Beweggründe der Streikenden ihrerseits Verständnis aufzubringen.

Im Internet wurde inzwischen ein Video zum Hit, in welchem eine junge US-Amerikanerin ihr (vermutlich ehrliches) Unverständnis für die Transportstreiks in Frankreich zum Ausdruck bringt. (Vgl. francetvinfo.fr…)

Prompt werden auch erste Umfragen veröffentlicht, denen zufolge eine Mehrheit der befragten Französinnen und Franzosen den Arbeitskampf bei der SNCF für „ungerechtfertigt“ erklärt; vgl. francetvinfo.fr…

In der soeben zitierten Umfrage sind es laut dem durchführenden demoskopischen Institut 57 Prozent der Befragten, welche dem Streik ablehnend gegenüberstünden. Allerdings ist bereits die Fragestellung unehrlich: So, wie die Frage an die Teilnehmer/innen gestellt wurde, hat sie eine grève reconductible – einen unbefristeten Streik, über dessen Fortsetzung alle 24 Stunden entschieden wird, mit unvorhersehbarer Dauer zum Gegenstand. Ein solcher Streik findet allerdings derzeit gar nicht statt.

Vielmehr wird derzeit stets für eine 48stündige Periode gestreikt, und an deren Ausgang hinterlegen die stärksten Gewerkschaften jeweils eine Streikvorwarnung für den nächsten Streik, also für fünf Tage später – in Frankreich ist in den öffentlichen Diensten eine Voranmeldung von Streiks fünf Tage vor ihrem Beginn gesetzlich vorgeschrieben. Es wird also je zwei Tage gestreikt und danach je fünf Tage gearbeitet, nach einem vorhersehbaren Kalender, welcher bis zum 27./28. Juni d.J. läuft. Darauf einigten sich die vier als „repräsentativ“ (ungefähr: „tariffähig“) anerkannten Gewerkschaften bei der SNCF am zurückliegenden 15. März; mit Ausnahme der linken Basisgewerkschaft SUD Rail, welche einen unbefristeten Streik vom Typus grève reconductible befürwortet. Die anderen beteiligten Gewerkschaften vertreten die Auffassung, durch den gewählten Streikmodus werde auf die öffentliche Meinung besser Rücksicht genommen – stärker als bei einem von vorherein unbefristet Streik -, die Taschen der beteiligten Streikenden würden stärker geschont (in Frankreich bezahlen streikende Beschäftigte den Lohnverlust i.d.R. aus eigener Tasche), und die Wirkung werde stärker gestreckt. Ob dieses Kalkül aufgeht, ist zwar in jeglicher Hinsicht ungewiss, es wird jedoch seitens der etablierten Gewerkschaften vermutet, die periodische Wiederaufnahme der Arbeit zwischen zwei 48stündigen Streikperiode schone die Geduld des Publikums. Allerdings kann es in Wirklichkeit nach hinten los gehen, weil diese Streiktaktik weniger unmittelbar durchschaubar ist als ein gleich zu 100 % durchgeführter Streik, und weil die angekündigte Streikperiode – vom 03. April bis zum 28. Juni, im Rhythmus „Streik an je zwei Tagen von sieben“ – umgekehrt besonders langwierig aussieht.

Die Verfasserin oder der Verfassers oben zitierte Artikel von der Webseite des französischen öffentlich-rechtlichen Fernsehen (vgl. francetvinfo.fr…) gibt sich immerhin die Mühe, zu betonen, das Meinungsbild in den sozialen Netzwerken sehe anders und eher gegenläufig aus als in der hier wiedergegebenen Umfrage. Sicherlich stellt sich in jedem Einzelfall die Frage, wie aussagekräftig eine Umfrage jeweils ausfällt. Der Artikel betont ebenfalls, die Anhänger/innen der Regierungspartei La République en marche (LREM) sowie der Rechtsparteien Les Républicains – LR, ungefähr mit der CDU/CSU in Deutschland vergleichbar – und Front National seien massiv gegen den Streik. Die übrigen Teile der Gesellschaft sind demzufolge eher (zumindest) neutral bis dafür.

An einer Streikdemonstration am Dienstag, den 03. April – dem ersten Tag des Arbeitskampfs – in Paris nahmen laut polizeilichen Angaben 2.700 Menschen teil. Unter ihnen waren Eisenbahner/innen, überwiegend von SUD Rail sowie Force Ouvrière (FO) – wo war eigentlich die CGT-Eisenbahner als stärkste Einzelgewerkschaft? -, aber auch Krankenhaus- und Pflegebeschäftigte sowie Mitarbeiter/innen von Air France. (Bei der Fluggesellschaft wurden nun zusätzliche neue Streiktage angemeldet: am 10. und 11. April, sodann am 17./18. April und am 23./24. April. Im letzteren Falle werden die beiden Streiktage dann mit denen bei der SNCF koinzidieren, also zusammenfallen. Bei Air France geht es um einen Lohnstreik, da Löhne und Gehälter bei der Fluggesellschaft seit nunmehr sechs Jahren eingefroren blieben, also aufgrund der – obwohl schwachen – Inflation real eine Negativentwicklung aufwiesen. Laut der Wirtschaftsbeilage in der Freitags-Ausgabe der Pariser Abendzeitung Le Monde könnte der Streik, bei Durchführung der jetzt angemeldeten Streiktage, das Unternehmen insgesamt 240 Millionen Euro kosten. Dieser Verlust wäre genau identisch mit der Höhe der Kosten für die geforderte sechsprozentige Lohnerhöhung, für ein ganzes Jahr. Das Unternehmen bleibt jedoch extrem stur gegenüber der Verhandlungsposition der Gewerkschaften.)

Ein bemerkenswerter Ereignis bei der Pariser Streikdemonstration war der Hinauswurf des Linksnationalisten und linkssozialdemokratischen Ex-Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon. Ihm hallten Rufe wie charognard!(„Aasfresser“) entgegen, was sinngemäß bedeutete, dass ihm eine parteipolitische Vereinnahmung des Protestthemas vorgeworfen wurde. – Vgl. dazu (in Text und Bildern:) actu.orange.fr… und actu.orange.fr…

Einer der – selbst parteilosen – Abgeordneten in der 17köpfigen Parlamentsfraktion von Mélenchons Wahlplattform La France insoumise („Das unbeugsameFrankreich“), François Ruffin, kommt unterdessen selbst ungleich besser weg. Er ergriff eine Initiative, welche derzeit viel von sich reden macht, und regte eine Zentraldemonstration der unterschiedlichen sozialen Protestbewegungen am Samstag, den 05.05.18 an. An einem Vorbereitungstreffen im Pariser Gewerkschaftshaus am Abend des Mittwoch, 04. April d.J. nahmen rund 600 Menschen teil, die in den Saal passten, doch 1.200 weitere Personen fanden aus Platzgründen keinen Einlass und blieben vor der Tür. (Vgl. dazu auch reporterre.net…)

Ruffin, der im Februar/März 2016 die Initiative zu der Platzbesetzerbewegung Nuit debout anregte (diese allerdings in einem Interview mit Libération vom 07. Juni 16 für mittlerweile gescheitert erklärte), wird weitaus weniger als autoritärer Apparatschik wahrgenommen denn Mélenchon. Auch Jean-Luc Mélenchon hatte in seinem Video bei Youtube, welches wir in unserem Artikel vom Dienstag, den 03. April 18 dokumentiert hatten, eine Zentraldemonstration an einem Samstag gefordert. Allerdings verbunden mit einem autoritären Gestus – in dem Video sagt er dazu u.a.: „Ich habe diesen Vorschlag schon vor anderthalb Monaten unterbreitet, ich hoffe, mein Botschaft ist jetzt verstanden worden, hein?“ -, ebenfalls verbunden mit einer Abqualifizierung der übrigen beteiligten Linkskräfte. Und ferner im Namen der Idee, er vertrete „das Volk“, während die Gewerkschaften nur „konföderierte Berufsgruppen“ verträten.

Bei François Ruffin, welcher zuerst durch seinen Dokumentarfilm Merci, patron! Bekannt wurde, kommt der Vorschlag wesentlich weniger „von oben herab“ daher, und findet weitaus stärkere Basisunterstützung.

Seit dem Treffen am Abend des 03. April im Pariser Gewerkschaftshaus scheint diese Idee – für eine Zentraldemonstration der unterschiedlichen Sozialprotestbewegungen – sich nun ihren Weg zu bahnen. Mit weiteren Ereignissen an dieser Front ist also zu rechnen!

Quelle: labournet.de… vom 6. April 2018

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