200 Jahre Marx: Kein toter Hund
Martin Suchanek. Jahrestage dienen nie einer bloßen Rückbesinnung auf das geschichtliche Werk einer Person. Handelt es sich um einen epochemachenden Theoretiker wie Marx, der gemeinsam mit seinem Freund und Kampfgefährten Engels den „wissenschaftlichen Sozialismus“ begründete, so gibt es für die herrschende Klasse oder auch den linken Flügel des Bürgertums, die reformistischen Organisationen, nur zwei Möglichkeiten: zu Tode schweigen oder zu Tode gedenken.
Ein Toter, der ständig wiederkehrt
Im Jahr 2018, besonders im Mai, häufen sich Feierlichkeiten und Gedenkveranstaltungen. Marx‘ Geburtsstadt Trier nimmt den Jahrestag ihres bekanntesten Sohnes nicht zum Anlass von „Würdigungen“ und Veranstaltungen, sondern will aus dem Kapitalkritiker auch Kapital schlagen. Selbst die CDU stimmte im Stadtrat für den Bau einer überlebensgroßen Statue und die Massenproduktion von Devotionalien, vor allem für den chinesischen Markt.
Kaum ein großer Verlag lässt sich finden, der nicht eine „neue“ Marx-Biographie veröffentlicht, kaum eine renommierte wissenschaftliche Institution, die nicht zumindest eine Vortragsreihe oder ein Symposium veranstaltet, keine bürgerliche Zeitung, die ohne Nachruf auskommen dürfte.
Tote leben eben länger. Auch wenn die offizielle Gedenkkultur eher der Leichenschändung als einer Würdigung gleichkommt, so liegt selbst in der bürgerlichen Vereinnahmung und Entstellung von Marx etwas unfreiwillig Entlarvendes.
Kaum ein Theoretiker, kaum ein wissenschaftliches Werk wurde so oft für „tot“, „überholt“ und „widerlegt“ erklärt. Sogar etliche neu auf den Mark gekommene Marx-Biografien wie jene von Stedman Jones aus dem Jahr 2016 werden nicht müde, seine Arbeit und Politik als „illusionär“ zu entlarven. Es fragt sich jedoch, warum ausgerechnet ein schon tausend Mal für tot Erklärter noch einmal auf tausenden Seiten in hunderten Büchern und Artikeln „widerlegt“ werden muss.
Der Tote ist eben nicht tot. Die Marx-„Kritik“ nach dem Zweiten Weltkrieg, wie z. B. in Karl Poppers „Elend des Historizismus“ dargelegt, war sicherlich nicht viel dümmer oder klüger als die heutigen „Widerlegungen“. Aber vor dem Hintergrund der ökonomischen Expansion der 1950er und 1960er Jahre konnte sie auf eine ständige Verbesserung der Lebensbedingungen aller verweisen, wie es auf der gesellschaftlichen Oberfläche erschien. Die Krisentheorie und die bei Marx entwickelte relative Verelendungstheorie schienen widerlegt, das Proletariat „verschwunden“, integriert und zur „Mittelklasse“ aufgestiegen.
Außerdem war die revolutionäre Theorie unter Stalin und Mao zum „Marxismus-Leninismus“ kanonisiert worden und zur Legitimationsideologie einer herrschenden Kaste verkommen, die Theorie, Programm und Politik von Marx und Lenin in ihr Gegenteil verkehrte. Im Westen wiederum brachen die Frankfurter Schule und andere Spielarten des „Neo-Marxismus“ mit dem revolutionären Kern der Theorie. Der „organisierte Kapitalismus“ wäre fähig zur erfolgreichen staatlichen Krisenabfederung, das Proletariat unfähig, sich als revolutionäres Subjekt zu konstituieren. So konnte man besonders „kritisch“ und zugleich im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb erfolgreich sein.
Marx is back
Die gegenwärtige globale Krisenperiode und die mit ihr einhergehende verschärfte inner-imperialistische Konkurrenz entziehen natürlich jeder Theorie einer allmählichen Verbesserung der Lage der ArbeiterInnenklasse, des sozialen Aufstiegs und der Abschwächung des Klassenwiderspruchs den Boden.
Im ersten Band des „Kapital” legt Marx bekanntlich eine Theorie der relativen Verelendung der ArbeiterInnenklasse dar. Dieser begegnen wir selbst in Phasen der Expansion und der Erhöhung des Arbeitslohns, denn ihr entspricht auch dann, dass der neu geschaffene Reichtum in Form des Mehrwerts beständig auf Seiten des Kapitals angehäuft wird. „Aber alle Methoden zur Produktion des Mehrwerts sind zugleich Methoden der Akkumulation, und jede Ausdehnung der Akkumulation wird umgekehrt Mittel zur Entwicklung jener Methoden. Es folgt daher, daß im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, ob hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß.“ (Das Kapital, Band 1, S. 674/675) Es wächst also auch in der Periode der kapitalistischen Expansion die ökonomische Abhängigkeit der ArbeiterInnenklasse, die Dominanz des Kapitals.
Die bürgerliche Wissenschaft, aber auch der Reformismus sind für die Theorie der relativen Verelendung blind, weil sie die immer stärkere Herrschaft der toten über die lebendige Arbeit aus dem Auge lassen, die immer umfassendere Unterordnung, Vereinseitigung und Entfremdung. Im sozialdemokratischen Modell des Sozialstaats, aber auch im Stalinismus verkommt die „Befreiung“ der Klasse zu einer staatlichen Wohlfahrtsleistung, die die Entfremdung nicht aufheben kann, sondern nur schöner ausgestalten will. Für Marx hingegen bleibt auch die etwas besser bezahlte Lohnsklaverei – Lohnsklaverei.
Heute leben wir in einer Periode, wo auch immer größere Teile der Klasse mit sinkenden Einkommen zu kämpfen haben, wo selbst in den tradierten imperialistischen Zentren wie Deutschland Millionen zu prekär Beschäftigten wurden, zu einem Heer von „working poor“ samt Kindern und RentnerInnen in Armut. In Ländern wie China und Indien, wo sich die industrielle Produktion fieberhaft ausdehnt, wächst auch die Zahl der überausgebeuteten Armen.
Unabhängig von akademischen Debatten lesen sich Marx‘ Theorie und Beschreibungen der allgemeinen Gesetze der kapitalistischen Akkumulation im ersten Band des Kapitals über weite Strecken wie eine Darstellung „neuester“ Ausbeutungsformen. Die Krisentheorie scheint heute wieder plausibel. Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate – zu Recht von Marx als eine seiner zentralen Entdeckungen hervorgehoben – erweist sich als weitaus realitätstauglicher, als eine ganze Reihe revisionistischer KritikerInnen behauptet.
Entwicklung und Kampf
Die heutige bürgerliche Marx-Kritik und ihre (links)reformistische Spielart vermögen es daher nicht, Marx zur Gänze abzulehnen. Sie akzeptieren bestimmte Momente seiner Theorie oder Begriffe. Aber sie lehnen umso entschiedener die Totalität und den revolutionären Kern des Marx’schen Werkes ab.
So wird der ökonomische Theoretiker, der Autor von „Das Kapital“, als scharfsinniger Kritiker anerkannt, von dem auch IdeologInnen der herrschenden Klasse lernen können. Aber seine revolutionären Schlussfolgerungen, die Zuspitzung der Krise zur revolutionären Überwindung, die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution werden als „widerlegt“, „einseitig“ oder reine „Wunschvorstellungen“ abgetan. Auf dem Gebiete einzelner Erscheinungen mochte Marx sogar recht behalten haben, aber seine Schlussfolgerungen bezüglich der Bewegungsgesetze des Kapitalismus, seiner inneren Entwicklungslogik hätten keinen wissenschaftlichen Charakter, wären allenfalls literarisch interessante Spekulationen. Auf dem Gebiet der Politik hätte Marx einen fatalen und längst überholten „übertriebenen“ Anspruch gehegt – nämlich der Programmatik und Taktik einer revolutionären Partei eine wissenschaftliche Fundierung zu geben. In Wirklichkeit hätte auch er – wie jeder bürgerliche Politikaster – nur im Trüben gefischt.
Diese Methode, Aspekte des Marx’schen Werkes als wissenschaftlich zu akzeptieren, aber die Verbindung zum Gesamtzusammenhang abzulehnen, ist nicht neu. Sie findet sich keineswegs nur bei bürgerlichen oder akademischen KritikerInnen, sondern vor allem im Revisionismus alter wie neuer Spielart. Nachdem sich der Marxismus schon zu Lebzeiten von Marx und Engels gegen ideologisch kleinbürgerliche Strömungen wie den Proudhonismus und Anarchismus im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatte, wurden die revolutionären Schlussfolgerungen in der ArbeiterInnenbewegung selbst relativiert. Der entstehende Revisionismus und Reformismus traten zwar teilweise offen gegen Marx auf, oft genug aber auch verdeckt, indem sie nur „Teilaspekte“ zu aktualisieren vorgaben. Später wurde ein mehr oder minder entstellter Marx selbst noch zur Kritik des revolutionären Kommunismus herangezogen – eine Methode, die heute z. B. auch bei der Linkspartei und der Luxemburg-Stiftung im Gebrauch ist. Der Vorteil liegt dabei auf der Hand: Man hofft so, die eigene reformistische Politik im Rekurs auf Marx (oder Engels oder Luxemburg) auch noch als „revolutionär“ und besonders „kritisch“ hinzustellen. Doch bevor wir uns damit beschäftigen, wollen wir uns noch einmal dem Erbe von Marx zuwenden.
Entstehung des Marx’schen Werkes
Die wissenschaftliche Methode von Marx und Engels und ihre Politik bilden sich in der Auseinandersetzung mit drei großen Strömungen ihrer Zeit heraus: dem Hegelianismus, der politischen Ökonomie und dem Frühsozialismus.
Diese Theorien bedeuteten einen enormen Fortschritt im Verständnis der modernen, entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, aber sie waren schon in den Jugendjahren von Marx und Engels an ihre inneren Grenzen gestoßen.
Hegels dialektische Methode ermöglichte eine Revolutionierung des Geschichtsverständnisses. Die Veränderung, das Werden, die Entstehung des Neuen und des Fortschritts aus den inneren Widersprüchen öffnete nicht nur einen veränderten Blick auf den historischen Prozess, sondern auch auf die entstehende bürgerliche Gesellschaft. Aber der Hegelianismus blieb – wie auch seine linken Schüler – dem Idealismus verhaftet, die geschichtliche Entwicklung letztlich eine Form der Selbsterkenntnis des absoluten Geistes. Die dialektische Methode Hegels betont das Moment der Entwicklung, des Historischen und damit auch des unvermeidlichen Untergehens bestimmter gesellschaftlicher oder politischer Formen. Aber Hegels idealistisches System erforderte auch einen Endpunkt dieser Entwicklung, die mit einer Form der „absoluten Wahrheit“ abschließen musste. Diese konservative, affirmative Seite der Hegel’schen Philosophie führte aus den geistigen Höhen des Systems zu „zahmen politischen Schlussfolgerungen“ (Engels), in die profanen Niederungen des preußischen Absolutismus.
Adam Smith und David Ricardo versuchten, die Gesetzmäßigkeiten der politischen Ökonomie auszuarbeiten, ihnen auf den Grund zu gehen. Sie entwickelten wichtige Aspekte der Werttheorie. Aber sie waren nicht in der Lage, die Klassenschranken ihrer Theorie zu überwinden und somit vorhandene innere Widersprüchlichkeiten ihrer Arbeiten. Insbesondere vermochten sie nicht, den historischen, vergänglichen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise selbst zu verstehen. Vielmehr teilen sie mit der aktuellen akademischen Wirtschaftswissenschaft, wenn auch vom theoretischen Anspruch her weit über dieser stehend, die Vorstellung, dass der Kapitalismus das letzte Wort der Geschichte sei.
Der Frühsozialismus griff die universellen Freiheitsversprechen der bürgerlichen Gesellschaft auf, wandte sie als Maßstab gegen die zur Macht gekommene Bourgeoisie. Die herrschende Klasse erfüllte die eigenen Versprechen von Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechten nicht. Damit verwies der Frühsozialismus zwar auf den antagonistischen Charakter der Gesellschaft, doch seine Vorstellung einer besseren, sozialistischen war selbst noch im bürgerlichen Rechtshorizont befangen, daher wesentlich moralisch. Eine wissenschaftliche Fundierung fehlte. Den bestehenden, kapitalistischen Verhältnissen wurden einfach „bessere“, herrschaftsfreie entgegengestellt – teils in genialen, inspirierenden Betrachtungen, teils indem der verallgemeinerten Warenproduktion wie z. B. im Proudhonismus eine vermeintlich gerechtere Form ebendieser entgegengestellt wurde.
Der Marxismus entstand im Bruch mit diesen Ideen. Auf der Basis der Kritik und der Polemik gegen die zeitgenössischen, letztlich immer reaktionärer werdenden ParteigängerInnen dieser Theorien entsteht die Marx’sche, wird seine Politik wissenschaftlich fundiert.
Historische Rolle des Proletariats
Im Zentrum steht für Marx und Engels dabei von Beginn an das Verständnis der historischen Rolle des Proletariats. Das ist der Springpunkt, um den sich die Marx’sche theoretische Arbeit, sein politisches Wirken, sein Gesamtwerk drehen.
Für Marx stellt die ArbeiterInnenklasse keine bloß sozial-statistische Kategorie dar, die sich beispielsweise durch geringes Einkommen, eingeschränkten Zugang zu kulturellen Ressourcen, strukturelle Benachteiligung usw. auszeichnet. Vielmehr kann die ArbeiterInnenklasse nur im Verhältnis zum Kapital, ja zur Gesamtheit der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Totalität verstanden werden. Das Proletariat ist keine Ansammlung von Individuen mit gleichen Eigenschaften – es muss vielmehr im Verhältnis zur KapitalistInnenklasse verstanden werden, im Rahmen eines Widerspruchsverhältnisses.
Daher muss die ArbeiterInnenklasse selbst auch immer in ihrem Werden, ihrer Veränderung verstanden werden – nicht nur in dem Sinne, dass sich ihre Zusammensetzung, ihre Struktur usw. infolge der Kapitalzusammensetzung ständig ändern, umwälzen, sondern vor allem auch darin, dass das Proletariat nur im Kampf, in seiner Organisierung, und indem diese mit der marxistischen Theorie verbunden wird, zu einer Klasse für sich werden kann. Gewerkschaften stellen dabei elementare Organisationsformen dar. Entscheidend ist aber für Marx die Konstituierung der Klasse zur politischen Partei, zu einem Zusammenschluss der bewusstesten Teile der Klasse, ihrer Avantgarde auf Grundlage eines gemeinsamen Programms zum Sturz des Kapitalismus.
Schon in den Frühschriften und im Kommunistischen Manifest arbeiten Marx und Engels heraus: „Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr ureigenstes Produkt.“ (Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 472)
Anders ausgedrückt: Die kapitalistische Produktionsweise bringt ihren eigenen „Totengräber“ hervor, jene Klasse, die sowohl die Fähigkeit besitzt, diese Verhältnisse umzustürzen, wie sie sich – im Unterschied zu früheren unterdrückten Klassen – nur befreien kann, indem sie als kollektiv produktionsmittellose Klasse die Produktivkräfte unter gesellschaftliche, planmäßige Leitung stellt. Dazu müssen die „Enteigner“, also das „Kapital“, enteignet werden.
Die theoretische Arbeit von Marx z. B. im „Kapital“ dient zur Fundierung, zum Verständlichmachen und zur Begründung der revolutionären Rolle des Proletariats. Die Abschnitte, die sich z. B. auf den Kampf um den 10-Stunden-Tag beziehen und erst recht jene, die die Notwendigkeit der politischen Machtübernahme des Proletariats hervorheben, sind keine „unwissenschaftlichen“ Zusätze zum „Kapital“, sondern vielmehr die entscheidenden Schlussfolgerungen aus der Kritik der politischen Ökonomie. So legt Marx im „Kapital” z. B. den Sinn wie auch die Schranken ökonomischer Kämpfe dar, indem er nach der Entwicklung der Wertform, der Verwandlung von Geld in Kapital zeigt, dass im Kapitalbegriff auch der Klassenantagonismus, der Kampf um die Verteilung des Mehrwerts schon eingeschlossen ist. Er erklärt, warum der Wert der Ware Arbeitskraft als Arbeitslohn erscheinen und im Lohnfetisch das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise verschleiert werden muss.
Auch wenn „Das Kapital“ selbst unvollendet blieb, so entwickelt es doch die inneren Gesetzmäßigkeiten der Produktionsweise, die Zuspitzung ihres inneren Widerspruchs und die Lösung, zu der er drängt:
„Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums hat geschlagen. Die Expropriateure werden expropriiert.“ (Das Kapital, Band 1, S. 791)
Die umfassende wissenschaftliche Analyse, die Marx im „Kapital“ vorlegt, wäre ohne Kritik der bürgerlichen Ökonomen, ohne die Analyse und Verallgemeinerung der entstehenden ArbeiterInnenbewegung und ihrer Kämpfe und ohne die dialektische Methode unmöglich gewesen. Marx mixt diese jedoch nicht wie die „moderne“ bürgerliche Universität eklektisch, sondern schafft eine neue Methode. Deren entscheidendes Wahrheitskriterium liegt nicht im akademischen „Diskurs“, sondern in der Praxis, genauer in der revolutionären Praxis der ArbeiterInnenklasse.
Staat und Revolution
Was vom „Kapital“ gesagt werden kann, trifft auch auf alle anderen Aspekte des marxschen Werkes zu. Es geht nicht darum, nur einen Teil der Gesellschaft zu erklären, sondern die Gesamtheit ihrer Verhältnisse. Auch wenn etliches nur bruchstückhaft bleibt, so ist Marx wie Engels (und allen großen MarxistInnen) gemein, sämtliche wichtigen gesellschaftlichen Probleme und Auseinandersetzungen als Teil des Klassenkampfes zu verstehen. Das zeigt sich unter anderem bei der Behandlung der nationalen Frage, der Frauenunterdrückung, des Mensch-Natur-Verhältnisses, der Kriegsfrage und des Verhältnisses von Reform und Revolution.
Für Marx muss die ArbeiterInnenklasse die politische Macht ergreifen, um überhaupt die Gesellschaft bewusst umgestalten zu können. Aus seiner Kapitalanalyse ergibt sich zwingend, dass das Proletariat im Rahmen der bestehenden Gesellschaft keine neue Produktionsweise aufbauen kann, weil es gerade durch sein Nicht-Eigentum an Produktionsmitteln charakterisiert ist. Es muss schon deshalb die KapitalistInnenklasse enteignen und die wichtigsten gesellschaftlichen Ressourcen in einer Hand, dem Staat zentralisieren.
In der Analyse der Revolution von 1848 (z. B. in Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ oder Engels, „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“) wird deutlich, dass die ArbeiterInnenklasse den bestehenden bürgerlichen Staatsapparat nicht einfach übernehmen kann, sondern dass dieser vielmehr im Zuge des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat als Herrschaftsinstrument perfektioniert wird:
„Die parlamentarische Republik endlich sah sich in ihrem Kampfe wider die Revolution gezwungen, mit den Repressivmaßregeln die Mittel und die Zentralisation der Regierungsgewalt zu verstärken. Alle Umwälzungen vervollkommneten diese Maschine statt sie zu brechen.“ (Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, S. 197)
Marx dazu in einem Brief an Kugelmann am 17. April 1871:
„Wenn Du das letzte Kapitel meines ‚Achtzehnten Brumaire‘ nachsiehst, wirst Du finden, dass ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andre zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent.“ (MEW 33, S. 205)
Die politische Form dieser Herrschaft, der Diktatur des Proletariats, ist schließlich in der Kommune, in den Räten gefunden.
„Das ist also die Kommune – die politische Form der sozialen Emanzipation, der Befreiung der Arbeit von der Usurpation (der Sklaverei) der Monopolisten der Arbeitsmittel, die von den Arbeitern selbst geschaffen oder Gaben der Natur sind. So wie die Staatsmaschine und der Parlamentarismus nicht das wirkliche Leben der herrschenden Klassen, sondern nur die organisierten allgemeinen Organe ihrer Herrschaft, die politischen Garantien, Formen und Ausdrucksweisen der alten Ordnung der Dinge sind, so ist die Kommune nicht die soziale Bewegung der Arbeiterklasse und folglich nicht die Bewegung einer allgemeinen Erneuerung der Menschheit, sondern ihr organisiertes Mittel der Aktion. Die Kommune beseitigt nicht den Klassenkampf, durch den die arbeitenden Klassen die Abschaffung aller Klassen und folglich aller [Klassenherrschaft] erreichen wollen (…), aber sie schafft das rationelle Zwischenstadium, in welchem dieser Klassenkampf seine verschiedenen Phasen auf rationellste und humanste Weise durchlaufen kann.“(Marx, Erster Entwurf zum ‚Bürgerkrieg in Frankreich‘, MEW 17, S. 545 f.)
Die Kommune war also wesentlich eine „Regierung der Arbeiterklasse“ (Marx). Diese erfüllt aber nur ihre eigentliche geschichtliche Funktion, wenn sie auch wirklich im historischen Interesse der Klasse agiert – ansonsten verkommt auch diese Form zum „Betrug“ (ähnlich wie es die Räte in Russland gewesen wären, wenn die Bolschewiki nicht die Mehrheit erobert und sie zum Aufstand im Oktober geführt hätten).
Marx entdeckte daher nicht nur die historische Bedeutung der Kommune – seine Einschätzung stand auch im krassen politischen Gegensatz zur Einschätzung der AnarchistInnen. Er solidarisierte sich nicht nur mit den RevolutionärInnen der Kommune, er unterzog auch deren Schwächen und Halbheiten einer scharfen Kritik.
Es ist kein Zufall, dass diese Aspekte des Marx’schen Werkes, die revolutionäre Kulmination seines Denkens und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen, nicht nur in der offen bürgerlichen Kritik bekämpft werden, sondern auch immer schon Kritikpunkte des Revisionismus waren.
Revolutionsstrategie
Marx‘ und Engels‘ Kampf für eine proletarische Partei und Internationale durchzieht ihr gesamtes Lebenswerk. Dabei stand für sie – ohne sektiererisch zu werden – immer programmatische Klarheit in Verbindung mit prinzipienfester Vereinigung.
Im „Bund der Kommunisten“ hatten Marx und Engels die voluntaristischen und utopischen Positionen der AnhängerInnen Weitlings und andere entschieden bekämpft und dem Bund in Form des „Kommunistischen Manifests“ eine wissenschaftliche programmatische Grundlage verschafft.
Das Eingreifen von Marx und Engels bei der Entstehung der Ersten Internationale kann – wie Dawid B. Rjazanow richtig herausarbeitet – als eine frühe Form der ArbeiterInnenparteitaktik betrachtet werden. Marx und Engels war – wie die Inauguraladresse von 1864 zeigt – durchaus bewusst, dass sich nicht nur „marxistische“ Elemente in der Internationale versammeln würden, sondern auch die VertreterInnen von Massengewerkschaften oder die AnhängerInnen Proudhons als stärkstem ideologischen Gegengewicht.
Aber Marx und Engel betrachteten eine solche gemeinsame Partei nicht als Ziel, sondern als Übergang zu einer fortschreitenden Klärung, die sie auch in Schriften, Polemiken wie „Lohn, Preis, Profit“, den Entschließungen der Kongresse der Internationale usw. forcierten. Die Einschätzung und die Folgen der Kommune markierten einen Wendepunkt, der zugleich auch einen Fortschritt darstellt hinsichtlich des Bruchs mit den AnarchistInnen. Die Polemiken aus dieser Zeit – insbesondere zum Londoner Kongress 1871 und zum Haager Kongress 1872 – stellen bis heute einen enormen Fundus der Kritik an schein-revolutionärem Linksradikalismus sowie des eigentlich kleinbürgerlich-doktrinären Charakters dieser Politik dar.
Bis heute kritisiert eine ganze Reihe ReformistInnen und VersöhnlerInnen Marx dafür, gegenüber den AnarchistInnen und SyndikalistInnen zu „dogmatisch“ und hart gewesen zu sein. Sie unterstellen, dass die Spaltung der Internationale, der Bruch mit den AnarchistInnen so hätte vermieden werden können.
In Wirklichkeit ging es um Grundfragen revolutionärer Politik. Marx‘ Einschätzung der Kommune als Kampfinstrument der Klasse bedeutet auch, dass er von ihr entschiedene Maßnahmen gegen die Konterrevolution erwartete.
In diesem Kontext muss auch Marx‘ Kritik an den KommunardInnen verstanden werden, die es versäumt hätten, die Bank von Frankreich zu enteignen und gegen die in Versailles konzentrierte Konterrevolution zu marschieren.
Marx wirft dem Zentralkomitee der Nationalgardisten aber auch vor, zu früh der gewählten Kommune die Führung überlassen zu haben und diese somit in die Hände „zufälliger“ und politisch verwirrter Elemente zu legen, statt der eigenen politischen Verantwortung nachzukommen.
Kautsky, der schon die Unterstützung des „Terrors“ gegen die Konterrevolution in der Rheinischen Zeitung als eine „Jugendsünde“ von Marx hinstellte, fand das in seiner, eigentlich gegen die Bolschewiki gerichteten Polemik „Terrorismus und Kommunismus“ „unverständlich“.
In Wirklichkeit ist das nur unverständlich für Menschen, die abstrakte „demokratische“ Verfahren, Dogmen über die Erfordernisse einer Revolution, also des revolutionären Sieges und seiner Verteidigung stellen. Es illustriert sehr gut den Unterschied zwischen einem konsequenten Revolutionär wie Marx und einem Zentristen, der zwischen Reform und Revolution schwankt. Dieser mag zwar auch die „Revolution“ wollen und die „Diktatur des Proletariats“ – aber nur solange sie nicht „schmutzig“ wird, nicht gezwungen ist, diktatorische Schritte umzusetzen, die demokratischen oder anderen „Prinzipien“ widersprechen, weil solcherart die Gefahr entstünde, dass die Revolution selbst zur autoritären Herrschaft über das Proletariat verkomme. Diese Gefahr als solche kann natürlich niemand leugnen. Aber umgekehrt gehen Revolutionen unvermeidlich mit solchen Gefahren einher, wo die Erringung oder Verteidigung der Herrschaft der ArbeiterInnenklasse despotische, diktatorische Maßnahmen gegen die (ehemals herrschenden) UnterdrückerInnen und ihre ParteigängerInnen erfordern.
Der Ausweg aus diesem Problem liegt nicht darin, es durch Prinzipien oder Dogmen „wegzudenken“, sondern sich diesem zu stellen. Die mit solchen Maßnahmen zweifellos verbundenen Gefahren können nur durch entschlossenes revolutionäres Handeln und eine korrekte Strategie der Ausweitung der Revolution, deren Internationalisierung überwunden werden.
Die Grundfrage, die nach der Niederlage der Pariser Kommune letztlich zum Scheitern der Ersten Internationale führte, war nicht, ob die Internationale „offener“ oder „enger“, mehr oder minder „autoritär“ sein sollte. Marx und Engels zogen aus der Kommune nicht nur bezüglich der Staatsfrage zentrale Schlussfolgerungen, sondern betonten auch die zentrale Bedeutung der Schaffung einer politischen ArbeiterInnenpartei, die alle Aspekte des Klassenkampfes systematisch führen könne.
Hier stießen sie aber sowohl auf den Widerstand von Gewerkschaften und SyndikalistInnen, die im ökonomischen Kampf den eigentlichen Klassenkampf erblickten, wie auch der AnarchistInnen, die sich gegen politische Aktionen, den Kampf um politische Teilforderungen aussprachen. Beide wollten von der Eroberung der politischen Macht und der Errichtung der Diktatur des Proletariats nichts wissen – die einen, weil sie die blutige Repression und den Bürgerkrieg fürchteten, die anderen, weil sie von der sofortigen Abschaffung des Staates und aller Autorität träumten.
„Aber die Antiautoritarier fordern, daß der autoritäre politische Staat mit einem Schlag abgeschafft werde, bevor noch die sozialen Bedingungen vernichtet sind, die ihn haben entstehen lassen. Sie fordern, daß der erste Akt der sozialen Revolution die Abschaffung der Autorität sei. Haben diese Herren nie eine Revolution gesehen? Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt; und die siegreiche Partie muß, wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen.“(Engels, Von der Autorität, MEW 18, S. 308)
Zweifellos wurde der Bruch mit AnarchistInnen und SyndikalistInnen auch dadurch forciert, dass Marx und Engels eine weitere, mit der Revolutionsstrategie untrennbar verbundene Frage in den Vordergrund rückten – die Notwendigkeit des Aufbaus einer revolutionären ArbeiterInnenpartei. So beschloss der Londoner Kongress der Ersten Internationale auf ihren Antrag mehrheitlich, „daß die Konstituierung der Arbeiterklasse als politische Partei unerlässlich ist für den Triumph der sozialen Revolution und ihres Endziels – Abschaffung der Klassen“ (Marx/Engels, Beschlüsse der Londoner Delegiertenkonferenz der IAA, MEW 17, S. 422)
Dem Auseinanderbrechen der Ersten Internationale lagen also grundlegende politische Differenzen zugrunde. Der Bruch war nicht nur unvermeidlich, sondern auch ein historischer Fortschritt zur Klärung proletarischer Strategie und Taktik.
Von Kautsky zur Luxemburg-Stiftung
Genau diese Tatsache versuchen seit Jahrzehnten „linke“ KritikerInnen des revolutionären Marxismus zu verschleiern. Die ReformistInnen der Luxemburg-Stiftung treten in die Fußstapfen von Kautsky und anderen, wenn es um die Frage der revolutionären Politik und Strategie geht.
In einem Sonderheft mit dem Titel „Marxte noch mal?!“ (LuXemburg 2-3/2017) soll nicht nur Marx gewürdigt werden, sondern auch die Politik der Linkspartei. Das ist freilich ohne eine Kritik an angeblichen Fehlern von Marx und „des Marxismus“ natürlich nicht möglich. Schließlich ist ihre „Transformationsstrategie“ parlamentarisch, friedlich und auf eine lange Phase von „Verschiebungen“ der gesellschaftlichen Hegemonie ausgelegt. Der Begriff der „Räte“ ist, sofern er vorkommt, jedes revolutionären Gehalts beraubt.
Marx wird daher einerseits zum Gebrauchtwarenladen, aus dem sich einzelne TheoretikerInnen der Partei bedienen, um letztlich die Realpolitik der Linkspartei theoretisch zu unterfüttern und ihr obendrein einen „marxistischen“ Anspruch zu geben. Schließlich will auch sie den Toten ausschlachten, der sich nicht mehr wehren kann.
Zum anderen werden z. B. von Bini Adamczak angebliche Schwächen beim „traditionellen Marxismus“ beklagt: „Der Umsturz erhielt ein großes Gewicht gegenüber der Umwälzung, die Insurrektion gegenüber der Transformation.“ (S. 133) Statt dessen will sie die Entwicklung des Widerspruchs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen „in dem Sinne von Produktions- und Verkehrsverhältnissen“ verstanden wissen, „die sich parallel zu den dominanten entwickeln.“ (S. 131) Vorwärts also zum Frühsozialismus!
Autoren wie Michael Brie wiederum versuchen, Marx und seine Taktik beim Aufbau der Ersten Internationale als „Modell“ für den Aufbau einer „vermittelnden Partei“, also einer Partei verschiedenster ideologischer Schattierungen, zu präsentieren. Der Bruch der Internationale erscheint als Betriebsunfall der Geschichte, den nicht zuletzt Marx wegen seiner Unnachgiebigkeit zu verantworten hätte. Klar: Wer eine Partei wie DIE LINKE zusammenhalten will, die Opposition spielt und Koalitionspartnerin in einer bürgerlichen Regierung sein will, kann Unnachgiebigkeit und Prinzipienfestigkeit nicht gebrauchen. Marx‘ und Engels‘ Rolle in der Ersten Internationale wird deshalb zu der von Moderatoren zwischen AnarchistInnen, GewerkschafterInnen und KommunistInnen umgedeutet, zurechtgestutzt.
Diese „Anerkennung“ – und Entstellung – von Marx stellt einen gefährlichen theoretischen Angriff auf den revolutionären Gehalt seines Werkes dar. Die bürgerliche und akademische „Würdigung“ verfolgt den Zweck, seinem Werk die Kanten abzuschleifen und so den Klassenstandpunkt des Proletariats mit dem der Bourgeoisie zu versöhnen. Der Zweck der Marx-Interpretation der Luxemburg-Stiftung besteht letztlich in der Rechtfertigung reformistischer Politik, also einer Politik des Ausgleichs zwischen Klassen, nicht der Aufhebung des Klassengegensatzes.
Für RevolutionärInnen besteht die Aktualität des Marx’schen Werkes in seiner Zwecksetzung, die Bewegungsgesetze des Kapitalismus und die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution darzulegen, die ArbeiterInnenklasse theoretisch und programmatisch für ihre historische Aufgabe zu rüsten, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes und ein verächtliches Wesen ist.” (Marx, Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1843-44 MEW 1, S. 385)
Quelle: Neue Internationale 228… vom 3. Mai 2018
Tags: Arbeiterbewegung, Friedrich Engels, Lenin, Marx, Rosa Luxemburg, Sozialdemokratie, Strategie
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