Selma James über Frauenstreikbewegung und Arbeiterklasse
Unsere Autorinnen Dimitra Dermitzaki und Eleonora Roldán Mendívil verbrachten fünf Tage mit der US-amerikanischen Feministin Selma James in Berlin und Göttingen. Im Rahmen des Internationalen Frauen*streiks war James nach Deutschland eingeladen worden. Eine Reportage über ihre Erlebnisse, Eindrücke und Überlegungen mit einer legendären antirassistischen, antiimperialstischen und feministischen Aktivistin der Basis.
„Ist das ein Streik der Karrierefeministinnen oder ist es ein Streik der Frauen der Arbeiterklasse?“ fragt James bei ihrer Ankunft in Berlin eine von uns. „Wisst ihr, die Karrierefeministinnen machen immer alles kaputt. Deswegen muss man sich an die Basis halten.“ In wenigen Worten fasst James so schon auf dem Weg vom Flughafen Schönefeld zu ihrer Unterkunft in Berlin-Friedrichshain ihre Politik zusammen. „Wenn ihr schreibt, dann müsst ihr so schreiben, dass die normalen Frauen euch verstehen“, mahnt sie, „sonst sprecht ihr nur wie die Parteifrauen und die Gewerkschaftsbürokratinnen.“
Wir fahren am Treptower Park vorbei und sprechen über die Sowjetunion unter Stalin. Die 88-Jährige schüttelt den Kopf. Als Kommunistin verteidigt sie die Russische Revolution von 1917. Und weiß, dass bereits unter Lenin viele der wichtigen Errungenschaften, auch solche der Frauen, von der Partei abgespeist wurden.
Selma James ist in deutschsprachigen Kreisen wenig bekannt. Sie gehört keiner Partei und keiner kommunistischen Strömung an. Bereits im Alter von 15 trat die gebürtige U.S.-Amerikanerin der Johnson-Forest-Strömung bei, eine Linksabspaltung von trotzkistischen Kommunist*innen. Hier lernte sie ihren späteren Ehemann, den trinidadischen Marxisten C.R.L. James kennen. Selmas Werdegang als Aktivistin der Basis begann durch ihre Tätigkeit als Kolumnistin in einer Arbeiterzeitung. Darin widmete sie sich für Frauen* relevanten Aspekten sowie Themen, die nicht-weiße und migrantische Menschen in den USA betrafen.
Obwohl sich ihre politische Tätigkeit auf viele verschiedene Felder in den USA, in der Karibik und in Großbritannien erstreckte, vertrat James durchgängig eine zentrale Forderung: Lohn für Haus- und Sorgearbeit. Seit vielen Jahrzehnten lebt sie in London, wohin sie ihrem Ehemann ins Exil folgte. Das in den 1970er Jahren gegründete »Crossroads Women Centre« in London, welches heute in einem kleinen zweistöckigen Haus in Kentish Town liegt, ist einer der Orte, die sich aus der »Lohn für Hausarbeit«-Kampagne gebildet und erhalten haben.
Hier treffen sich dutzende selbstorganisierter Frauen*gruppen, um ihre spezifischen Probleme zu diskutieren und gemeinsame Handlungsräume ausfindig zu machen. Seit den Anfängen ist auch eine Männergruppe dabei, welche ebenfalls an antipatriarchaler Basisarbeit in der Nachbarschaft und in linken Strukturen mitwirkt. Im Jahr 2000 hat James außerdem das „Globale Frauen*streik Netzwerk“ mitgegründet. Das Netzwerk verbindet verschiedenen Felder des Frauen*kampfes: Kämpfe gegen die Kürzungen von Sozialleistungen, die vor allem Frauen* zu Gute kommen; Kämpfe in der Lohnarbeit, in der Sexarbeit, gegen Abschiebungen.
Lohn für Hausarbeit
James spricht bestimmt. Und sie stellt viele Fragen. Sind es nur Studentinnen, die im Frauen*streik-Komitee aktiv sind? Wie viele lohnabhängige Frauen* und wie viele Frauen, die von staatlichen Sozialleistungen leben, mobilisieren wir? Wie steht es um die Gewerkschaften? Ob es Illusionen in die Bürokratie der Gewerkschaften gibt, will sie wissen. Und ob Frauen* dabei sind, die bereits erfolgreiche Kämpfe als Arbeiterinnen geführt haben. Ob wir ökologische Fragen ins Zentrum unseres Kampfes stellen. James hört schlecht – aber sie hört zu. Jeder Person die sie trifft.
Sie möchte wissen wie ihr Gegenüber Politik versteht und wie viel Basisarbeit in jeder Forderung steckt. „Kennt ihr die Probleme der normalen Frauen? Habt ihr sie gefragt?“ Dabei beruft sie sich stets auf ihre Jahrzehnte währende Erfahrung. „Habt ihr die Forderung nach Lohn für Hausarbeit aufgenommen? Denn das ist es was Frauen wollen: genug Geld, um Leben zu können. Dass uns unsere unbezahlte oder schlecht bezahlte Sorgearbeit nicht in Armut zwingt!“
Die Forderung von Lohn für Haus- und Pflegearbeit bleibt ein zentraler Bestandteil von James‘ Politik. Denn auch heute sind es hauptsächlich Frauen*, die diese Arbeit verrichten. Oftmals werden diese Aufgaben im Haushalt und in der Pflege – von Kindern, Alten und Kranken – neben zusätzlicher Erwerbsarbeit erledigt. Im Gegensatz jedoch zur Erwerbsarbeit, die in diesem Bereich oft schlecht bezahlt und unter prekären Arbeitsbedingungen stattfindet, wird nicht-entlohnte Sorgearbeit nicht als Arbeit anerkannt.
Nicht nur werden Frauen* für tatsächliche Arbeit in Form von häuslicher Arbeit oder Pflegearbeit nicht entlohnt, sie werden dadurch oft gesellschaftlich unsichtbar gemacht. Denn Lohn ist nicht nur Bezahlung, sondern gesellschaftliche Macht. Die Selbstbestimmung über das eigene Leben, mit wem und unter welchen Bedingungen Frauen* leben wollen, ist im Kapitalismus vom Lohn abhängig. Sorgerbeit ist wichtig, allerdings sollte es eine freie Wahl geben. Frauen* sollten sich frei entscheiden können, diese Arbeit zu verrichten, ohne die Last eines Lebens in Armut tragen zu müssen. Und auch Männer sollten dieser Tätigkeiten nachkommen.
Lohn bestimmt viele Bereiche unseres Lebens: unter welchen Bedingungen wir wohnen, ob und welche Bildung wir erlangen, ob und wie wir unsere Kinder erziehen und mit wem wir zusammen wohnen. Frauen* in Deutschland verdienen im Schnitt 22 Prozent weniger als Männer. Solange die Löhne von Frauen* für Lohnarbeit und unbezahlte Sorgearbeit niedriger als die der Männer sind, werden sich Frauen* weiterhin häufig in prekären Arbeits- und Lebenssituationen wiederfinden. Aus diesem Grund kann die vorherrschende Lohnungleichheit nicht von der unbezahlten Sorgearbeit separat betrachtet werden.
Trotz zahlreicher Forderungen hat sich weder global noch in Deutschland Lohnungleichheit zwischen Frauen* und Männern* wirklich verringert. Der Kampf um die Anerkennung und Entlohnung von Sorgearbeit hat in den letzten Jahren eine Zuspitzung erlebt. James erklärt uns beim Brunch mit Basis-Gewerkschafterinnen, dass es daher zentral ist, eine Basisbewegung aufzubauen, die die Interessen und Bedürfnisse der Frauen* von unten – der Mütter*, der Arbeiterinnen*, der Pflegerinnen* etc. – vertritt. Und dies bedeutet auch selbstverständlich, dass genau diese Frauen* diese Bewegung anführen müssen.
Sexarbeit ist Arbeit
Ein weiteres Thema, welches James immer wieder in den Diskussionen an diesen Tagen vehement vertritt, ist die Frage nach den Kämpfen von Sexarbeiter*innen. „Wisst ihr, die Linke ist so voller Doppelmoral“ erklärt sie. „Auf der einen oder anderen Art und Weise verkaufen wir alle Sex. Aber nur einige von uns werden dafür nochmals kriminalisiert und stigmatisiert. Das kann doch nicht im Interesse von Frauen sein!“ James war jahrelange Sprecherin des »Englischen Kollektivs der Prostituierten«, welches sich 1975 in London gründete und 1982 12 Tage die »Holy Church« in der Londoner Innenstadt besetzte. Dekriminalisierung, das Recht auf sichere Arbeit, sowie Zusicherung von Aufenthaltstiteln für migrantische Sexarbeiter*innen waren damals, und sind bis heute Forderungen der globalen Sexarbeiter*in-Bewegung, welche im »Globalen Frauenstreik« Netzwerk eine wichtige transnationale und kämpferische Heimat gefunden hat.
Für James schließt der Kampf gegen Kapitalismus und die damit zusammenhängenden Ausbeutungsverhältnisse lohnarbeitender Frauen* selbstverständlich diejenigen ein, die Sexarbeit nachgehen. Trotz gängiger gesellschaftlicher Stigmata, welche Sexarbeit als reinen Zwang und somit de facto immer Versklavung und Erniedrigung von Frauen* darstellen, betonen James und ihre Kampfgefährtin Liz Hilton von der thailändischen Sexarbeiter*innen-Organisation »Empower« die Notwendigkeit eines erweiterten Arbeitsbegriffs. Alle lohnarbeitenden Menschen befinden sich in Ausbeutungsverhältnissen, auch Sexarbeiter*innen.
Angefangen bei den Hausangestellten in Peru, über Sexarbeiter*innen in Thailand und Kohleminenarbeiter weltweit. Sexarbeit ist Arbeit und ist nicht notwendigerweise mehr oder weniger ausbeuterisch als jede andere Erwerbsarbeit im Kapitalismus. Familien werden dadurch ernährt. Mieten bezahlt. Schulbildung von Kindern finanziert. In vielen Fällen bezahlt Sexarbeit besser als viele andere, gesellschaftlich weniger stigmatisierte Jobs. Trotz bestehender Ausbeutungsverhältnisse, ermöglicht Sexarbeit Frauen* oft eine Form der Emanzipation.
Sie verdienen Geld, wodurch sie oft materiell unabhängiger sein und über ihre Lebens- und Wohnsituation entscheiden können. Dies sei in vielen anderen Tätigkeiten, wie beispielsweise bei Hausangestellten, die im Haus ihrer Chefs leben, nicht gegeben. Sexarbeit ist Arbeit, die Millionen Frauen* weltweit verrichten. Auf dem bundesweiten Vernetzungstreffen der Frauen*streikgruppen und -komitees am 10. November in Göttingen, berichtete Liz Hilton, dass Sexarbeiterinnen in Thailand sich seit langer Zeit mit allen arbeitenden Frauen* – Müttern*, Pflegerinnen*, Hausangestellten*, Fabrikarbeiterinnen*, Bäuerinnen*, Ladenangestellten und allen, die sich für die Verteidigung von Land und natürlichen Ressourcen einsetzen, solidarisieren. Aus diesem Grund bedarf es eines gemeinsamen, entschlossenen Kampfes gegen kapitalistische Strukturen, die eine Klassengesellschaft und damit ausbeutende Lohnarbeit möglich machen. „Denn wenn die Zeit kommt für Massenmobilisierung, dann werdet ihr die Sexarbeiterinnen, die Asylbewerberinnen, die Mütter und die Migrantinnen brauchen“, so Hilton.
Der Klassenfeind ist auch weiblich
Nur wenige Tage nach den Zwischenwahlen in den USA am 6. November 2018, nahm James an einem Podium des bundesweiten Vernetzungstreffen des Frauen*streiks in Göttingen teil. Vor dem Hintergrund der in den bürgerlichen Massen-Medien umjubelten Wahl vieler nicht-weißer und migrantischer Frauen in den US-amerikanischen Kongress, zeigte James auf, dass diese Wende im Wähler*innenverhalten im Vergleich zu den Wahlen vor zwei Jahren einen gesellschaftlichen Wandel beschreibt. Es bedeute, dass es eine Wahrnehmungsänderung von Trumps Politik gäbe.
Nichtsdestotrotz handelt es sich bei den Demkorat*innen in den USA um eine imperialistische Partei, die im In- und Ausland Kapitalinteressen vertritt und ähnlich wie die Republikaner*innen für Abschiebungen von Mittel- und Südamerikaner*innen, Ausbau der Waffen- und Kriegsindustrie, Beschneidungen von Arbeiter*innen-Rechte und das Vorantreiben von Umweltzerstörung steht. Im U.S.-amerikanischen Kontext ist die Demokratische Partei keine Freundin von Latinas, Schwarzen und migrantischen Frauen der Arbeiter*innenklasse.
Auch die erfolgreiche Wahl von Frauen* verschiedener Hintergründe ändert nichts an dem imperialistischen Charakter der Demokratischen Partei. Aus diesem Kontext heraus, so James, könne man sich nicht auf einen die Herrschaftsverhältnisse umkehrenden Kampf innerhalb eingesessener Parteien des bürgerlichen Staates verlassen. Identitätspolitische Ansätze seien da keine Lösung. Die hohen politischen Positionen von Frauen* wie Hillary Clinton werden oft von Feministinnen als Erfolg für Frauen* und Frauen*rechte proklamiert. „Frauen wie Hillary Clinton sind jedoch nicht deine Freundinnen. Sie sind der Klassenfeind,“ so James auf dem Göttinger Vernetzungstreffen. Es sei irreführend, anzunehmen, Frauen* wie Hillary Clinton würden die Interessen lohnabhängiger Frauen vertreten, bloß weil sie auch Frauen* sind.
Oft unterschätzt von Karrierefeministinnen weltweit, führt James ihre Kämpfe um Lohngleichheit und Entlohnung von Haus- und Lohnarbeit konstant mit ihren Genoss*innen an der Basis fort. Sie setzt sich entschlossen und kompromisslos für Frauen* auf der ganzen Welt ein, von den USA bis Trinidad, von Tanzania bis Großbritannien.
Nicht nur aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung und ihrer unersetzlichen Kenntnisse war James‘ Besuch in Deutschland im Rahmen der Vorbereitungen für den Frauen*streik von großer Bedeutung. Ihr Besuch erweckte und bestärkte den Kampfgeist und den Willen vieler Aktivistinnen* hin zu einer großflächigen Veränderung der Machtverhältnisse weltweit. Sie bekräftigte den gemeinsamen Kampf im Kollektiv und stellte sich zielbewusst und unterstützend hinter die Aktivistinnen* des Frauen*streiks. James nahm sich die Zeit, um viele Frauen* individuell kennenzulernen. Sie lauschte unseren Sorgen und Bedürfnissen und spitzte unsere Wut zu. Beim Armdrücken in einer Göttinger Kneipe am Samstagabend, erklärte James, was es bedeutet, sein Leben einem politischem Kampf zu widmen. Selma James lehrte uns nicht nur die Inhalte eines Feminismus der Arbeiter*innenklasse, sondern lebte diesen in jeder Minute ihres Aufenthaltes aktiv vor.
Quelle. lowerclassmag.com… vom 18. November 2018
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitswelt, Deutschland, Frauenbewegung, Postmodernismus, USA
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