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Epidemie in Chile: Provokationen der Rechten und Arbeiterkämpfe

Eingereicht on 15. Mai 2020 – 16:53

„… Macarena Santelices ist Chiles neue Ministerin für Frauen und Geschlechtergleichheit. Vergangene Woche wurde die 41-Jährige von Präsident Sebastián Piñera vereidigt. Die Großnichte von Augusto Pinochet hat dessen Militärherrschaft (1973–1990) stets verteidigt. „Ja, es gab Menschenrechtsverletzungen, das ist das große Karma der Militärregierung, aber es gab auch eine wirtschaftliche Reaktivierung“, so Santelices. Über sich selbst sagte sie: „Ich glaube, dass das Leben aus Strenge und Anstrengung besteht und ich bin eine Ziehtochter dieser Werte.“ Kaum hatte sich die Nachricht ihrer Ernennung verbreitet, hagelte es in den sozialen Netzen Kritik und Ablehnung. Unter dem Hashtag #NoTenemosMinistra (Wir haben keine Ministerin) kamen innerhalb weniger Stunden über 22.000 Tweets zusammen. (…) Piñera geht es mit Santelices’ Ernennung um das politische Gleichgewicht seiner Drei-Parteien-Regierungskoalition. Santalices gehört, wie ihre Amtsvorgänger Isabel Plá, der rechtsextremen und pinochetfreundlichen Unabhängigen Demokratischen Union (UDI) an…“ – aus dem Beitrag „Großnichte Pinochets im Kabinett“ von Jrgen Vogt am 10. Mai 2020 in der taz online über eine gezielte Provokation der chilenischen Rechtsregierung mit einer Besetzung qua „Seelenverwandschaft“. Siehe eine kleine Sammlung von Beiträgen aus dem „Zeitalter der Epidemie“ zum Widerstand gegen diese provokative Ernennung sowie zu weiteren Maßnahmen der chilenischen Rechtsregierung – unter dem Vorwand der Epidemie gegen die Rechte der Beschäftigten – und zur Entwicklung der Widerstandsbewegung, sowie zu einer weiteren Facette bundesdeutscher Unterstützung für die Polizeirepression in Chile:

„Chile: Widerstand gegen Ernennung der Großnichte Pinochets zur Frauenministerin“ von Sophia Boddenberg am 13. Mai 2020 bei amerika21.de zum Thema: „… Als Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International die systematische Verletzung der Menschenrechte bei den Protesten in Chile kritisierten, twitterte Santelices: “Und was ist mit den Menschenrechten von denjenigen, die Frieden wollen? Wie lange verteidigen das Nationale Menschenrechtsinstitut und Amnesty International noch die Zerstörung von Chile?” Santelices ist Mitglied der Partei UDI (Unión Democrática Independiente), in der sich noch weitere Anhänger Pinochets befinden, und sie unterstützt die Kampagne “Rechazo”, die sich gegen eine neue Verfassung in Chile richtet. Zahlreiche feministische Organisationen, Frauengruppen und Künstlerinnen zeigten sich empört und äußerten ihre Ablehnung gegen die Ernennung der neuen Ministerin. #NoTenemosMinistra (Wie haben keine Ministerin) wurde einer der meist genutzten Hashtags auf Twitter in Chile. Die Frauen aus dem Kollektiv LasTesis, deren Performance in den letzten Monaten viral gegangen ist, erklärten, eine Unterstützerin Pinochets zur Frauenministerin zu ernennen, sei eine Beleidigung für alle Frauen. Außerdem kritisierten die Koordinierung 8. März, das chilenische Netzwerk gegen Frauengewalt, die Assoziation feministischer Anwältinnen und das Observatorium gegen sexuelle Belästigung die Ernennung von Santelices. Über 100 Schriftstellerinnen forderten in einem gemeinsamen Brief bereits ihren Rücktritt...“

„Nicht am Ende“ von Frederic Schnatterer am 28. April 2020 in der jungen welt zum Stand des Massenwiderstandes unter anderem: „… Nach ungefähr einer Stunde gingen die Einsatzkräfte gegen die Anwesenden vor und nahmen mehrere Menschen fest – unter ihnen einen Kameramann der kubanischen Nachrichtenagentur Prensa Latina. Am Abend verlagerten sich die Proteste in die Wohnviertel der Hauptstadt. Mit einem »Cacerolazo«, dem lauten Aufeinanderschlagen von Kochtöpfen und Pfannen, zeigten Tausende von ihren Wohnungsfenstern und Balkonen aus, dass die Protestbewegung trotz Coronakrise nicht tot ist. Anlass war das eigentlich für Sonntag geplante Referendum über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung – eine der zentralen Forderungen des Aufstands, der in den vergangenen Monaten Millionen auf die Straßen gebracht hatte. Seit dem 18. Oktober 2019 war nahezu täglich gegen die Ungleichheit in der chilenischen Gesellschaft und für eine Ablösung des noch aus Zeiten der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet stammenden Grundgesetzes demonstriert worden. Neben der Teilnahme an Kundgebungen und Generalstreiks organisierten sich die Chilenen in den einzelnen Stadtvierteln, an Bildungseinrichtungen sowie in Betrieben. Seitdem die Coronapandemie auch in Chile angekommen ist, sind die Demonstranten jedoch aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Am 19. März erklärte der rechte Präsident Sebastián Piñera zunächst für eine Dauer von 90 Tagen den »Katastrophenzustand«, der die Ausrufung von Ausgangssperren erlaubt. Auch das Militär, das bereits im Oktober des vergangenen Jahres auf den Straßen patrouilliert hatte, überwacht wieder das öffentliche Leben. Am selben Tag beschloss die Regierung die Verlegung des Referendums über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, das nun am 25. Oktober stattfinden soll. Doch trotz Ausgangssperren und dem Verbot öffentlicher Versammlungen kommt es weiter zu spontanen Protestaktionen. Besonders aus den armen Stadtvierteln von Santiago und anderen Städten werden regelmäßig Straßenbarrikaden und Demonstrationen gemeldet. Davon, die Coronakrise für sich nutzen zu können, ist die Regierung also weit entfernt. Das zeigen auch Zahlen des Meinungsforschungsinstituts »Tú Influyes«. Laut einer vom 17. bis zum 20. April durchgeführten Umfrage haben 31 Prozent der Befragten »überhaupt kein Vertrauen« und 40 Prozent »wenig Vertrauen« in die Arbeit der Regierung. 69 Prozent lehnen den Präsidenten ab, nur zwölf Prozent der Befragten stehen hinter Piñera…“

„Keine Corona-Pause“ von David Rojas Kienzle und Regina Antiyuta am 21. April 2020 in analyse&kritik (Ausgabe 659) zum Stand der Proteste: „… Es ist kein Zufall, dass sich Piñera an einem Freitagabend ablichten ließ, waren doch die Proteste bis zuletzt freitags immer am heftigsten. Der chilenischen Regierung kommt diese Pandemie sehr gelegen: Der nicht kontrollierbare Aufstand der letzten Monate konnte so scheinbar auf einen Schlag beendet werden. Am 19. März wurde der Katastrophenzustand ausgerufen; Treffen von mehr als 50 Personen sind seitdem verboten. Noch in der selben Nacht ordnete die Regierung an, die Plaza Dignidad zu säubern; die auf die Baquedano-Statue gemalten Slogans wurden übermalt und auch die drei Skulpturen, die im Dezember zu Ehren der in Chile lebenden indigenen Völker Mapuche, Diaguita und Selknam aufgestellt worden waren, wurden zerstört sowie ein Zaun errichtet. Diese Geste starker symbolischer und politischer Gewalt markierte die erste Nacht des Katastrophenzustands, in der es vorrangig darum ging, zu versuchen, die monatelange Revolte, in der sich eine subversive Erinnerung aufgebaut hat, auszulöschen. Denn außer dem Verbot von Demonstrationen blieb alles andere beim alten. Einkaufszentren, Konsumtempel für die Chilen*innen mit dem nötigen Kleingeld, blieben geöffnet, gearbeitet werden muss überall. Während Einkaufszentren mittlerweile geschlossen sind, sind die U-Bahnen in der Hauptstadt wie immer brechend voll, an einen Mindestabstand ist hier nicht zu denken. (…) Überhaupt wird der virtuelle Raum von den Chilen*innen immer stärker genutzt. In verschiedenen Chatgruppen kann man diskutieren und sich darüber informieren, wie der staatlichen Politik, die die Prekarität in dieser Krise verstärkt, begegnet werden kann. So stellte die Gruppe von Anwälten der defensoría popular, einem spendenfinanziertem Anwaltskollektiv, das pro bono verteidigt, zwei ihrer Anwälte zur Verfügung, um in einer offenen virtuellen Sitzung zum Thema Arbeitsschutzrecht zu diskutieren und anzuleiten. Und in Regionen, die bisher noch nicht von Corona betroffen sind und wo die Gesundheitsversorgung noch prekärer ist, organisieren sich Menschen und setzen selbst Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung durch. Die Bewohner*innen der Insel Chiloé etwa verhinderten mit Straßensperren, das außer Lebensmittellieferungen Verkehr auf die Insel kommt. Die Straßensperren wurden zwar mit Polizeigewalt aufgelöst, der Personenverkehr ist aber trotzdem zum Erliegen gekommen. Auch in San Antonio, einer Region, in der viele wohlhabende Chilen*innen Ferienhäuser haben, wurden solche selbstorganisierten Straßensperren errichtet, um diese von der Region fernzuhalten…“

„Chile: „Im Untergrund, an unseren Arbeitsplätzen und in den Arbeiter*innenvierteln, staut sich Wut auf““ von Lester Calderón am 07. Mai 2020 bei Klasse gegen Klasse dokumentiert, war ein Beitrag im Rahmen einer virtuellen 1. Mai Konferenz, in der der linke chilenische Gewerkschafter unter anderem berichtete: „… In Chile gelang es dem Massenaufstand, die politische Agenda aufzurütteln und die neoliberalen Reformen, die die Regierung vertiefen wollte, zu bremsen. Heute wollen sie die Pandemie nutzen, um diese Maßnahmen wieder aufzugreifen und sie zu verschärfen. Piñeras Plan ist dreist. Sie wollen, dass wir weiter arbeiten und zwingen uns, in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, während sie gleichzeitig zwischen 22:00 Uhr und 05:00 Uhr eine Ausgangssperre verhängen… mit anderen Worten können wir nachts vom Militär ermordet werden, aber morgens müssen wir zur Arbeit fahren und mit der Möglichkeit einer Ansteckung leben! Darüber hinaus verabschiedete die Regierung ein echtes unternehmensfreundliches Arbeitslosengesetz, das es großen Unternehmen ermöglicht, uns ohne Bezahlung zu suspendieren. Obendrein müssen wir unser Einkommen mit unseren eigenen Ersparnissen aus der Arbeitslosenversicherung decken, ohne dass die Bosse überhaupt etwas zahlen. Jetzt denkt die Regierung, sie habe die Oberhand, aber sie irrt sich. Im Untergrund, an unseren Arbeitsplätzen und in den Arbeiter*innenvierteln, staut sich Wut auf. Es ist auch die Wut der Jugend, die weiter gegen die mörderischen Bullen kämpft, die nach wie vor völlige Straffreiheit genießen. Wir sind sicher, dass sich diese Wut früher oder später in Widerstand verwandeln wird. Und bereits jetzt sehen wir die ersten Versuche. Es gibt Mobilisierung von Hafenarbeitern und von der Bevölkerung in den Armenvierteln. Das Gesundheitspersonal hat bereits protestiert, um den Mangel an Schutz und Material anzuprangern, der das Leben einer Mitarbeiterin im Gesundheitssektor gekostet hat, wie das Beispiel der Beschäftigten des Krankenhauses Barros Luco Trudeau in Santiago de Chile zeigt, wo wir alle unsere Kräfte in den Dienst dieses Kampfes gestellt haben. In Antofagasta, einer Bergbau-, Hafen- und Industriestadt, die eines der Epizentren des Massenaufstandes war, haben wir vom Notfall- und Schutzkomitee aus die Solidarität gefördert, und wir sind auch Teil der Koordination von Gewerkschaften wie SGS Minerals, SGS Chile und Buró Veritas, die heute gemeinsam gegen Entlassungen kämpfen. Auch von der Gewerkschaft der Arbeiter*innen von Orica, der ich angehöre, unterstützen wir zusammen mit den Bergarbeitern von Guanaco und den Lehrerinnen den Kampf der Reinigungskräfte des Krankenhauses von Antofagasta, die für Material und Hygienebedingungen gekämpft und gewonnen haben…“

„»Das Piñera-Virus ist tödlicher als das Coronavirus«“ von Sophie Boddenberg am 29. April 2020 in neues deutschland online zu Pineras Politik unter anderem: „… »Wenn die Einkaufshäuser öffnen, dann können wir auch protestieren«, war die Reaktion auf sozialen Netzwerken auf die Maßnahmen der Regierung. Trotz des Verbots von Menschenansammlungen von mehr als 50 Personen kamen am 26. April, dem ursprünglichen Termin für das Referendum, Demonstrierende mit weißen Schutzanzügen und Atemschutzmasken am Plaza de la Dignidad zusammen, dem Treffpunkt der Proteste. Am 27. April, dem Feiertag der chilenischen Polizei, gab es im ganzen Land Demonstrationen und Barrikaden brannten. »Wir haben noch nie Ausdrücke eines so tiefen Hasses gegen die Carabineros erlebt«, sagte Polizeipräsident Mario Rozas bei seiner Rede. Die Carabineros (uniformierte chilenische Polizei, d. Red) gingen derweil gewaltsam mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Proteste vor, 70 Personen wurden festgenommen. Die Polizei hat zwölf neue Wasserwerfer angeschafft und 18 Fahrzeuge zum Einsatz von Tränengas. »Für Repression ist Geld da, für die Krankenhäuser nicht«, kritisierten Protestierende. Die Wasserwerfer stammen aus der Türkei, die chilenische Polizei wird außerdem von deutschen Polizeibehörden beraten. »Das Piñera-Virus ist tödlicher als das Coronavirus« liest man auf vielen Wänden in Santiago. Prekäre Arbeitsverhältnisse, ein unterfinanziertes öffentliches Gesundheitssystem, privatisierte Grundversorgung – die Auslöser der Proteste im Oktober werden durch die Coronakrise noch deutlicher. Die Regierung hat Gesetze verabschiedet, die es Arbeitgeber*innen erlaubt, Arbeitnehmer*innen keinen Lohn zu bezahlen, wenn sie wegen des Coronavirus nicht nur Arbeit erscheinen können und ihren Vertrag vorübergehend zu »suspendieren«. Mehr als eine Million Arbeiter*innen sind jetzt arbeitslos…“

„Setzt Polizei in Chile deutsche Impulspistole gegen Demonstranten ein?“ von Harald Neuber und David Rojas-Kienzle am 06. Mai 2020 bei amerika21.de zu einer weiteren Facette bundesdeutscher Unterstützung für chilenischen Polizeiterror: „… Videos von Demonstrationen zeigen ein entsprechendes Gerät offenbar beim Einsatz gegen Protestteilnehmer im Demonstrationsgeschehen. Mehrfache Anfragen von amerika21 bei einer deutschen Herstellerfirma, deren Pistolen den in Videos zu sehenden Geräten extrem ähnlich sieht, ließ das Unternehmen unbeantwortet. amerika21 hatte gefragt, ob die Impulspistolen nach Chile verkauft wurden und welche Kenntnisse das Unternehmen über den Einsatz seiner Geräte dort habe. Sogenannte Impulspistolen werden von der Firma Ifex Technologies GmbH mit Sitz im niedersächsischen Sittensen verkauft und hätten, so die Eigenwerbung, “die Welt der Brandbekämpfung in nur einigen wenigen Jahren grundlegend verändert”. Videos aus Chile – bei El Universal, aber auch hier und hier – zeigen aber nun offenbar, wie die für Menschenrechtsverletzungen von der UNO harsch kritisierte Polizeieinheit Carabineros Impulspistolen, die denen der Firma extrem ähnlich sehen, zweckentfremdet und gegen Demonstranten einsetzt. (…) Auf der Firmenhomepage werden als Käufer von Ifex-Produkten jedoch auch die “Polizei Mexiko”, “Militärpolizei Indonesien”, die Sicherheitsfirma Securitas und die Berliner Polizei angeführt. Chile wird unter der Überschrift “Kunden und Händler in aller Welt” als Land aufgeführt, in dem die Ifex300-Technologie zur Brandbekämpfung eingesetzt wird. Das Unternehmen wirbt auf der eigenen Internetseite auch mit einem Artikel unter der Überschrift “Ifex bei der Bundeswehr”. Während die Ifex Technologies GmbH zu den Geschäften mit Chile bislang schweigt, bestätigte die chilenische Polizei, die Impulspistolen aus Deutschland gekauft zu haben…“

Quelle: labournet.de… vom 15. Mai 2020

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