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Die Protestbewegung der „gelben Jacken“: Wutbürger oder Revolution?

Eingereicht on 26. November 2018 – 15:31

Markus Winterfeld. Knapp 300.000 Menschen haben in Frankreich Straßen, Einkaufszentren und Raffinerien blockiert, um gegen neue Benzin- und Dieselsteuern zu protestieren. Was wollen sie?

„Jetzt hat auch Frankreich seine Wutbürger“, schrieb die wirtschaftsliberale Neue Zürcher Zeitung über die Protestaktion der „gelben Jacken“ am letzten Samstag, und ein Korrespondent des linken Gewerkschaftsportals Labournet.de beschreibt sie als „eine Bewegung […] die mehrheitlich ein Profil zwischen dumpfbackig und reaktionär an den Tag legt, zwischen Autofahrerlobby und extremer Rechter changiert“.

280.000 Menschen waren am 17.11. in ganz Frankreich auf die Straße gegangen, hatten Kreisverkehre, Autobahnen, staatliche Raffinerien und Einkaufszentren blockiert. Der Protest war spontan, dezentral über Facebookgruppen organisiert, es kursierten dutzende lokale Aufrufe. Alle, die sich beteiligen wollten, sollten als Erkennungszeichen die gelben Warnwesten aus dem Auto anziehen, daher der Name „gilets jaunes“, gelbe Jacken.

Das funktionierte gut. Die meisten Protestierenden hatten sich, so wird immer wieder berichtet, vorher noch nie gesehen, erkannten sich sofort, schlossen sich zusammen und führten Blockaden aus, die das Land am Samstag lahm legten. Insgesamt 2.000 Blockaden hat die Polizei gezählt. Von der Mobilisierung überrascht, konnte sie die Blockaden an den meisten Orten eher begleiten als verhindern. In Paris gelang den DemonstrantInnen die Besetzung der Champs-Elysée, und nur durch Tränengas und massives Polizeiaufgebot konnten sie am Vorrücken auf den Präsidentenpalast gehindert werden.

Wie ist diese Protestbewegung einzuordnen? – Schaut man sich die Argumente an, mit denen sie mal als „Wutbürger“, d.h. als französischer PEGIDA-Verschnitt, mal als „zwischen Autofahrerlobby und extremer Rechter“ changierend einsortiert wird, so können diese Argumente kaum überzeugen. Das liberale Blatt führt als Beleg an, dass „die Mobilisation […] spontan über Internet und Smartphone, in lokalen Gruppen ohne zentrale Steuerung“ erfolgte. „Wutbürger“ ist nach dieser Auffassung, wer außerhalb der Parteien- und Gewerkschaftslandschaft steht. Wenn man mehr sagen will, wird es unscharf: „Nach französischen Medienberichten waren an den Straßensperren vor allem Leute anzutreffen, die in bescheidenen Verhältnissen leben und entweder nicht wählen oder der extremen Rechten zuneigen. Doch das sind vorläufige Beobachtungen, eine solide soziologische und politische Einordnung der Protestierenden liegt noch nicht vor.“ Das Gewerkschaftsportal mokiert, dass „ein aus dem Bereich der Arbeiterbewegung kommender Protest […] mit einiger Wahrscheinlichkeit nach auch nicht unbedingt gelb als Erkennungsfarbe gewählt“ hätte, dass es mindestens zwei Fälle von rassistischer oder homophober Beleidigung und Gewalt gegen AutofahrerInnen gab, und dass die Le Pen-Partei „Rassemblement National“ (ehemals Front National) sowie eine Reihe weiterer rechter Parteien zur Beteiligung aufgerufen hatten. Wenn das alles ist, was für die Einordnung der Bewegung als unsolidarisch, rechts und reaktionär vorzubringen ist, so reicht das nicht aus, noch dazu auch Luc Mélenchon, französischer Bernie Sanders, mit seiner „La France Insourmise“ zur Beteiligung aufgerufen hatte, ferner derartige Gewaltfälle von vielen ProtestteilnehmerInnen kritisiert und z.T. aktiv unterbunden wurden.

Die Story, die man uns erzählen will, passt irgendwie nicht, und wir tun gut daran, uns selbst ein Bild zu machen.

Dieselsteuer und Verelendung

Anlass des Protestes war die von der Macron-Regierung geplante Erhöhung der Benzin- und Dieselsteuer. In zwei Stufen bis Januar 2020 soll der Preis je Liter Diesel um 14, je Liter Benzin um 7 Cent steigen. Macron und seine Minister behaupteten gern, dass es sich um eine Umweltsteuer handeln würde, um Diesel zu verteuern und den Ausbau alternativer Energiequellen zu finanzieren; tatsächlich wurde aufgedeckt, dass von den in den nächsten Jahren erwarteten Mehreinnahmen in Höhe von 50 Mrd. Euro nur 20 % für die Energiewende eingeplant sind, während 45 % dem Staat und 30 % den Kommunen für die freie Verwendung überlassen werden. „Diese Analyse der geplanten Verwendung entlarvt die angebliche „Ökosteuer“ auf Treibstoffe als banale Steuererhöhung zur Sanierung der öffentlichen Finanzen“, schreibt die Neue Zürcher Zeitung in einen anderen Artikel.

60 % der französischen AutofahrerInnen fahren Diesel, der von allen Regierungen der letzten Jahre durch Steuerermäßigungen gefördert wurde. Im Verlauf des Jahres war der Preis je Liter bereits von 1,24 auf 1,50 Euro gestiegen. Aber es sind überhaupt nicht nur die Spritpreise, die die Leute auf die Straße brachten. Die Steuererhöhung traf auf einen allgemeinen Unmut über den gesunkenen Lebensstandard, den man als relative und absolute Verelendung immer größerer Schichten bezeichnen muss. Während die Kosten für Lebensmittel, Heizung, Sprit und Wohnung gestiegen sind, sind Löhne und Renten seit 2008 praktisch eingefroren. Immer breitere Schichten müssen kürzer treten, sparen, Ausgaben einschränken. Deindustrialisierung und staatliche Kürzungspolitik treffen insbesondere die ländlichen Provinzen:

Pensionierte klagen über neue Steuern auf ihrer Rente, Ambulanzfahrer und Taxifahrer gegen zusätzliche Konkurrenz durch die Liberalisierung ihrer Berufe: Auf dem Land fühlen sich die Leute benachteiligt und vernachlässigt: oft gibt es keine Schule oder keine Bahnverbindung mehr, keinen Arzt, keine Läden, keine Vergnügungsmöglichkeiten – dafür aber immer mehr Steuern und Abgaben, lautet ihre Beschwerde. (Neue Zürcher Zeitung)

Besonders stark vertreten war der Protest in den nördlichen Provinzen, Hochburg von Le Pen. In Henin-Beaumont an der niederländischen Grenze, wo im Mai 2018 ganze 69% für Le Pen gestimmt hatten, führte der französische „Nouvel Observateur“ Interviews mit einigen Protestierenden, die die Zufahrt zum großen Einkaufszentrum seit den frühen Morgenstunden blockiert hatten. Eine Frau berichtet:

„Ich arbeite Teilzeit, mein Mann voll, und dieses Jahr werden wir zum ersten Mal nicht in den Urlaub fahren. Es ist das erste Mal dass das passiert. Nach Steuern, Rechnungen und Einkäufen habe ich noch 100 Euro im Monat. Es ist kein Leben, es ist bloßes Überleben.“

Eine andere:

„Ich gehe in zwei Wochen in Rente; heute habe ich einen Brief gekriegt, der mir erklärt, was ich kriegen werde. Ich habe 42 Jahre gearbeitet, und meine Rente soll sich auf 745 Euro belaufen. Ich verstehe das nicht.“

Und eine dritte:

„Das Problem ist einfach: steigende Steuern, Sozialabgaben, der Benzinpreis, die eingefrorenen Rentenerhöhungen.“ Ja, „ich hätte gern Marine Le Pen ausprobiert.“ Von Macron war sie nie überzeugt. Und insbesondere seit er herumläuft und „die Franzosen beleidigt.“ „Aber ihr wollt doch alle, dass wir die Pille schlucken.“ – Wer soll das wollen? – „Die Medien draußen, insbesondere BFMTV [größter französischer Nachrichtensender]. Ihr sagt nicht die Wahrheit, ihr denkt, wir hätten die Absperrungen nicht gesehen, die Macron vor den Leuten schützen sollten, als er am 11. November unsere Provinz bereiste. Ihr versucht uns zu sagen, was wir denken und tun sollen, aber wir sind keine Idioten, wir sehen dass wir heute schlechter leben als früher.“

Ein Mann berichtet:

„Was gerade passiert, ist das Ergebnis von 30 Jahren Politik, die mit unseren Leben nichts zu tun hatte. Ich glaube an gar nichts mehr.“ Seine Frau, eine Pflegerin, konnte nicht kommen: sie war die letzten drei Nächte im Dienst. „Am Ende sind es nicht die Politiker, die das Land kontrollieren – es sind die Ölkonzerne, die Banken, die Ladenketten.“ Er hat viele Ideen, um den gewählten PariserInnen zu helfen, das zu verstehen: „Wir sollten sie für zwei Jahre arbeiten lassen, mit 1.300 Euro im Monat.“

Die Erzählungen sind die gleichen wie in dutzenden anderen Interviews. In Strasbourg berichten die Menschen, dass sie mit ihren 1.300 Euro im Monat nicht mehr auskommen, in kleinere Wohnungen ziehen, Möbel verkaufen, ihren Kindern keine Weihnachtsgeschenke kaufen können. Sie ziehen immer weiter weg von Stadt und Arbeitsort, um den hohen Mieten zu entgehen; die steigenden Spritpreise fressen nun ihr verbleibendes Gehalt auf. Die Stimmung ist inzwischen komplett gegen die Regierung gekippt. Die Nachdenkseiten schreiben über „Macron und sein Problem mit den gelben Westen“: „Die Zustimmung seiner Landsleute ist vom bisherigen Negativrekord von 29% im September noch einmal um drei Prozentpunkte gesunken. Macron polarisiert nicht, er ist verhasst.

Sozialprotest oder PEGIDA?

Aus den Aussagen der Leute ergibt sich, wie verfehlt es ist, diese Bewegung mit den deutschen Wutbürgern von PEGIDA gleichzusetzen. Sie sind auf die Straße gegangen, weil sie ihre Lebensbedingungen als untragbar ansahen – sie protestierten gegen die Steuererhöhung auf Benzin und Diesel, nicht weil sie zur „Autofahrerlobby“ gehören, sondern weil sie sich die Mieten in Stadtnähe nicht mehr leisten konnten und jeden Tag hunderte Kilometer Auto fahren müssen. Die Geschichten sind dabei die gleichen, egal ob die Leute freimütig erklären, dass sie Le Pen gewählt haben, oder Mélenchons Linkspartei; egal ob sie zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer Demonstration sind, oder ob sie als Gewerkschaftsmitglieder auf jeder Streikdemo der letzten zehn Jahre waren.

Was sie von PEGIDA und den deutschen Wutbürgern unterscheidet, ist dass sie ihr soziales Elend in einen Sozialprotest wendeten. Die Benzin- und Dieselsteuer war hierbei der Anlass. Anders als PEGIDA wendeten sie ihre sozialen Probleme und Ängste nicht regressiv unter den Dresdner Slogan „gegen die Islamisierung des Abendlandes“ und zündeten keine Flüchtlingsheime an. Hätte es am 17.11. große rassistische Slogans und Transparente gegeben, so liegt die Chance gut, dass wir davon wüssten angesichts einer Presse, die darauf aus ist, den Sozialprotest zum bloßen Le Pen-Manöver zu erklären. Tatsächlich aber wird von allen Blockaden berichtet, dass die TeilnehmerInnen darauf geachtet hätten, ihren Protest ausdrücklich „unpolitisch“ und parteienfrei zu gestalten. In Fontainebleau etwa wurden TeilnehmerInnen aufgefordert, Parteizeichen abzunehmen. Die Führer der verschiedenen rechten französischen Parteien, die ihre Teilnahme am Protest angekündigt hatten, hatten im Voraus deklariert, dies in privater Funktion zu tun. „Es ist gerade weil wir nicht über Parteien sprechen, dass wir als Bewegung so einen großen Erfolg hatten“, erklärte eine Frau, die eine lokale Blockade koordinierte, im Interview.

Man wird daher auch enttäuscht, wenn man nach Hinweisen auf die Hintermänner und Hinterfrauen des Protestes sucht. Der Protest wurde über Facebook organisiert, Ausgangspunkt war eine Online-Petition gegen die neuen Kraftstoffsteuern, die von 850.000 Leuten unterzeichnet wurde, und die irgendwann zur Idee eines Protestes gemünzt wurde, zu dem im Internet allerlei lokale Aufrufe kursierten. Die französische Zeitung La Libération zitiert ein Polizeidossier, das etwas mehr Hintergrund zur Organisierung des Protestes gibt:

Das Polizeidossier hat 112 Vorbereitungstreffen bis zum Demonstrationswochenende gezählt, in denen „mehrere Hundert Leute, manchmal in Räumen, aber meist in ungewöhnlichen Plätzen (Bahnsteig, Parkplatz…) zusammengebracht wurden, was auf die Improvisierung und das Fehlen logistischer Mittel seitens der Organisatoren verweist.“

In einzelnen Orten versuchte die Rechte, den Protest zu kanalisieren und zu unterwandern, wie selbiger Polizeibericht beschreibt:

In Pas-de-Calais [Nordfrankreich] zum Beispiel hat sich eine kleine Gruppe Ultrarechter nach und nach in die „gelben Westen“ eingeschlichen. Die Schlüsselfigur ist der Administrator der Facebookseite „Wütende Gallier“. Am 10. November hatte er sich bei einer Flugblattverteilung zusammen mit 10 anderen beteiligt, unter denen drei Personen waren, die für ihre Kontakte mit der extremen Rechten bekannt waren.

Eine Führungsrolle bei der Organisation hatten sie allerdings nicht.

„Kämpft lieber für mehr Lohn“, rufen die Gewerkschaftschefs

Bezeichnend ist die Ablehnung der Bewegung durch die Gewerkschaften. Der Chef einer der größten französischen Gewerkschaften, der CGT mit 700.000 Mitgliedern, erklärte seine Ablehnung:

„Es ist unmöglich, dass wir Seite an Seite mit der Front National demonstrieren“.

Stattdessen sollten die Leute für höhere Löhne kämpfen:

„Die Basis von allem ist der Lohn. Wir, wir schlagen vor dass man den Mindestlohn stark anheben sollte zum Jahresende“, wo sowieso eine staatliche Reevaluierung des Mindestlohns anstünde.

Ähnlich erklärt auch der Chef der Gewerkschaft CFDT mit 800.000 Mitgliedern, dass seine Gewerkschaft

„nicht dazu aufrufen wird, sich an den Demonstrationen zu beteiligen, sondern weiterhin vehement die Kaufkraft der Angestellten verteidigen“ werde.

Die Blockaden „werden werde unsere persönlichen, noch die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Probleme des Planeten lösen, weder kurz- noch langfristig“, erklärt eine weitere Gewerkschaft, eine vierte Gewerkschaft schreibt: „Die Wut über die Kraftstoffe muss in einen sozialen Kampf für höhere Löhne umgewandelt werden.“

Aber höhere Löhne allein reichen nicht mehr. Selbst fünf, siebeneinhalb oder – heute komplett illusorische – zehn Prozent mehr Lohn können nicht den Anstieg der Lebensmittel, der Benzinpreise, der Mieten und der Häuserpreise der letzten Jahre kompensieren; sie können noch weniger den Verlust des Lebensstandards, in der Stadt wie auf dem Land, durch Wegfall von Schulen, Schwimmbädern und Nahverkehr kompensieren; sie können nicht das gesellschaftliche Angst- und Unsicherheitsklima revidieren.

Dass die von dieser Bewegung genannten Probleme derartig diffus sind, und dass sie keine positiven Lösungsmöglichkeiten vorzuschlagen hat, ist weder zufällig, noch ist es falsch. Es drückt sich darin aus, dass die Angriffe auf den Lebensstandard tatsächlich „diffus“ sind und in tausend kleinen Nadelstichen, in allen Lebensbereichen auftreten. Lohnkürzungen, Lebensmittelteuerungen, Fahrzeiten, Überarbeitung, Rentenkürzung. Der Versuch, dies allein auf die Lohnhöhe herunterzubrechen, verkennt nicht nur den tatsächlichen „diffusen“ Charakter der Verelendung, sondern ist schlussendlich eine Durchhalteparole von Links: ein Appell, nicht demonstrieren zu gehen (das „löst unsere sozialen Probleme nicht, weder kurz- noch langfristig“), sondern sich noch einmal auf das System und seine institutionalisierten Aushandlungswege einzulassen, den Konflikt auf die legalen Mittel von Arbeitskämpfen, Streiks – vielleicht darüber hinausgehend ein paar Blockaden oder „Bossnappings“, aber alles innerhalb des Lohnkampfes – zu limitieren.

Dabei haben gerade diese Aushandlungswege in den letzten Jahren allesamt versagt. Der französischen Gewerkschaftsbewegung, trotz ihrer im europäischen Vergleich herausragenden Organisierung und Militanz, ist es seit Beginn der großen Krise vor zehn Jahren nicht gelungen, auch nur einen einzigen Sieg zu erringen:

Die französischen Gewerkschaften unterlagen bei den Auseinandersetzungen um die regressive Arbeitsrechts-„Reform“ im Frühjahr und Sommer 2016 (das umstrittene Gesetz trat am 08.08.16 in Kraft), bei der zweiten Stufe dieser „Reform“ im Herbst 2017, aber auch beim Streik der Bahnbeschäftigten gegen die SNCF-„Reform“ im Frühjahr 2018. (Labournet.de)

Die letzten Gehaltsabschlüsse im öffentlichen Dienst, bei Post und Telekom lagen zwischen 0,6 % und 1,4 % Gehaltssteigerung, bei einer offiziellen Inflationsrate von 2,2 %. Die Chefin der Gewerkschaft „Solidaires“ gibt zu, dass „wenn wir sehen, welcheAnstrengungen die Gewerkschaften von Air France in den Kampf steckten, nur um eine Lohnsteigerung von 4% zu erreichen, die noch mal reicht, alle Preissteigerungen einzuholen, haben wir das Gefühl, dass es schwierig wird, weiter den Kampf für Lohnsteigerungen als Ausweg vorzuschlagen.

Der Lohnkampf soll nun als Ausweg aus dem Hut gezaubert werden. Aber sein Scheitern in den letzten Jahren ist nicht einfach Folge von mangelnder Organisierung oder mangelnder Militanz, sondern ist begründet in der durch die Krise umgewälzten Situation von Angebot und Nachfrage auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt: solange das Kapital rasch expandiert, neue Märkte finden kann, und ihm die ArbeiterInnen knapp werden ist es bereit – gezwungen – die Löhne zu erhöhen, um einen größeren Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeitskraft flüssig zu machen. In der Depression, in der es Leute massenhaft auf die Straße wirft, kann es jede noch so imposante Militanz und Organisierung aussitzen, weil es weiß, dass die Masse der Arbeitslosen, von Marx als „industrielle Reservearmee“ bezeichnet, ausreicht, um die Forderungen der Arbeiterklasse herunterzudrücken. Die Forderung: lasst das Demonstrieren sein, kämpft für höhere Löhne!, ist tatsächlich unter den heutigen Bedingungen der Versuch, Protestbewegungen zurück ins System des Bestehenden zu holen, den Sozialprotest zu kassieren und ihn zurück an den Verhandlungstisch zu führen, bei dem auf der anderen Seite die vereinigten Bosse, ihre Lakaien und das Übergewicht der Reservearmee sitzen.

Die Widersprüche von Protestbewegungen in den kommenden Jahren

Weder die Diffusität der Probleme und Forderungen ist zufällig, noch dass sich diese Protestbewegung außerhalb der bestehenden Parteien und Gewerkschaften organisierte. Der Kampf gegen soziale Verelendung infolge der kapitalistischen Krise kann weder durch die Gewerkschaftsorganisierung noch durch die Parteienpolitik geführt werden. Beide haben versagt; dies ist der Erkenntnisstand der Protestierenden, der aus allen Interviews herausspricht. Was danach kommt, ist die große Lücke.

Dabei ist es keineswegs verwunderlich, dass ein solcher Protest wenigstens teilweise mit der Rechten sympathisiert, und zugleich diese versucht, ihn zu vereinnahmen. In Frankreich wie in Deutschland ist die Rechte die einzige Partei, die sich noch nicht durch Regierungsbeteiligung korrumpieren konnte, daher als letzte Alternative innerhalb des Systems und zugleich als außerhalb des Systems stehend erscheinen kann. Dass jeder spontane Protest mit der Rechten sympathisiert, ist nicht allein, aber auch Folge der Ratlosigkeit und der Alternativlosigkeit. Als im Iran Anfang des Jahres zehn- oder hunderttausende auf die Straße gingen, sich eine Protestbewegung wie ein Lauffeuer zu verbreiten begann, war das Neuartige dass erstmals seit Jahrzehnten die Forderung nach der Rückkehr des Schahs – der letzte wurde 1979 zusammen mit seinen Folter- und Mordschergen verjagt, nur um durch neue Folterschergen ersetzt zu werden – präsent war.

Wir mögen uns eine andere Protestbewegung gegen die kapitalistischen Zustände wünschen. Nicht diffus, ohne Sexismus und Rassismus und ohne Romantisierung des Nationalstaats. Wie und woher soll eine solche aber entstehen? Die Gewerkschaftsbewegung und die Parteilinke sind abgewirtschaftet. Eine Bewegung, die den Status Quo infrage stellen könnte, kann nur und muss heute außerhalb dieser Institutionen entstehen, ja, die Hoffnung, die einzige Chance besteht gerade darin, dass sich eine Protestbewegung außerhalb der bestehenden Institutionen und ihrer zerrütteten innerkapitalistischen Aushandlungsrituale entwickelt. Welchen weiteren Weg sie geht, wird Sache von langwierigen Auseinandersetzungen und Kämpfen, in die wir uns investieren müssen. Die nächsten Jahre werden keine Wiederbelebung von Linksparteien, linksparteilichen Sammlungsbewegungen und linker Gewerkschaftsarbeit sehen, sondern massenhaften, zugleich diffusen und spontanen Protest gegen die Verelendungen unter den Bedingungen des Versagens der kapitalistischen Gesellschaftsform.

Der Widerspruch ist, dass die neuen Bewegungen, auf die alles ankommt, nur spontan und außerhalb der bestehenden Institutionen entstehen können, damit aber zugleich notwendig offen sind, auch für die faschistische Option. Sie können den Machtantritt des Faschismus beschleunigen, sind zugleich aber auch die einzige Hoffnung gegen ihn. Denn zum Faschismus streben heute nicht nur die Massenstimmungen, sondern ebenso die gewählten demokratischen Regierungen, die freie Presse und die liberale Bourgeoisie: der Massenprotest mag sich nach rechts wenden; aber wird er erstickt und scheitert er, werden es die Landes- und Verfassungsschutzpräsidenten sein, die Springerverleger und DAX-Vorstände, die den neuen Faschisten das Szepter in die Hand zu legen. Es war Macron, der nur eine Woche vorher den französischen Nazi-Kollaborateur und Faschisten Pétain als “großen Soldaten” anpries. Die einzige Hoffnung, an deren Realisierung wir arbeiten müssen, ist die zunehmende Radikalisierung des außerhalb dieser Institutionen stehenden Protestes. Nach allem, was wir über die „gelben Jacken“ wissen, ist hierfür durchaus Potenzial vorhanden.

Was die französischen „gelben Jacken“ in jedem Fall gezeigt haben, ist, wie zerrüttet die gesellschaftliche Normalität unter der scheinhaften Oberfläche bereits ist, diesmal nicht mehr in Griechenland oder Spanien, sondern im Vorzeigenachbarstaat Frankreich. Sie haben zugleich gezeigt, wie machtlos der Staat schlussendlich gegen eine dezentrale Massenmobilisierung einiger hunderttausend ist.

 

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Updates dieser Woche:

Die Blockaden wurden z.T. Sonntag, z.T. noch in die Woche fortgesetzt, vor allem im Norden, aber mit deutlich geringerer Beteiligung. Zufahrten zu Raffinerien wurden durch die Polizei gewaltsam geräumt. Trotzdem haben einige Tankstellen bereits keinen Treibstoff mehr (21.11.). Am Mittwoch sollen sich noch ca. 10.000 Menschen an Blockaden beteiligt haben.

In Teilen der Bewegung wurde die Gewaltlosigkeit gefordert, ebenso, dass man anstelle von Straßen und Kreisverkehren lieber die Schaltstellen der Wirtschaft und des Staates blockieren sollte.

Einige „gelbe Jacken“ wurden auch auf einer Streikdemo der Krankenschwestern gesehen.

SchülerInnen einiger Lycées (Gymnasien) haben sich der Bewegung angeschlossen.

Größere gewalttätige Unruhen gab es auf Réunion, wo die soziale Lage seit langem noch angespannter ist. Die Verwaltung hat inzwischen die Schulen geschlossen und eine Ausgangssperre verhängt.

Neue Massenblockaden, und eine große Demonstration in Paris, sind für den kommenden Samstag (24.11.) geplant.

Quelle: kritischeperspektive.com… vom 26. November 2018

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