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Landesstreik 1918: Die politische und soziale Lage davor

Eingereicht on 29. November 2018 – 15:10

Vor hundert Jahren stand die Schweiz still: Drei Tage lang legten über 200‘000 Arbeiter*innen die Arbeit nieder, während um sie die Monarchien und Länder zerfielen. Auch heute noch gilt dieser Generalstreik als eines der wichtigsten innenpolitischen Ereignisse seit 1848. Im ersten Teil soll es um die politische und soziale Lage vor dem Landesstreik gehen.

Die Streiks vor dem Krieg

Um den Weg zum Landesstreik zu verstehen, muss man auch die lebendige Tradition von Arbeitskämpfen dahinter verstehen. Dies mag überraschen, ist die Schweiz in der Moderne nicht gerade bekannt für ihre übermässige Streikkultur. 2015 waren es zwar 13‘500 Menschen, welche streikten, in den Vorjahren im Schnitt jedoch nur gerade 1300. Seit Jahrzehnten weist die Schweiz im Vergleich mit den umliegenden Ländern eine sehr geringe Streikanzahl auf. Doch dies war nicht immer so.

Nach den ersten grossen Arbeitskämpfen in den 1860ern wuchs die Rate der Streiks stetig an. Der vorläufige Höhepunkt wurde, wie Europaweit ähnlich, 1905 bis 1907 erreicht: In diesen drei Jahren gab es insgesamt über 700 Streiks mit 79‘000 Beteiligten [1]. Angespornt von der gescheiterten Revolution 1905 in Russland, kam es auch in der Schweiz zu einem Überdenken der Strategien. Trotz der Niederschlagung hatten die Massenstreiks in Russland gezeigt, welche politische Macht die Arbeiter*innen durch kollektive Arbeitsniederlegungen hatten, und dass ohne sie nichts läuft in dieser Gesellschaft. Die syndikalistischen Teile der Linksradikalen sahen sich in ihrer bisherigen Proklamation des Generalstreiks als revolutionärem Mittel bestärkt. Und Teile der gemässigten Linken sahen Streiks zunehmend als ergänzendes Mittel zu ihrem parlamentarisch-reformistischen Programm. So sprach sich auch Robert Grimm, das spätere Flaggschiff der Sozialdemokratie, 1906 für Massenstreiks als begleitendem Mittel des sozialistischen Reformismus aus. Anders sahen dies die grossen Funktionär*innen der Gewerkschaften. Zu nah war für sie der Massenstreik an der Ideologie der Kommunist*innen und des Anarcho-Syndikalismus. Letzterer sieht Massenstreiks und schlussendlich die Übernahme aller Fabriken, Felder und generell der Produktionsmittel durch die Arbeiter*innen als Weg zur Sozialen Revolution und Befreiung an.

International vernetzt

Dass die Schweiz 1905 bis 1907 der internationalen Streikwelle folgte, lag auch an ihrer internationalen Vernetzung. Viele politische Exilant*innen flohen schon seit Jahrzehnten in die Schweiz. So war zum Beispiel das Juragebiet in den 1870er und 80er Jahren ein Treffpunkt für internationalistische Anarchist*innen wie Bakunin und Guillaume, welche im Jura unter anderen die „Schwarze“ Internationale – als Abspaltung zur 1. sozialistischen Internationalen – 1882 gründeten. Generell war die Schweiz Hort vieler sozialistischer Vereinigungen. Der Kongress der Zweiten Internationalen fand 1912 in Basel statt. Im 1. Weltkrieg sah die Schweiz gleich vier namhafte sozialistische Kongresse: Jenen in Zimmerwald (September 1915), im Kiental (April 1916), den Frauenkongress gegen den Krieg im Mai 1915 und der internationale Kongress der sozialistischen Jugend im April gleichen Jahres. Während des ersten Weltkriegs waren viele namhafte Linksradikale in der Schweiz. Im Gegensatz zu anderen Ländern war die Schweiz durch ihre (Pseudo-)Neutralität ein relativ sicherer Hafen.

Gleiches zeichnete sich auch bei den Gewerkschaftsmitgliedern ab. Viele davon waren Menschen ohne Schweizer Pass. Dadurch kam es immer wieder zu international koordinierten Streiks, Austausch von Taktiken und Nachrichten. Die Besitzenden ihrerseits versuchten immer wieder Streikbrecher*innen aus dem Ausland anzuwerben.

So kam von bürgerlicher Seite schon damals der Vorwurf, die Arbeiter*innenbewegung sei von fremden Mächten gesteuert, mitunter auch Vorwürfe mit antisemitischer Färbung.

Die Situation der Schweiz im 1. Weltkrieg

Am 2. August, wo sich bereits die beiden Bündnisse [2] in Kriegsbereitschaft gesetzt hatten, liess auch der Bundesrat mobilisieren und sich mit weitreichenden Kompetenzen ausstatten. Ab dem 2. August herrschte der Ausnahmezustand.

Zwar blieb die Schweiz vor direkten Angriffen verschont, doch das Land war stark vom Handel abhängig und von diplomatischen Beziehungen zu beiden Seiten beeinflusst. So war die Rüstungsindustrie eine wichtige Einnahmequelle – es wurde wohlgemerkt für beide Seiten produziert, während sich gerade die deutschschweizer Elite eher auf Seite des Deutschen Reiches sah. Doch besonders der gesunkene Import lebensnotwendiger Mittel schlug sich in einer massiven Inflation nieder. Die Preise stiegen im Schnitt um das Doppelte: Der Preis für Lebensmittel stieg auf 187%, jener von Treibstoff und Heizmitteln gar auf 234%.

Extreme Armut

Auf der anderen Seite des Profits stand die Arbeiter*innenklasse. Diese hatte massiv mit der Inflation zu kämpfen. Die Löhne auf dem Vorkriegsniveau reichten schon kaum zum Leben, während des Kriegs wurden diese kaum an die Inflation angepasst. So sanken die Reallöhne um einen Viertel auf das Niveau der 1890er zurück. Hinzu kam die Einziehung vieler Soldaten. Der Sold galt im Schnitt nur gerade mal zwei Stunden Arbeit pro Tag ab, was gerade Familien in die Krise stürzte. Auffangen durften es mal wieder die Arbeiterinnen: Deren Arbeit wurde existenziell zum Überleben. So waren sie schlussendlich allein verantwortlich für Arbeit, Kinder, und Haushalt. Zudem war die Lohnungleichheit schon damals massiv; im Schnitt verdienten sie 40% weniger als ihre männlichen Genossen, mussten also noch mehr schuften als ohnehin schon. Und dazu kam eben noch die Inflation, welche das Überleben in den nächsten Wochen ungewiss machte. Auf der anderen Seite standen die Profiteur*innen der Inflation und des Krieges: Gerade die Bäuer*innen verdienten immer mehr durch die Inflation, dies betraf jedoch eher die Grossproduzent*innen. Klare Profiteure des Krieges waren jedoch die Rüstungsmagnaten.

Volksküchen

Volksküchen wurden zu einer Notwendigkeit für die Arbeiter*innen. Diese wurden vor allem von Vereinen, den Kantonen und Städten selbst geführt.

Aufstieg der Gewerkschaften

Die bürgerliche Mehrheit des Parlaments um die Liberalen herum hatte schon mehrfach bewiesen, dass die Sorgen der Arbeiter*innen nicht ihre waren. Selbst jene, welche an den Parlamentarismus glaubten, wurden vom Schweizer System enttäuscht. Das Proporzsystem wurde erst 1918 kurz vor dem Landesstreik eingeführt, bis dahin herrschte das Majorzsystem, welches die Sitze eines Wahlkreises nach dem „Alles-oder-Nichts“-Prinzip vergibt. Davon profitierten vor allem die Liberalen, welche seit 1848 an der Macht waren, welche die Bürger(!)rechte [3] hochhielten, jedoch nur für die Bourgeoisie. Die SP, welche sich als Vertreterin der Arbeiter*innen ansah, bekam durch das Majorz-System regelmässig nur die Hälfte der Sitze, welche ihr durch ihren Wähler(!)anteil zugestanden hätte.

So blieb nur eines: Sich selbst zu organisieren. Dies vorwiegend in Gewerkschaften und anderen Selbsthilfegruppierungen. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund wuchs zum Beispiel von 78‘000 Mitgliedern vor dem Krieg auf 223‘000 am Ende des Kriegs. Die SP-Mitglieder verdreifachten sich. Jedoch waren vorwiegend Männer gewerkschaftlich aktiv – bzw. konnten gewerkschaftlich aktiv werden – der Dachverband der Gewerkschaften, der Schweizerische Gewerkschaftsbund SGB, wies gerade mal einen Frauenanteil von 20% auf.

Marktaufstände

Dies mag erstaunen. Denn gerade die „Haus“Frauen trugen die meiste Last, welche sich durch den Krieg ergab. Durch die traditionellen Genderrollen waren oftmals sie zuständig für die Essens-Besorgung, welche durch die Inflation massiv erschwert war. Gerade in armen Familien war es eine Notwendigkeit, dass auch Frauen und Kinder arbeiten gingen. Durch den Einzug ihrer (Ehe-)Männer – wenn sie denn überhaupt welche hatten – waren sie alleine für die Geldbesorgung, Haushalt, Erziehung und Essen verantwortlich. So erstaunt es auch nicht, dass 1915 der Frauenkongress gegen den Krieg stattfand. Während des Kriegs kam es vereinzelt zu Hungerstreiks. Viel gewichtiger waren die Marktaufstände: So sollen sich verschiedene, vor allem sozialistische Frauenvereinigungen auf den Markt begeben haben und versuchten die horrenden Preise der Verkäufer*innen zu drücken. Weigerten sich diese, wurden entweder die Körbe umgeworfen und das Essen von den Umstehenden gestohlen, oder aber was viel öfter vorkam: Die Frauen verdrängten die Verkäufer*innen und verkauften das Essen zu faireren Preisen, der Erlös wurde dann den Verkäufer*innen zurückgegeben. Solcher Widerstand häufte sich gen Ende des Krieges, da die staatliche Notversorgung der Armen bei weitem nicht ausreichte und die Not immer mehr zunahm.

Der Burgfrieden bröckelt

Wie auch die SPD in Deutschland, beschloss die SP Schweiz anfangs noch den Burgfrieden zu wahren. Soll heissen: Arbeitskämpfe auf ein Minimum zu beschränken und keine zu laute Kritik an der Regierung zu äussern. Im Gegensatz zu Deutschland musste die SPS jedoch nicht einen aktiv geführten Krieg mittragen. Es kam jedoch immer wieder zu Kriegskrediten im Parlament, welche das stehende Heer finanzierten. Als sich der „kurze“ Krieg – wofür ihn die Grossmächte hielten – langsam zu einem mehrjährigen Massaker ohne echte Gebietsgewinne entwickelte, bröckelte auch die ohnehin dürftige Unterstützung für die Burgfrieden-Politik. Diese stand schon 1914 von Links aussen in Kritik und wurde aus internationalistischer Sicht als proletarischer Geschwistermord betrachtet. Waren es doch oft arme Menschen, vorzüglich Arbeiter*innen, welche an der Front als Kanonenfutter eingesetzt wurden. So stellten sich schon früh die kommunistischen und anarchistischen Kräfte gegen den Krieg. Die linken parlamentarischen Kräfte wurden dazu gedrängt, die Kriegskredite an die Armee abzulehnen.

Mit zunehmender Dauer des Kriegs stieg nicht nur die Not der armen Bevölkerung, sondern auch deren Kampfeswille. War anfangs des Kriegs die Streikrate auf einem Tief (12 Streiks mit 1547 Beteiligten), nahm diese im Verlaufe des Kriegs wieder zu (1918: 24‘000 in 269 Streiks, Landesstreik ausgeschlossen).

Nebst Streiks und Marktaufständen, bediente sich die Bewegung verschiedener Mittel. Bummelstreiks, Hungerstreiks vor allem von Arbeiterinnen, Militärdienstverweigerung und Demonstrationen gegen den Krieg. Die erfolgreich geglaubte Revolution in Russland im November 1917 feuerte den Klassenkampf nochmals gehörig. an. Mit der bedingungslosen Kapitulation Russlands entspannte sich auch die Lage für die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn, jedoch war im April 1917 auch die USA in den Krieg eingetreten und die Mittelmächte befanden sich immer mehr in der Defensive.

„Wir haben eine Barrikade gebaut“ in Zürich

Ende 1917, nach drei Jahren Krieg, war der Wille der Mittelmächte-Bevölkerung am Bröckeln. Während sich die Regierungen an Lippenbekenntnisse machten, ihre Länder nach dem Krieg demokratisch zu reformieren, stieg der Unmut der Bevölkerung. Auch in der Schweiz machte sich Unmut über die Verelendung der Arbeiter*innen breit. Repression war ein grosses Thema. Regelmässig wurden Streiks oder überregionale Demonstrationen mit Hilfe des Militärs unterbunden. Die Rüstungsproduktion sowohl für die Entente wie auch die Mittelmächte war eine relativ gutbezahlte Arbeit, doch auch diese Aufträge nahmen gegen Ende des Krieges ab. Trotzdem kam es immer wieder zu Anti-Kriegsdemonstrationen. So auch am 16. November 1917 in Zürich. Die Polizei – damals unter Leitung des Sozialdemokraten Vogelsanger – drängte in die Demonstration und verhaftete Redner*innen und andere. Darauf zogen am nächsten Tag wütende Arbeiter*innen vor den Polizeiposten und verlangten deren Freilassung. Es kam zu Auseinandersetzungen und eine Person wurde erschossen. Darauf wurden Barrikaden errichtet und es kam zu Strassenschlachten. Zürich rief den Belagerungszustand aus, das einrückende Militär eröffnete das Maschinengewehrfeuer. Bilanz der Nacht: Drei Arbeiter*innen, eine Zuschauerin und ein Polizist getötet, etliche werden verwundet. Fritz Brupbacher, Arbeiter*innenarzt und Zeitzeuge, schrieb dazu [4]: „Noch monatelang sprach das ganze Volk von der Barrikade und phantasierte, wie man ihrer mehr hätte bauen, wie man sich hätte verhalten sollen, um Polizei und Militär zu besiegen (…) Bis zum November 1917 war es eine kleine Minorität, die an Revolution dachte. Nach dem 17. November wurde der bewaffnete Widerstand (…) Gespräch weiter Schichten der Arbeiterschaft“. Dies war jedoch nicht in der ganzen Schweiz so.

Das Oltener Aktionskomitee OAK

Aufseiten der Sozialdemokratie formierte sich im Februar 1918 ein Zusammenschluss aus Gewerkschaften und Partei: Das Oltener Aktionskomitee war dazu gedacht, Aktionen der SP Schweiz und der linken Gewerkschaften zu Koordinieren. Die Idee des Generalstreiks geisterte schon lange durch die Köpfe, wurde mit der Not gegen Ende des Krieges immer aktueller. Schon im April und Juni mit dem Landesstreik, wenn der Milchpreis steigen sollte. Verhandlungen begannen mit dem Bundesrat, blieben jedoch erfolglos. Der Milchpreis stieg, doch die Drohung mit dem Generalstreik entpuppte sich als Bluff. Am 9. August – Ein Tag nachdem die deutsche Westfront zusammenbrach – setzte die Regierung schlussendlich ein Anti-Landesstreik-komitee ein, welches im geheimen Vorbereitungen traf. In Deutschland wird lauter über Revolution und gewaltsame Umstürze nachgedacht. Die Schweizer Regierung befürchtet, dass durch die internationale Vernetzung der Arbeiter*innen dies auch auf die Schweiz übergreifen kann.

Auf der einen Seite befinden sich also Militarist*innen, welche ein Aufbegehren der Arbeiter*innen mit allen Mitteln niederschlagen will, auf der Anderen verelendete Arbeiter*innen, welche von einer Alternative träumen. Und Mittendrin die SP und SGB, welche nicht genau wissen, wie sie der Lage Herr werden wollen und die drohende Konfrontation noch abwenden können.

FAT

Freie Arbeiter*innen Union Bern

zuerst erschienen in di schwarzi Chatz #52, Mai/Juni-Ausgabe, hier herunterladen

Quelle : barrikade.info… vom 29. November 2018

 

[1] Dies sind im Schnitt etwa 25‘000 Streikende pro Jahr, was 10000 mehr sind als 2015. Dazu muss auch der Bevölkerungswachstum betrachtet werden: Seit 1900 hat sich die Bevölkerung der Schweiz von ca. 3,3 Millionen auf 8.4 Millionen mehr als verdoppelt. Es waren also anteilsmässig viel mehr Menschen in Arbeitskämpfen beteiligt.

[2] Die Entente um Frankreich, Russland und England und die Mittelmächte um das deutsche Reich und Österreich-Ungarn.

[3] Zur Erinnerung: Das Frauenwahlrecht kam erst in den 1970ern bzw. wurde erst 1990 in allen Kantonen umgesetzt.

[4] Vgl. Fritz Brupbacher: Zürich während Krieg und Landesstreik, 1928

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