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Intersektionalität und marxistische Gesellschaftstheorie

Eingereicht on 23. November 2018 – 11:35

Etienne Schneider. Für Marx ist die bürgerliche Gesellschaft grundsätzlich widersprüchlich: Sie ist durchzogen vom zentralen Antagonismus, dass sich eine herrschende Gruppe den gesellschaftlichen Reichtum und das gesellschaftliche Arbeitsvermögen, vermittelt durch den Prozess der kapitalistischer Produktion und Akkumulation, privat aneignet – ein Vorgang, gegen den sich die von der privaten Aneignung ausgeschlossenen Gruppen mit verschiedenen Kämpfen zur Wehr setzen. In der Geschichte der Linken und ihrer Kämpfe um Emanzipation war die Zentralität dieses Antagonismus jedoch stets umstritten – und sie blieb es bis heute: In feministischen Kämpfen wird seit Jahrhunderten gegen patriarchale Verhältnisse angegangen, durch die Frauen und Menschen nicht-männlichen Geschlechts sexuell, körperlich und ökonomisch ausgebeutet, politisch ausgeschlossen, kulturell erniedrigt und rechtlich diskriminiert werden. Antikoloniale und antiimperialistische Kämpfe wandten und wenden sich gegen die gewaltsame Besetzung, rassistische Strukturierung, kulturelle Degradierung und ökonomische Exploitation eines Großteils der Erde durch den ‘Westen’ und gegen die damit verbundene massenhafte Versklavung und Tötung der Kolonialisierten.

Antirassistische Bewegungen treten dem Fortbestehen kolonialistischer und nationalistischer Verhältnisse entgegen; sie bekämpften und bekämpfen die systematische rassistische Vernichtung, Verfolgung und Ermordung von Menschen. Sie setzen sich zur Wehr gegen die bürokratische Herrschaft und die alltägliche Gewalt im Inneren der westlichen Zentren sowie gegen die oft tödliche Abschottung ihrer Grenzen nach außen. Wieder andere Kämpfe richten sich gegen Homophobie, Heteronormativität, die Privilegierung von Geschlechterbinarität und darauf basierenden konventionellen Lebensformen, die zerstörerische Beherrschung und Aneignung von Natur oder gegen die Pathologisierung, Psychiatrisierung und Exklusion von Menschen, die körperlich oder psychisch als jenseits der Norm stehend klassifiziert werden. Dieser Pluralität sozialer Kämpfe steht aber auch vielfach Hinnahme, Ertragen, Resignation, effiziente Repression und Einschüchterung gegenüber. Viele Herrschaftsverhältnisse können sich stabil reproduzieren, ohne dass sich spontan Widerstand gegen sie formiert. Oft verbleibt er auch auf der Ebene individualisierter und veralltäglichter Kämpfe, die sich nicht zu übergreifenden sozialen Auseinandersetzungen verdichten.

Wann immer sich jedoch Widerstand organisiert und er in verschiedenen sozialen Kämpfen gesellschaftliche Herrschaft in Frage gestellt hat, entwickelten sich auch Begriffe von Gegensätzen und Widersprüchen: zwischen Klassen, zwischen Geschlechtern, zwischen Zentrum und Peripherie, Kolonialherren und Kolonialisierten, zwischen weißen [1] und nicht-weißen Menschen, zwischen konventionellen und queeren Lebensformen, zwischen ‘gesunden’ und pathologisierten Menschen. Gleichzeitig ist die Geschichte dieser Kämpfe und Widersprüche keine Geschichte isolierter Stränge: Das Verhältnis dieser Widersprüche und Kämpfe zueinander, ihre Verschränkung und Verwobenheit, und nicht zuletzt ihre Gewichtung und Priorisierung, waren innerhalb der Linken ähnlich umstritten und umkämpft wie die richtige Analyse und Vorgehensweise gegen alle diese Widersprüche im Einzelnen.

Einer von vielen Versuchen, wenngleich der aktuell populärste, das Verhältnis und die Verschränkung zwischen dieser Vielzahl an Widersprüchen zu fassen, stellt das aus dem Feminismus stammende Konzept der Intersektionalität dar, das sich besonders im nordamerikanischen und westeuropäischen Raum zunehmender Beliebtheit erfreut. Vor dem Hintergrund der Problematisierung der Annahme einer einheitlichen weiblichen Unterdrückungserfahrung konnte sich der Begriff der Intersektionalität in feministischen Diskussionen vor allem deshalb durchsetzen, weil er verspricht, verschiedene Diskriminierungsformen in ihrer Wechselwirkung zu erfassen, ohne von vornherein eine Auswahl relevanter Unterdrückungskategorien zu treffen. Aber auch über feministische Debatten hinaus findet der Begriff verstärkt Anklang, wenn es darum geht, eindimensionale oder ökonomistisch verkürzte Argumentationsmuster in marxistischen und anderen linken Auseinandersetzungen zu kritisieren. Die Popularität des Konzepts reicht mittlerweile sogar so weit, dass das Adjektiv „intersektional“ teilweise synonym für den allgemeinen Versuch verwendet wird, verschiedene Widersprüche und Herrschaftsformen zusammen zu denken. Insbesondere aus marxistischer und feministischer Richtung wurde aber auch intersektionalen

Analysen vorgeworfen, verkürzend vorzugehen, indem lokale Einzelmomente und Einzelerfahrungen lediglich empiristisch betrachtet werden, ohne diesen Betrachtungen ein Verständnis sozialer Realität als Totalität eines umfassenden Strukturzusammenhangs zugrunde zu legen.

Doch wirft diese Kritik am Intersektionalitätsansatz selbst eine Reihe von Problemen auf: Ganz grundlegend stellt sich mit dem Bezug auf den Begriff der Totalität die Frage, ob sich kapitalistische Gesellschaften überhaupt als Ganzheit im Sinne eines integralen Strukturzusammenhangs verstehen lassen – und wenn ja, wie die Konstitution dieses Zusammenhangs zu denken ist. Lässt sich von einem konstituierenden Prinzip und damit verbunden einem grundlegenden Widerspruch ausgehen, woraus dann eine gemeinsame Emanzipationsperspektive entsteht? Oder werden kapitalistische Gesellschaften durch verschiedene grundlegende Strukturlogiken durchzogen, die zwar interferieren und einen Zusammenhang ergeben, letztlich aber in ihrer Eigenständigkeit gedacht werden müssen?

Diese Fragen betreffen auch den Stellenwert und die Reichweite marxistischer Gesellschaftstheorie: Lässt sich im Anschluss an Marx eine Gesellschaftstheorie entwickeln, in der alle wesentlichen Dimensionen, Sphären, Strukturlogiken und Widersprüche sozialer Realität erfasst sind, oder sollte sich marxistische Theoriebildung vielmehr auf einzelne Dimensionen und Widersprüche des Sozialen wie die Ökonomie und den Klassenantagonismus beschränken? Aus der Auseinandersetzung mit dem Intersektionalitätsansatz ergeben sich insofern Fragen, die auch eine Kontroverse berühren, die in der PROKLA 165 geführt wurde: Hier hat Alex Demirović die These vertreten, dass der Anspruch der Marx’schen Analysen ein umfassend gesellschaftstheoretischer gewesen sei. Die Vorstellung einer „Dialektik von Basis und Überbau“ (Demirović 2011: 540) bei Marx solle darauf hinweisen, dass soziale Verhältnisse als Überbauten zwar verschiedenen Logiken folgen können und insofern gegenüber den ökonomischen Gesetzen der Basis autonom werden, dass alle diese Verhältnisse aber dennoch eine „Einheit der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse bilden“ (539ff.). Im Unterschied dazu hat Hanna Meißner argumentiert, dass sich die Marx’sche Rekonstruktion der kapitalistischen Produktionsweise zwar für die Analyse der ökonomischen Dimension des Sozialen eigne, jedoch keine Gesellschaftstheorie im umfassenden Sinne zu leisten vermöge. Die analytische Ebene, auf der Marx’ Kritik der politischen Ökonomie angesiedelt sei, lasse beispielsweise „keine Aussage über Geschlechterverhältnisse oder Heteronormativität zu“ (2011: 543ff.). Diese Position entwickelt Meißner im Rahmen einer queer-feministischen Problematisierung des Versuchs von Ursula Beer (1990), die ‘Blindstellen’ von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse zu schließen, den sie aufgrund der zugrundeliegenden Essentialisierung von Zweigeschlechtlichkeit und der ahistorischen Vorstellung eines Generativitätserfordernisses für gescheitert hält.

In diesem Artikel geht es mir um drei Punkte: Erstens möchte ich deutlich machen, dass intersektionale Analysen zwar einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie versuchen, verschiedene Diskriminierungsformen in ihrem Zusammenhang zu verstehen, diese Analyseperspektive aber auch erhebliche Schwächen mit sich bringt, weil sie zu mikrologischen, empiristischen Betrachtungen tendiert. Mein Anspruch ist es dabei nicht, allen Untersuchungen, die sich auf das Intersektionalitätskonzept beziehen oder dieses vielfach auch sinnvoll weiterentwickelt haben, pauschal eine verkürzende, empiristische Sichtweise zu unterstellen und so deren wichtige Beiträge zu einer herrschaftskritischen Sozialwissenschaft zu leugnen.

Vielmehr möchte ich anhand der Kritiken von Himani Bannerji und von Gudrun-Axeli Knapp am Konzept der Intersektionalität auf das grundlegende Problem verweisen, dass der mikrologische Fokus intersektionaler Analysen oftmals keine Aussagen über den gesellschaftstheoretischen Zusammenhang verschiedener Widersprüche und Herrschaftsverhältnisse treffen kann (Abschnitt 1). Zweitens geht es mir aber auch andersherum darum, ein zentrales Problem aufzuzeigen, das die Kritiken von Bannerji und Knapp am Intersektionalitätsansatz aufwerfen, wenn sie gegen den Intersektionalitätsansatz die Totalitätskonzeptionen und Gesellschaftsbegriffe von Marx und Adorno in Stellung bringen. Dazu werde ich einzelne Aspekte der Totalitätskonzeption bei Marx und Adorno näher beleuchten, um klar zu machen, dass Marx’ und Adornos Überlegungen zur Konstitution des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs in erster Linie auf ökonomische Funktionszusammenhänge abstellen (Abschnitt 2). Drittens – und hierin besteht mein eigentliches Argument – bedeutet das jedoch nicht, dass marxistische Gesellschaftstheorie zwangsläufig ökonomistisch oder reduktionistisch angelegt sein muss, wie vielfach argumentiert wurde (Abschnitt 3). Vielmehr möchte ich die These entwickeln, dass marxistische Gesellschaftstheorie ihrem Potential nach mehr als nur die ökonomische Dimension der kapitalistischen Produktionsweise erfassen kann – und zwar, indem sie es erlaubt, den Zusammenhang verschiedener Herrschaftsverhältnisse anders als im geläufigen Intersektionalitätsverständnis nicht bloß empiristisch, sondern als immanenten Zusammenhang auf der Ebene eines umfassenden gesellschaftlichen Strukturzusammenhangs zu denken. Um dieses Argument zu entfalten, werde ich mich auf die gesellschaftstheoretischen Überlegungen von Althusser und deren feministische Weiterentwicklung durch Ursula Beer beziehen. Dabei werde ich auch auf die queer-feministische Kritik an Beers Ansatz durch Meißner in PROKLA 165 eingehen, wobei ich mit Bezug auf Silvia Federicis Arbeit zu den geschlechtlichen und kolonialen Dimensionen der so genannten ‘ursprünglichen Akkumulation’ deutlich machen will, warum ich Meißners Kritikpunkt in sich zwar richtig finde, nicht jedoch die theoretischen Konsequenzen, die sie daraus zieht (Abschnitt 4).

  1. Intersektionalität – zwischen empiristischer Verengung und gesellschaftstheoretischer Erweiterung

„Intersektionalität“ avancierte in den letzten zwei Jahrzehnten zum „buzzword“ in den kritischen Sozialwissenschaften (Davis 2008). Hinter dem Konzept verbirgt sich gemeinhin der Anspruch, Unterdrückungsformen und soziale Ungleichheitslagen sowohl in ihrer Eigenständigkeit als auch in ihrer Verwobenheit zu erfassen. Der ursprünglich von der Juristin Kimberlé Crenshaw (1989) geprägte Begriff wurde in den frühen 1990er Jahren im US-amerikanischen Feminismus zunehmend populär, da er eine theoretische Weiterentwicklung des Triple-Oppression-Konzepts sowie eine konzeptuelle Antwort auf die bereits seit den 1970ern innerhalb des Feminismus geführten Debatten zu bieten schien, in denen Schwarze Frauen die Annahme einer einheitlichen weiblichen Unterdrückungserfahrung infrage stellten und dabei verstärkt die Berücksichtigung von Lebensverhältnissen jenseits der weißen Mittelschicht einklagten (vgl. Combahee River Collective 1983). Während die Anzahl der zu berücksichtigenden Ungleichheitskategorien in der Intersektionalitätsforschung bis heute offen ist und kontrovers diskutiert wird, verbindet so gut wie alle intersektionalen Analysen die gemeinsame Grundüberzeugung, dass sich verschiedene Unterdrückungserfahrungen nur in den je spezifischen Wechselwirkungen erfassen und nicht additiv aneinanderreihen lassen.

Trotz seiner aktuellen Popularität blieb der Intersektionalitätsbegriff jedoch nicht unumstritten. Neben vielen kritischen Weiterentwicklungen, die den Intersektionalitätsbegriff in einen Mehrebenenanalyseansatz differenzieren (Degele/Winker 2010) oder stärker für bestimmte mikrosoziologische Untersuchungen eingrenzen (Collins 1995), entwickelten sich auch Kritikstränge, die sich allgemein gegen das Intersektionalitätskonzept wenden. Um ein grundsätzliches Problem deutlich zu machen, konzentriere ich mich hier auf die marxistisch ausgerichtete Kritik von Himani Bannerji in ihrem Aufsatz Building from Marx: Reflections on „race“, gender and class (2005) sowie auf die feministisch orientierte Kritik von Knapp (2008), die sich besonders auf den Gesellschaftsbegriff Adornos bezieht.

Bannerji zufolge reduziert Intersektionalität „race“, class und gender auf „three particular strands of social relations and ideological practices of difference and power [which] are seen as arising in their own specific social terrain, and then criss-crossing each other ‘inter-sectionally’ or aggregatively“ (144, Herv. ES). In diesem Sinne wird class als ökonomische, gender bzw. Patriarchat als soziale und „race“ bzw. Ethnizität als kulturelle Kategorie aufgefasst. Spiegelbildlich zerfällt soziale Realität in jeweils für sich abgeschlossene Sphären des Ökonomischen, des Politischen und des Kulturellen, wobei die Integrität des Sozialen zerstückelt und ein Begriff von Gesellschaft als Totalität aufgegeben wird. Als Konsequenz – so insbesondere auch Johanna Brenner (2002: 336) – wird der Zusammenhang dieser isolierten sozialen Segmente nur noch empiristisch bzw. ‘lokalistisch’ hergestellt: durch die Betrachtung einzelner sozialer Räume, in denen sich die Stränge gesellschaftlicher Unterdrückung im Sinne eines Kreuzungspunktes zu Erfahrungen und Identitäten von Individuen oder Einzelgruppen verknüpfen (Bannerji 2005: 144, 146).

Demgegenüber, so Bannerji, muss das Soziale im Anschluss an Marx’ Überlegungen aus der Einleitung von 1857 so verstanden werden, dass jeder soziale Mikrokosmos den Makrokosmos widerspiegelt und in sich trägt (Bannerji 2005: 146). Bannerji zielt also darauf ab, das Verständnis der Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Herrschaftsverhältnissen über den zusammenhangslosen, lokalen Kreuzungspunkt hinaus gesellschaftstheoretisch aus einer Perspektive des Sozialen als Ganzheit bzw. Totalität zu entwickeln. In diesem Sinne geht es Bannerji um eine Re-Kontextualisierung de-kontextualisierter sozialer Einzelmomente und -sphären, die eine scheinbare, ideologische Selbstständigkeit angenommen haben, und um deren Rückbindung an die ihnen zugrundeliegende und sie vermittelnde Totalität sozialer Verhältnisse (155). Solange diese Integrität des Sozialen nicht zum Ausgangspunkt kritischer Theoriebildung gemacht wird, verfallen nach Bannerji auch intersektionale Analysen einem Reduktionismus, deren Überwindung sie gegenüber ökonomistischen Varianten des Marxismus eigentlich beanspruchen: Wie im mechanischen Basis-Überbau-Modell mit seiner entsprechenden Fragmentierung sozialer Sphären laufen intersektionale Ansätze darauf hinaus, das Soziale in eine Vielzahl separater, lediglich äußerlich und empiristisch aufeinander bezogener Segmente aufzulösen, ohne deren konstitutiven Zusammenhang theoretisch zu entwickeln (156).

Für entscheidend halte ich, dass Bannerji aus einer an Marx anschließenden Perspektive zwar überzeugend darlegt, in welche Fallstricke intersektionale Analysen geraten können, wenn sie den übergreifenden Gesamtzusammenhang sozialer Realität aus dem Blick verlieren. Allerdings lassen Bannerjis Ausführungen ihrerseits im Unklaren, wie der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang im Anschluss an Marx überhaupt gedacht werden kann, ohne wiederum ein zentrales, integrierendes Konstitutionsprinzip herauszustellen. Weiterführender erscheint an diesem Punkt ein zweiter, zentraler Strang der Kritik am Intersektionalitätskonzept aus der deutschsprachigen feministischen Diskussion: der gesellschaftstheoretisch ausgerichtete Ansatz der „axialen Prinzipien gesellschaftlicher Strukturierung“ oder auch „Achsen der Ungleichheit“, wie er von Gudrun-Axeli Knapp in Zusammenarbeit mit Cornelia Klinger entwickelt wurde (Knapp 2008; Klinger/Knapp 2007). Ähnlich wie Bannerji argumentiert auch Knapp, dass eine deskriptive, lokalistische oder mikrologische Betrachtung der Intersektionalität und marxistische Gesellschaftstheorie Wechselwirkungen von Ungleichheiten „nicht ausreicht für ein umfassenderes Verständnis für die Einbindung von Individuen und Gruppen in soziale Verhältnisse“, und plädiert daher für eine gesellschaftstheoretische Perspektive, die den „VorBegriff [sic!] eines gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs voraussetzt, um überhaupt fundierte Vorstellungen des spezifischen Gewichts, der Einbettung und der historischen Relationalität der Elemente zu gewinnen, die das Ganze konstituieren.“ (Knapp 2008: 142)

Konzeptuell knüpft Knapp an Adornos Gesellschaftsbegriff an, um soziale Konfigurationen in ihrer Prozessualität zu erfassen und Gesellschaft in diesem Sinne als „strukturierten historischen Verflechtungszusammenhang“ zu verstehen, dem ein „Moment des Überhangs an Objektivität“ sowie der „Aspekt der Verselbständigung der Verhältnisse gegenüber dem Verhalten und Handeln der Einzelnen“ eigen ist (142f.). Im Unterschied zu Bannerji ergibt sich daraus jedoch eine andere Konzeption des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs. Während Bannerji eine nicht weiter bestimmte Ganzheit eines Strukturzusammenhangs betont, geht der Ansatz von Knapp von einer Pluralität von Strukturlogiken und damit verbundenen Achsen der Ungleichheit aus. Die entscheidende Aufgabe kritischer Gesellschaftstheorie besteht für Knapp daher darin, „die empirische Gleichzeitigkeit, die Ko-Artikulation und Interferenzen (Dazwischenkünfte)“ zwischen diesen Achsen der Ungleichheit theoretisch zu rekonstruieren, „ohne die Differenz zwischen Klassenrelationen, nationalstaatlichen (ggf. ethnisierten bzw. rassistischen) Strukturierungen und Geschlechterverhältnissen begrifflich einzuebnen“ (Knapp 2008: 148). Auch dieser Ansatz ist nicht ohne Probleme: Es stellt sich die Frage, wodurch sich der Zusammenhang der Gesellschaft eigentlich konstituiert – denn die Rede von „axialen Prinzipien“ legt eine Pluralität sozialer (Herrschafts-)Zusammenhänge nahe, die zwar ineinandergreifen und sich verflechten, letztlich in ihrer Eigenlogik jedoch getrennt gedacht werden und sich folglich erst in spezifischen sozialen Formationen ko-artikulieren. Wenn es sich in diesem Sinne also – zugespitzt formuliert – um mehr oder minder kontingente, historisch wandelbare Verschränkungen unterschiedlicher Logiken handelt, was rechtfertigt es dann noch, im Anschluss an Adorno von Gesellschaft als Totalität mit einer spezifischen Einheit und einem spezifischen integralen Gesamtzusammenhang auszugehen?

Auch wenn ich Bannerjis und Knapps Kritik an der empiristischen Tendenz intersektionaler Analysen für richtig halte, möchte ich im Folgenden zeigen, dass ihre Bezüge auf Marx’ Überlegungen zum Totalitätsbegriff in der Einleitung von 1857 und auf Adornos Gesellschaftsbegriff nicht unproblematisch sind – und zwar aus zwei Gründen: Einerseits sind Marx’ und Adornos Vorstellungen vom gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang so konzipiert, dass sie den ökonomischen Funktionszusammenhängen kapitalistischer Vergesellschaftung eine spezifische und zentrale Rolle in der Konstitution gesellschaftlicher Totalität zuweisen. Das berührt die Frage, ob marxistische Gesellschaftstheorie überhaupt alle Dimensionen, Sphären und Widersprüche des Sozialen erfassen kann. Andererseits – und dieser Punkt richtet sich vor allem gegen Knapps Vorstellung einer Pluralität gesellschaftlicher Strukturlogiken – bedeutet die Annahme eines gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs im Anschluss an Marx und Adorno nicht allein, Gesellschaft und ihre Widersprüche als Ganzes zu betrachten; diese Betrachtungsweise ist vielmehr – so das im Folgenden zu entwickelnde Argument – die Reflexionsform real verallgemeinerter kapitalistischer Verhältnisse. Um diese beiden Punkte näher zu betrachten, werde ich im nächsten Abschnitt tiefer in die gesellschaftstheoretischen Überlegungen von Marx und Adorno eintauchen. Die grundlegende Frage, die ich dabei weiter verfolgen möchte, ist, ob und inwiefern sich der wichtige Impuls des Intersektionalitätsparadigmas, eine Pluralität von Diskriminierungsformen in ihrem Zusammenhang zu begreifen, überhaupt im Rahmen eines marxistischen Verständnisses der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als Gesamtzusammenhang neu formulieren lässt.

  1. Die Totalität kapitalistischer Verhältnisse im Anschluss an Marx und Adorno

In der Einleitung von 1857, auf die sich Bannerjis Kritik am Intersektionalitätsansatz bezieht, finden sich Marx’ prägnanteste Überlegungen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als Totalität. Marx’ Argumentation zielt hier grundsätzlich darauf ab, eine empiristische Erfassung der Realität der bürgerlichen Gesellschaft zu überwinden und den Begriff gesellschaftlicher Totalität auf einer Ebene nicht allein empirisch erfassbarer Strukturzusammenhänge anzusiedeln. Diese Überlegung entwickelt Marx in der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen politischen Ökonomie, die vereinzelte Individuen und ihre Handlungen als überhistorische Abstraktionen zur vorgängigen, nicht weiter erklärungsbedürftigen Grundlage ökonomischer Theoriebildung macht, und nicht „Produktion auf einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe – […] Produktion gesellschaftlicher Individuen“ (MEW 42: 20, Herv. ES). So kritisiert Marx auch die Vorstellung der bürgerlichen politischen Ökonomie, bei Produktion, Distribution, Austausch und Konsumtion handele es sich um selbstständige, lediglich äußerlich aufeinander bezogene Sphären, und macht demgegenüber deutlich, dass diese einen inneren Zusammenhang bilden, wenngleich sie als verschiedene Momente innerhalb eines „organischen Ganzen“ (MEW 42: 34) unterschieden werden können.

Entscheidend für die Auseinandersetzung mit dem Intersektionalitätsansatz ist hier, wie Marx im Gegensatz zur bürgerlichen politischen Ökonomie diese Totalität des gesellschaftlichen Zusammenhangs mit ihren einzelnen Momenten vermittelt. Das lässt sich insbesondere an Marx’ methodischen Gedanken zum Begriff des „Konkreten“ verdeutlichen. Für Marx ist das Konkrete nicht, wie es der heutige umgangssprachliche Gebrauch nahelegt, der eigenständige Ausgangspunkt des rekonstruierenden Denkens, wovon immer weiter abstrahiert wird, um zu immer allgemeineren Sammelbegriffen zu gelangen. Vielmehr ist das Konkrete als Gesellschaft in einer bestimmten Epoche „konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen“ (MEW 42: 35). In der gedanklichen Aneignung der Wirklichkeit erscheint das Konkrete „daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und Vorstellung ist“ (MEW 42: 35). Konkret sind für Marx also nicht empirische Einzelmomente, verstanden als letzte Grundlage von Wirklichkeit und begrifflicher Abstraktion. Das Konkrete ist für Marx vielmehr eine Totalität von Verhältnissen und Beziehungen, wobei diese Verhältnisse und Beziehungen nicht bloß als nominalistisch-abstrahierte, sondern als reale Allgemeinheiten mit sozialer Wirksamkeit aufgefasst werden (vgl. Heinrich 2011: 155). Die gedankliche Aneignung einer so verstandenen Wirklichkeit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft trägt ihrem Gegenstand insofern Rechnung, als sie die Totalität des Konkreten in einem ersten, analytischen Schritt in immer „nähere Bestimmungen“ und „einfachere“ Begriffe zergliedert, wobei es sich nicht um die Ansammlung empirischen Materials, sondern begrifflich näher bestimmte Abstrakta wie beispielsweise Wert, Teilung der Arbeit, Geld usw. handelt, und daraufhin in einem zweiten, synthetischen Schritt die Gesamtheit des Konkreten als „reiche […] Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen“ rekonstruiert (MEW 42: 35). Ein so gewonnener Wirklichkeitsbegriff geht daher über die Ebene empirischer Einzelmomente hinaus, er ist auf der nicht-empirischen Ebene realer Allgemeinheiten im Sinne von sozialen Prozessen und Zusammenhängen angesiedelt. Weder lässt sich also von einer abstrakten Vorstellung des Ganzen rationalistisch auf gesellschaftliche Einzelmomente schließen, noch ergibt sich aus isolierten Einzelmomenten und deren empiristischer, additiver Zusammenfügung bereits ein adäquates Verständnis des Ganzen. Die realen Verhältnisse manifestieren sich in den empirisch zu beobachtenden Einzelmomenten, weisen als Verhältnisse und Beziehungen aber gleichzeitig über sie hinaus. Mit Blick auf die vorangegangene Diskussion des Intersektionalitätsansatzes ließe sich also sagen, dass mit der mikrologischen Betrachtung von Diskriminierungsformen und deren Zusammenwirken in einzelnen sozialen Kontexten noch kein umfassendes Verständnis von Rassismus, Sexismus oder Klassenausbeutung geleistet ist.

Marx geht es also nicht um die triviale Vorstellung, dass jedes Einzelmoment in Beziehung zu allen anderen steht, also eine endlose Summe von kausalen Wechselwirkungen vorliegt, in der es jedoch keine spezifisch dominierenden Momente gibt. Vielmehr besteht der besondere Einsatz von Marx’ Totalitätsbegriff gerade darin, die empirische Ebene transzendierende, real-allgemeine Beziehungen zwischen Individuen und Einzelmomenten als zusammenhangsstiftende Organisationsprinzipien aufzuzeigen, die Gesellschaft als Totalität konstituieren. Die Grundlage dieser Überlegung liegt für Marx anders als bei Hegel nicht in der Annahme einer spekulativen „Subjekt-Substanz“, sondern im „endlich-weltlichen Produktionsprozess“ der bürgerlichen Gesellschaft (Jánoska et al. 1994: 73) und dessen real-allgemeinen Beziehungen wie Wert, Geld, Teilung der Arbeit usw. Der so konstituierte Gesamtzusammenhang verschiedenster privater Arbeitsprozesse in der bürgerlichen Gesellschaft basiert wiederum auf dem Verwertungsdrang des Kapitals, das für Marx „die alles beherrschende ökonomische Macht“, das „beherrschende Element der Gesellschaft“ darstellt (MEW 42: 41) und insofern das Klassenverhältnis und den damit verbundenen Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital perpetuiert.

Eine entscheidende Weiterentwicklung der marxistischen Konzeption von Gesellschaft als Gesamtzusammenhang, auf die sich Knapps kritische Auseinandersetzung mit dem Intersektionalitätsansatz beruft, geht auf Adornos Begriff der Totalität zurück. Das „spezifisch Gesellschaftliche“ besteht für Adorno ähnlich wie für Marx nicht in der Addition von Individuen und deren subjektiven Handlungsweisen, sondern vielmehr „im Übergewicht von Verhältnissen über die Menschen, deren entmächtigte Produkte diese nachgerade sind“ (GS: 9).

Diese Verhältnisse lassen sich nicht an „Einzeltatsachen“ allein festmachen: Zwar bedingen Verhältnisse jedes „soziale Faktum“, aber sie sind nicht mit einzelnen sozialen Fakten bzw. deren Summe gleichzusetzen. In diesem Sinne sind Konflikte wie beispielsweise die zwischen Vorgesetzten und Abhängigen im Lohnarbeitsverhältnis nichts Vorgängiges, kein „Letztes und Irreduzibles an dem Ort, an dem sie sich zutragen“. Vielmehr sind Einzelsituationen die Erscheinungsformen und „Masken tragender Antagonismen“, die über sie hinausgehen (GS: 10). Gesellschaftstheorie ist daher nicht das Sammeln unzähliger empirischer Fakten, sondern geht zurück „auf Strukturgesetze, welche die Fakten bedingen, in ihnen sich manifestieren und von ihnen modifiziert werden“ (SI: 356). Empirische Einzelphänomene sind insofern nicht zu entschlüsseln ohne „Rücksicht auf die Totalität der Gesellschaft“ (GS: 12), doch gleichzeitig kann sich Gesellschaftstheorie nicht den Fakten entziehen, ohne einem Fetischismus objektiver Gesetze zu verfallen (SI: 356).

Gesellschaft als Totalität zu begreifen meint insofern nicht allein eine Betrachtungsweise von Gesellschaft. Vielmehr ist diese Betrachtungsweise erst möglich und gerechtfertigt als Reflexionsform einer Totalität, die sich für Adorno letztlich in der Realabstraktion des Tausches herstellt. Es ist die Vergesellschaftung über den Tauschwert, der als „allherrschende[s] Identitätsprinzip“ die „Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere“, den totalen Zusammenhang, konstituiert und reproduziert (GS: 13f.). Da hierin die Widersprüche jedoch nicht still gestellt sind, beruht der Fortbestand des gewaltsamen Zusammenhangs auch auf der Institutionalisierung der Kräfteverhältnisse und der ideologischen Integration des Bewusstseins (GS: 16f.), wodurch sich der totale Zusammenhang noch weiter verfestigt.

Dennoch liegt ein zentrales Moment der Totalitätskonzeption Adornos darin, dass Totalität keine endgültige, restlose und widerspruchsfreie Schließung bezeichnet. Der Totalitätsbegriff von Adorno zielt nicht auf die Statik eines total assimilierten Zustands, sondern auf eine Tendenz zur Totalisierung, einen Drang zur vollständigen Einebnung und Identifizierung des Besonderen durch das Allgemeine, in dem aber konsequent ihre eigene Gegentendenz und damit das „Bewußtsein von Nicht-Identität“, das „Heterogene am Einheitsdenken“ (ND: 17) mitgedacht ist. Das Identitätsprinzip, das die gesellschaftliche Totalität herstellt, perpetuiert seinen eigenen Widerspruch, das Nicht-Identische, auf dessen Unterdrückung es hinwirkt (ND: 146).

  1. Ökonomismus und Essentialismus – Fallstricke marxistischer Gesellschaftstheorie?

Was folgt nun aus diesen Überlegungen für das Intersektionalitätsparadigma und die daran formulierte Kritik von Bannerji und Knapp? Drei Punkte halte ich für zentral: Erstens – und hier folge ich der Argumentation von Bannerji und Knapp – ergibt sich aus Marx’ und Adornos gesellschaftstheoretischen Überlegungen die Notwendigkeit, einzelne soziale Kontexte immer als vermittelt durch den übergreifenden gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zu begreifen, ohne sie einseitig daraus abzuleiten. Das bedeutet auch, dass sich die Verflechtung von unterschiedlichen Diskriminierungsformen nicht allein mikrologisch betrachten lässt – die Frage nach dem Zusammenwirken von Herrschaftsverhältnissen wie Rassismus, Sexismus und Ausbeutung muss immer auch auf der Ebene des gesellschaftlichen Strukturzusammenhangs gestellt werden. Zweitens – und hier liegt meines Erachtens eine wichtige Differenz zwischen Marx und Adorno auf der einen und Knapp auf der anderen Seite – ist Totalität für Marx und Adorno mehr als eine Betrachtungsweise: Von der Totalität des gesellschaftlichen Zusammenhangs auszugehen, bedeutet nicht allein, verschiedene Strukturlogiken und ihre Wechselwirkungen zusammen zu betrachten. Diese Betrachtungsweise ist vielmehr die Reflexionsform real-allgemeiner Beziehungen innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die zur Integration verschiedenster sozialer Verhältnisse drängen und diese überlagern. Folgt man dieser Überlegung, ergibt sich jedoch drittens das Problem, dass sowohl bei Marx als auch – trotz einiger Erweiterungen – bei Adorno der Totalitätsbegriff letztlich auf ökonomischen Kategorien und Funktionszusammenhängen beruht und Widersprüche jenseits des Klassenantagonismus unbeachtet bleiben. Während sich Marx an verschiedenen Stellen zu Sklaverei und Rassismus äußert (vgl. u.a. MEW 23: 318, MEW 15: 344f.) und Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung die bürgerliche Subjektivität in einen immanenten Zusammenhang mit Männlichkeit und Naturbeherrschung bringen (vgl. 2008 [1944]: 50ff.), kommt diesen Überlegungen bei der Entwicklung der jeweiligen Totalitätsverständnisse offensichtlich keine systematische Bedeutung zu.

Vielfach wurde daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass der in der Tradition marxistischer Theorie stehende Begriff gesellschaftlicher Totalität letztlich ökonomistisch oder essentialistisch operiere und daher ungeeignet sei, eine Vielfalt von Diskriminierungsformen, wie sie von intersektionalen Analysen in den Blick genommen werden, adäquat, das heißt nicht-reduktionistisch zu erfassen.

Prominent vertreten beispielsweise Ernesto Laclau und Chantal Mouffe diese Position: Um der Pluralität von Kämpfen der „neuen sozialen Bewegungen“ jenseits des Klassenantagonismus gerecht zu werden und diesen zu politischer Artikulation zu verhelfen, müsse der „offene, ungenähte Charakter des Sozialen gänzlich akzeptiert [sowie] der Essentialismus der Totalität […] verworfen“ werden (2006: 238, 200). Während im Marxismus die abgeschlossene Totalität des Sozialen und seine ökonomische Konstitutionsweise den zentralen Antagonismus zweier Klassen im Sinne eines „essentialistische[n] Apriorismus“ (220) schon immer fixiere und daher privilegiere, zeige das Ausgreifen sozialer Konflikte auf immer weitere soziale Verhältnisse, dass Gesellschaft nicht als ein Ensemble von „Momenten einer geschlossenen und völlig konstituierten Totalität“ zu begreifen ist (143). Tatsächlich lassen sich unzählige Beispiele dafür finden, wie unter Verweis auf Marx oder den Marxismus alle Facetten sozialer Realität auf ökonomische Faktoren zurückgeführt und eine entsprechende Hierarchisierung sozialer Widersprüche und Kämpfe vorgenommen wurde. In PROKLA 165 hat Meißner vor dem Hintergrund dieser Problematik argumentiert, dass Marx’ Werk so verstanden werden sollte, dass dieses lediglich eine Dimension sozialer Realität erfasst habe, während für andere Dimensionen wie beispielsweise Geschlechterverhältnisse andere Theorien relevant seien, die wiederum auf einer anderen Analyseebene angesiedelt sein müssen (2011: 544).

Diese Schlussfolgerungen halte ich jedoch für übereilt. Denn einerseits gerät eine solche Lesart in Widerspruch zum Anspruch von Marx, der im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859 seine Überlegungen zur Kritik der politischen Ökonomie in einem dezidiert gesellschaftstheoretischen Panorama verortet. Er möchte den Zusammenhang zwischen den „ökonomischen Produktionsbedingungen“ und den „ideologischen Formen“ als integrale Momente einer „Gesellschaftsformation“ entwickeln und begreifen, wobei innerhalb dieses Rahmens die ökonomischen Verhältnisse nicht lediglich als eine Dimension einer Gesellschaftsformation unter vielen, sondern als ihre Anatomie verstanden werden (MEW 13: 9). Andererseits übersieht der Vorwurf des Essentialismus oder Reduktionismus, wie er von Laclau und Mouffe vertreten wird, dass insbesondere bei Adorno die Totalität der bürgerlichen Gesellschaft explizit nicht als geschlossen, sondern als Tendenz zur Totalisierung begriffen wird. Genau genommen ist Gesellschaft als Totalität bei Adorno also weniger als die Summe ihrer Teile (Demirović 2012: 36): Es ist ein gewaltsamer Zusammenhang, weshalb das Insistieren der Kritischen Theorie auf dem Nicht-Identischen auch bedeutet, dass Kritische Theorie „antitotalitär ist, mit aller politischen Konsequenz“ (Adorno 1969: 292).

Doch wie lässt sich der Impuls des Intersektionalitätsansatzes, verschiedene Diskriminierungsformen in ihrem Zusammenwirken zu erfassen, nun im Rahmen marxistischer Gesellschaftstheorie weiter verfolgen? Wichtige Überlegungen hierzu scheinen mir Althusser sowie die feministische Erweiterung seiner Arbeiten durch Ursula Beer zu entwickeln, worauf ich im Folgenden aus zwei Gründen näher eingehen möchte: Erstens halte ich Althussers Überlegungen zur Konzeption von Basis und Überbau sowie zum Begriff der Überdeterminierung für eine weiterführende Reaktion auf das oben angedeutete Problem der ökonomischen Fundierung gesellschaftlicher Totalität, die durch Beer für die Betrachtung weiterer Herrschaftsverhältnisse geöffnet wird. Zweitens eignen sich Beers Überlegungen für eine kritische Auseinandersetzung mit Meißners Position, da Meißners queer-feministische Problematisierung von Beers Ansatz die Grundlage für ihre Argumentation bildet, mit Marx lasse sich lediglich die ökonomische Dimension moderner Gesellschaften erfassen.

  1. Basis und Überbau und die Pluralität gesellschaftlicher Widersprüche

Althusser formuliert in den Aufsätzen Widerspruch und Überdetermination und Über die materialistische Dialektik mit dem Begriff der „Überdeterminierung“ eine marxistische Antwort auf die Problematik von Ökonomismus und die Frage, wie eine Pluralität von Widersprüchen gesellschaftstheoretisch zu fassen ist.

Entscheidend für Althussers Argumentation ist die Abgrenzung gegenüber dem einfachen Widerspruchsbegriff Hegels: Die Totalität einer geschichtlichen Epoche und des gesamten historischen Prozesses reduziere sich bei Hegel letztlich auf „ein Prinzip der inneren Einheit“ (WÜ: 124, Herv. i.O.), wobei auch die darin enthaltenen Widersprüche immer nur Ausdruck dieses Prinzips und Träger seiner Entfaltung sind, insofern also nie äußerlich auf dieses Prinzip einwirkten. Die Differenz und Spezifik des marxistischen Widerspruchbegriffs und der darauf aufbauenden Totalitätskonzeption liegt für Althusser demgegenüber darin, dass der allgemeine kapitalistische (Haupt-)Widerspruch zwischen Produktionskräften und Produktionsverhältnissen und damit zwischen Arbeit und Kapital in den konkreten historischen Situationen immer schon durch eine Pluralität besonderer (Neben-)Widersprüche – beispielsweise Kriege oder die Ungleichzeitigkeit kapitalistischer Entwicklung – „bis in seinen Kern hinein“ modifiziert und historisch spezifiziert ist (WÜ: 121, 128). Die Pluralität besonderer Widersprüche ist zwar durch den allgemeinen kapitalistischen Widerspruch determiniert, aber gleichzeitig ist dieser selbst durch die besonderen Widersprüche determiniert (WÜ: 120f.), sodass Althusser davon spricht, dass der allgemeine kapitalistische Widerspruch „in seinem Prinzip überdeterminiert“ zu nennen sei (WÜ: 121, Herv. i.O.). Die kapitalistische Gesellschaft ist also kein „einfaches Ganzes“, keine bloße Entfaltung und Selbstmanifestation eines ursprünglichen, inneren Prinzips (MD: 251, 256f.). Vielmehr meint die marxistische Konzeption gesellschaftlicher Totalität für Althusser eine „strukturierte, komplexe Einheit“ (MD: 251), eine „gegliederte Struktur mit einer Dominante“ (MD: 256, Herv. i.O.), wobei die Dominante für Althusser die Ökonomie bildet, die der Gliederung der einzelnen Teile der Totalität zugrunde liegt. In diesem Sinne erscheint der allgemeine Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit nie als einfacher Widerspruch in Reinform, sondern ist in den räumlichen und historischen Kontexten, in denen er auftritt, schon immer überdeterminiert – durch relativ autonome Formen des Überbaus wie Staat, Ideologie oder Religion, durch die historische Situation innerhalb und außerhalb einer Gesellschaftsformation sowie durch die globale Konstellation (WÜ: 128f., 137, 139). Aus diesen überdeterminierenden Faktoren ergibt sich eine „Akkumulation von wirksamen Bestimmungen […] über die Bestimmung in letzter Instanz durch das Ökonomische“, dessen Letztinstanzlichkeit jedoch nie „im reinen Zustand“ zu Tage tritt.

An verschiedenen Stellen legt Althusser jedoch nahe, dass die Dominanz des Ökonomischen als Basis für ihn gleichbedeutend mit der Dominanz des Klassenwiderspruchs über alle weiteren „Nebenwidersprüche“ ist (so bspw. WÜ: 260; vgl. auch Beer 1990: 99). Auch spielen das Geschlechterverhältnis und Rassismus in diesen Überlegungen Althussers keine explizite Rolle. Hier schließt Ursula Beers feministische Erweiterung von Althusser an (1990), die sich als Versuch verstehen lässt, Althussers Überlegungen so zu öffnen, dass verschiedene Widersprüche immer auch als Teil der Basis eines gegliederten Ganzen zu fassen sind. Zentral für Beers Ansatz ist, dass sie den Begriff der „dominierenden Struktur“, also die Ökonomie als Basis des komplexen Ganzen, als „Wirtschafts- und Bevölkerungsweise“ neu konzipiert (91, 261). Dieses Konzept bezieht sich nicht mehr alleine auf die marktvermittelten Prozesse kapitalistischer Ökonomie – auf das „‘Außenverhältnis’ der kapitalistischen Warenproduktion“ – sondern zielt darauf ab, die familiarisierte „‘generative Bestandssicherung’“ als Teil der materiellen Reproduktion und Basis kapitalistischer Gesellschaft mit in den Blick zu nehmen (100f.). Der Zusammenhang dieser beiden Dimensionen der Basis kapitalistischer Gesellschaften bilde das „innere Band […], das die ‘Ökonomie’ warenproduzierender Gesellschaften […] zusammenhält“ (22). Entsprechend erscheinen die Subjekte der bürgerlich-kapitalistischen Vergesellschaftung bei Beer nicht allein als Personifikationen ökonomischer (marktvermittelter) Verhältnisse, sondern als „Realsubjekte mit Leiblichkeit“, als „Geschlechtsindividuen“ (102). Mit der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse und den damit verbundenen tiefgreifenden Veränderungen von Arbeit und Generativität verwandele sich der „ständische Patriarchalismus“ in einen „doppelten Sekundärpatriarchalismus“: Der „berufliche Sekundärpatriarchalismus“ hindere Frauen systematisch an einem gleichen Zugang zur Erwerbssphäre, während der „familiale Sekundärpatriarchalismus“ über die Familienform die strukturelle Abhängigkeit von Frauen vom männlichen Erwerbseinkommen und der damit verbundenen innerfamiliären Hierarchie bedinge (263f.).

Gegen diesen von Beer unternommenen Versuch, an einem Verständnis kapitalistischer Gesellschaft als Totalität festzuhalten, indem das als „Nebenwiderspruch“ abgewertete Geschlechterverhältnis immer auch als immanenter Teil der ökonomischen Basis kapitalistischer Gesellschaften verstanden wird, hat Meißner in PROKLA 165 eingewandt, dass Beers Überlegungen in verschiedenen Hinsichten essentialistische Züge tragen und einer queer-feministischen Problematisierung bedürfen. Meißners Kritik reicht sogar so weit, dass sie an Beers Versuch einer feministischen Erweiterung marxistischer Gesellschaftstheorie zeigen möchte, dass sich mit Marx lediglich die ökonomische Dimension des Sozialen sinnvoll erfassen lässt. Zwei Punkte hebt Meißner besonders hervor: Beer gehe einerseits mit ihrem Begriff des „Realsubjekts“ von einer „vorgängigen Existenz von Männern und Frauen“ aus. Andererseits verhandele sie mit dem Begriff der „Bevölkerungsweise“ Fortpflanzung und reproduktive Tätigkeiten ahistorisch und naturalisierend als „Gattungsproblem“, ohne die Historizität dessen zu reflektieren, was Foucault unter dem Begriff der „Biomacht“ fasst (551, 554f.). An diesen Unzulänglichkeiten zeige sich insofern, dass die „Lücken“, die Beer mit ihrer Erweiterung marxistischer Gesellschaftstheorie zu schließen versucht, vielmehr als Grenzen der Marx’schen Analyse begriffen werden müssten und andere Dimensionen sozialer Realität nur mit anderen theoretischen Zugängen wie Butlers Konzept der „heterosexuellen Matrix“ oder Foucaults Verständnis von „Macht-Wissen-Regime“ adäquat erfasst werden können (2011: 551).

Ich teile hier zwar Meißners Position, dass Beers Annahmen zur Geschlechterbinarität und Generativität [2] ahistorisch sind und insofern einer Problematisierung bedürfen, nicht jedoch die theoretischen Konsequenzen, die sie daraus zieht. Denn ein Verständnis moderner Gesellschaften als Pluralität von Strukturzusammenhängen mit je eigenen Dynamiken und entsprechenden Theorien und Darstellungsebenen steht seinerseits vor dem Problem, den immanenten Zusammenhang verschiedener Herrschaftsverhältnisse in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft auf theoretischer Ebene aus dem Auge zu verlieren und ihn jeweils nur in Form raum-zeitlich eingegrenzter ‘Momentaufnahmen’ erfassen zu können.

Jenseits dessen bleibt lediglich die Feststellung, dass verschiedene Herrschaftsverhältnisse multipel miteinander interagieren und Verflechtungszusammenhänge eingehen können. Dagegen haben beispielsweise Silvia Federicis Arbeiten zu den geschlechtlichen und kolonialen Dimensionen der so genannten „ursprünglichen Akkumulation“ gezeigt, dass die Reorganisation der patriarchalen Ordnung selbst eine wesentliche Grundlage für die Durchsetzung kapitalistischer Strukturen in Europa bildeten: Die Trennung von produktiver und reproduktiver Arbeit, die Etablierung einer spezifischen geschlechtlichen Arbeitsteilung sowie die Abwertung, Privatisierung und Unsichtbarmachung von feminisierter Reproduktionsarbeit gehören insofern genauso zu den strukturellen Bedingungen für die Existenz kapitalistischer Gesellschaften wie die Freisetzung, Kommodifizierung und Ausbeutung der (männlichen) Arbeitskraft (2004: 90f., 118ff.). In diesem Prozess der Etablierung einer neuen kapitalistisch-patriarchalen Ordnung spielten „Hexenverfolgungen“ eine zentrale Rolle dabei, Frauen die Kontrolle über ihren Körper, ihre Sexualität und über die biologische Reproduktion der Ware Arbeitskraft zu entziehen, weibliche Unterlegenheit zu naturalisieren und abweichende, widerständige Subjektivität, die sich diesen Prozessen nicht fügte, mit brutalen Mitteln zu verfolgen (109, 144, 225). Auch die Herausbildung bevölkerungspolitischer Instrumente verortet Federici historisch im Gesamtzusammenhang der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise und eines „neuen Interesses an der Akkumulation und Reproduktion von Arbeitskraft“ (19). Generativität und die vielfältigen Formen ihrer sozialen und staatlichen Kontrolle und Problematisierung erscheinen bei Federici daher anders als bei Beer insofern nicht als etwas Ahistorisches, aber auch das Rätselhafte an Foucaults Theorie der Entwicklung der „Bio-Macht“ wird so in der Kontextualisierung dieses Prozesses innerhalb des Aufstiegs des Kapitalismus aufgelöst (19). Eine weitere Durchsetzungsbedingung der ursprünglichen Akkumulation in Europa verortet Federici im Anschluss an Eric Williams auch in der kolonialen Expansion und der Ausbeutung versklavter Arbeitskraft: Dadurch wurden rassistische Formen der Arbeitsorganisation und sozialen Kontrolle sowie eine hierarchische internationale Arbeitsteilung etabliert, die Arbeit bis heute rassistisch segmentieren (128ff.).

Federicis entscheidender Punkt ist hierbei nicht, dass sich all diese Prozesse auf die ökonomisch-marktvermittelten Imperative kapitalistischer Verwertung zurückführen lassen. Sie sind kein funktionaler Reflex einer eng gefassten Kapitallogik, die alle gesellschaftlichen Verhältnisse nach ihrem Bilde reorganisiert. Vielmehr gehen Fredericis Überlegungen andersherum dahin, dass „der Kapitalismus als sozio-ökonomisches System zwingend auf Rassismus und Sexismus angewiesen ist“ (21, Herv. ES). Rassistische und sexistische Verhältnisse sind also nicht nur historisch kontingent miteinander verflochten, sondern als elementare Bestandteile des historischen Entstehungsprozesses der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft tief in ihr soziales Gefüge eingelassen. Sicherlich ergibt sich aus dieser Perspektive eine Vielzahl neuer, ungeklärter Probleme – insbesondere die Frage, ob Kapitalismus dann überhaupt ohne Rassismus und Sexismus denkbar ist. Für bedeutsam und weiterführend an dieser Perspektive halte ich aber, die Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als Reorganisationsprozess einer Vielzahl gesellschaftlicher Widersprüche und Verhältnisse zu verstehen, die gemeinsam einen spezifischen Zusammenhang konstituieren, der sich nicht auf eine Pluralität letztlich eigenständiger Strukturlogiken reduzieren lässt. Trotz ihrer Probleme scheint es mir deshalb unerlässlich, Beers Projekt einer marxistisch-feministischen Gesellschaftstheorie, die nicht lediglich den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit als Bestandteil der ‘Anatomie’ der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft begreift, gegen ihre eigenen ahistorischen Blindstellen weiterzutreiben.

  1. Ausbeutung, Geschlechterverhältnisse und Rassismus als integrale Momente der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft

Vier zentrale Punkte lassen sich abschließend festhalten: Erstens ging es mir darum deutlich zu machen, dass intersektionale Analysen zwar wichtige Beiträge zu einer herrschaftskritischen Perspektive leisten, indem sie eine Vielzahl sozialer Widersprüche ins Auge fassen, ihr Analysefokus jedoch dazu tendiert, Diskriminierungsformen und Herrschaftsverhältnisse lediglich empiristisch und nicht auf der Ebene von Strukturzusammenhängen zu begreifen. Auch wenn Marx’ und Adornos Begriffe gesellschaftlicher Realität hier wichtige Impulse liefern, wollte ich zweitens deutlich machen, dass ein solcher Rückgriff, wie er von Bannerji und Knapp vorgenommen wird, übersieht, dass sich die Konzeptionen gesellschaftlicher Totalität sowohl bei Marx als auch bei Adorno in erster Linie auf ökonomische Funktionszusammenhänge beziehen und dabei unklar bleibt, wie eine Pluralität sozialer Widersprüche gesellschaftstheoretisch gedacht werden kann. Althussers Überlegungen zum Begriff der „Überdeterminierung“ erlauben es demgegenüber – und das scheint mir der dritte wichtige Punkt zu sein – eine Pluralität sozialer Widersprüche mit einer in der marxistischen Tradition stehenden Konzeption gesellschaftlicher Totalität zu vermitteln, weil sie der relativen Autonomie von Ideologie und Politik sowie einzelner Widersprüche Rechnung tragen, ohne sie ontologisch zu isolieren oder systemtheoretisch in ein bloß äußerliches Wechselverhältnis struktureller Kopplungen zu bringen – die einzelnen Instanzen und Widersprüche bleiben letztlich Teil eines komplexen, übergreifenden Ganzen. Dieses Ganze wird nach Althussers Vorstellung durch eine Dominante, die Ökonomie, konstituiert und zusammengehalten.

Im Anschluss an Althusser lässt sich aber davon ausgehen, dass die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft weitere Mechanismen der Selbstorganisierung und -zusammenfügung ausbildet, die die Strukturen kapitalistischer Produktion selbst überdeterminieren. Adornos Überlegungen verweisen hier auf die gewaltsame gesellschaftliche Integration durch Ideologie und die institutionelle Organisation sozialer Kräfteverhältnisse, aber auch auf Kontrollpraktiken und Repressionstechniken des Staates. Auch herrschaftliche Wissensformen wie die Soziologie und andere Dimensionen der symbolischen Ordnung konstituieren den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang auf ihre je spezifische Weise. In diesem Sinne drängen die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft zwar gleichzeitig zur Integration und Ausbildung immer weiterer sozialer Sphären und Überbaubereiche, wirken in diese hinein und durch sie hindurch, aber sie determinieren diese nie vollständig. Viertens jedoch scheint Althussers Vorstellung der letztinstanzlichen Dominanz des Ökonomischen daran gebunden zu sein, im Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit den Hauptwiderspruch zu sehen. Meines Erachtens lässt sich Althussers Konzeption gesellschaftlicher Totalität daher nur sinnvoll weiterdenken, wenn die Konzeption der Ökonomie als Basis innerhalb einer komplexen Struktur mit Dominante nicht gleichgesetzt wird mit der letztinstanzlichen Dominanz eines Hauptwiderspruchs, sondern die Konzeption der Basis in Anlehnung an Beer und Federici für die Berücksichtigung weiterer Widersprüche und Herrschaftsverhältnisse geöffnet wird.

Eine so fundierte gesellschaftstheoretische Perspektive, wie sie hier im Anschluss an Althusser, Beer und Federici skizziert wurde, ginge also darüber hinaus, den Zusammenhang verschiedener Herrschaftsverhältnisse lediglich empiristisch herzustellen; sie sperrt sich auch gegen Ansätze, die unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse und ihr Zusammenwirken lediglich als Totalität betrachten, ihre Verankerung in der Basis der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft jedoch nicht theoretisch entwickeln. In diesem Sinne gilt es, eine übergreifende Emanzipationsperspektive voranzutreiben und so, sowohl die Entstehung als auch Reproduktion der ‘Anatomie’ kapitalistischer Gesellschaften als Resultat der erfolgreichen Etablierung einer spezifisch kapitalistischen patriarchalen Ordnung und der Durchsetzung spezifisch kapitalistischer Formen von rassistischer Herrschaft und kolonialistischer Ausbeutung zu verstehen. Marxistische Gesellschaftstheorie als Theorie der Totalität kapitalistischer Verhältnisse, die die wichtigen Impulse intersektionaler Analysen kritisch reflektiert, muss in genau diesem Sinne immer auch Rassismustheorie und Theorie der Geschlechterverhältnisse sein, um ihren Potentialen gerecht zu werden.

Literatur

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Quelle: prokla.de… vom 23. November 2018


[1] Die Kursivsetzung des Adjektivs weiß und die Großschreibung des Adjektivs Schwarz soll den Konstruktcharakter dieser Kategorie sprachlich markieren (vgl. Eggers et al. 2005: 13).

 

[2] Für historisch halte ich jedoch nicht das Generativitätserfordernis selbst, dieses ist

vielmehr eine Existenzbedingung menschlicher Gesellschaften. Historisch wandelbar

sind aber die sozialen Formen, in denen dies organisiert wird.

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