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W.I.Lenin: Entwurf eines Programms unserer Partei (1899)

Eingereicht on 4. Januar 2019 – 17:17

Dass die Tradition des revolutionären Marxismus die Form einer Wissenschaft hat, zeigt sich darin, dass für die revolutionären Projekte und für die Arbeiterbewegung über die ganze Periode des reifen Kapitalismus, des Imperialismus, insbesondere seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, immer wieder die gleichen Probleme und Fragestellungen aufkommen. Und dies gerade deshalb, da die politische, kulturelle, gesellschaftliche und soziale Wirklichkeit immer wieder mit Erscheinungen aufwartet, die sich über die ganze Epoche hin zumindest in den Grundzügen ähneln. Dies ist der Grund, dass auf den reichhaltigen Fundus der Erfahrungen der revolutionären Arbeiterbewegung zurückgegriffen werden sollte, will man sich im Rahmen revolutionärer Aufbauprojekte in der Gegenwart praktisch und theoretisch zurechtfinden.

Diese Schrift von Lenin (Werke, Band 4, pp. 221-248 ) aus dem Jahre 1899 lohnt sich deshalb heute mehr denn je zu Rate zu ziehen, obgleich sich die örtlichen und zeitlichen Bedingungen zu einem grossen Teil gewandelt haben. Sie geht ein auf die Notwendigkeit der Entwicklung einer revolutionären Organisation um ein Programm herum, die Einbettung eines solchen Programmes in die Einschätzung der aktuellen Widersprüche des Kapitalismus, die zentrale Rolle des Klassenkonfliktes gerade in Zeiten tiefer Umbrüche im Kapitalismus wie heute, gerade in Perioden, wo das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation (Marx, MEW 23, Kapitel 23) mit der absoluten und relativen Verarmung von wachsenden Segmenten der Arbeiterklasse wieder deutlicher hervortritt. Und in Zeiten, wie heute, wo die aufkommenden Massenbewegungen nicht auf den ersten Blick sich klar als durch den Klassenkonflikt zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse strukturiert erkennen lassen, da sie sich selbst nicht als solche erkennen: zu sehr wurde das allgemeine Bewusstsein durch die Prozesse der politischen, ideologischen und kulturellen Niederhaltung der politischen Vernunft verdreht; die reformistischen Organisationen der Arbeiterbewegung leisten für diese «Irrationalisierung» der Politik und der Kultur, das heisst für die Unterdrückung des Klassenbewusstseins der Lohnabhängigen, einen elementaren Beitrag. Dies das Verdienst von Lenin, diese Problematik bereits um 1900 klar erkannt und entsprechende politische und praktische Schlüsse gezogen zu haben mit der Betonung der Notwendigkeit der Schaffung eines revolutionären politischen Instrumentes der Arbeiterklasse, ausgestattet mit einem organisierten Programm und mit einer Strategie und mit einer angemessenen Debattierkultur.

Dies wird beispielsweise deutlich an seiner Behandlung des Umganges mit der Bauernschaft und dem Kleinbürgertum, wo die Eigentumsfrage zum Schlüssel der Klärung wird. Eine recht ähnliche Problematik stellt sich neuerdings beispielsweise in der Bewegung der gilets jaunes in Frankreich; leider hat sich ein Teil der radikalen Linken zumindest zu deren Beginn im November 2018 vorschnell davon distanziert, da darin, dem ideologischen, politischen und sozialen Zustand der Arbeiterklasse entsprechend, auch rassistische Töne hörbar wurden. Aber recht schnell rückten klar Forderungen nach materieller Besserstellung vor allem der Lohnabhängigen und Rentner und Rentnerinnen in den Vordergrund, ohne dabei aber klar einen Schnitt durch die Eigentumsverhältnisse zu ziehen, das heisst, die Unternehmer zur Kasse zu bitten. Auch hier sieht man, dass dieser Text von Lenin, aus dem Jahr 1899, diese Frage sogar für die heutigen Verhältnisse immer noch klärend angeht.

Wir haben im Text teilweise die Fussnoten aktualisiert. [Redaktion maulwuerfe.ch]

W.I.Lenin. Es muß wohl mit der Frage begonnen werden, ob wirklich ein dringendes Bedürfnis nach einem Programm der russischen Sozialdemokraten besteht. Von Genossen, die in Rußland tätig sind, hörten wir gelegentlich die Ansicht, daß keine dringende Notwendigkeit bestehe, gerade jetzt ein Programm auszuarbeiten, die dringendste Frage sei die Entwicklung und Festigung der lokalen Organisationen, eine straffere Organisierung der Agitation und der Literaturzustellung, es wäre praktischer, die Ausarbeitung eines Programms bis zu dem Augenblick zu verschieben, wo die Bewegung eine festere Basis erhält, es könne sich erweisen, daß ein Programm jetzt keine Basis hätte.

Wir teilen diese Meinung nicht. Selbstverständlich ist, wie K. Marx gesagt hat, «jeder Schritt wirklicher Bewegung wichtiger als ein Dutzend Programme»[1] . Aber weder Marx noch irgendein anderer Theoretiker oder Praktiker der Sozialdemokratie haben bestritten, daß ein Programm für das einmütige und konsequente Handeln einer politischen Partei von gewaltiger Bedeutung ist. Die russischen Sozialdemokraten haben ja gerade eine Periode höchst erbitterter Polemik gegen Sozialisten anderer Richtungen und gegen Nichtsozialisten, die die russische Sozialdemokratie nicht verstehen wollten, schon durchgemacht; sie haben auch die Anfangsstadien der Bewegung durchgemacht, als die Arbeit zersplittert in kleinen lokalen Organisationen geleistet wurde. Die Vereinigung, die Schaffung einer gemeinsamen Literatur, das Erscheinen von russischen Arbeiterzeitungen haben sich durch das Leben selbst notwendig gemacht, und die im Frühjahr 1898 erfolgte Gründung der «Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands», die ihre Absicht bekanntgegeben hat, in nächster Zukunft ein Parteiprogramm auszuarbeiten, hat anschaulich bewiesen, daß die Forderung nach einem Programm eben den Erfordernissen der Bewegung selbst entsprungen ist. Gegenwärtig besteht die dringendste Aufgabe unserer Bewegung nicht mehr in der Weiterentwicklung der bisherigen zersplitterten «handwerklerischen» Arbeit, sondern im Zusammenschluß, in der Organisation. Um diesen Schritt tun zu können, brauchen wir ein Programm; das Programm muß unsere Grundanschauungen formulieren, unsere nächsten politischen Aufgaben genau festlegen, die nächsten Forderungen aufzeigen, die den Kreis der Agitationstätigkeit umreißen sollen, es muß ihr Einheit verleihen, muß sie dadurch erweitern und vertiefen, daß es die Agitation aus einem Stückwerk, einer partiellen Agitation für kleine, nicht zusammenhängende Forderungen zu einer Agitation für die Gesamtheit der sozialdemokratischen Forderungen macht. Heute, wo die sozialdemokratische Tätigkeit bereits einen ziemlich weiten Kreis sowohl sozialistischer Intellektueller als auch klassenbewußter Arbeiter aufgerüttelt hat, ist es dringend notwendig, die Verbindung zwischen ihnen durch ein Programm zu festigen und auf diese Weise ihnen allen eine feste Basis für die weitere, umfassendere Tätigkeit zu geben. Schließlich ist ein Programm auch noch deshalb dringend notwendig, weil die öffentliche Meinung Rußlands sehr häufig den schwersten Irrtümern hinsichtlich der wahren Aufgaben und Arbeitsmethoden der russischen Sozialdemokraten verfällt: Teilweise wachsen diese Irrtümer ganz natürlich aus dem Sumpf der politischen Fäulnis unseres Lebens hervor, teilweise werden sie von den Gegnern der Sozialdemokratie künstlich erzeugt. Jedenfalls muß dieser Tatsache Rechnung getragen werden. Die Arbeiterbewegung, die mit dem Sozialismus und dem politischen Kampf verschmilzt, muß eine Partei bilden, die, wenn sie an die Spitze aller demokratischen Elemente der russischen Gesellschaft treten will, imstande sein muß, alle diese Irrtümer zu zerstreuen. Man könnte einwenden, der gegenwärtige Augenblick sei auch deshalb für die Abfassung eines Programms ungeeignet, weil unter den Sozialdemokraten selbst Meinungsverschiedenheiten entstehen und eine Polemik beginnt. Mir scheint, das Gegenteil ist richtig: dies ist ein weiteres Argument für die Notwendigkeit eines Programms. Einerseits darf man, da die Polemik einmal begonnen hat, hoffen, daß bei der Erörterung des Programmentwurfs alle Ansichten und alle Schattierungen von Ansichten zu Worte kommen werden, darf man hoffen, daß das Programm allseitig erörtert werden wird. Die Polemik zeigt, daß in den Reihen der russischen Sozialdemokraten das Interesse für die umfassenden Fragen nach den Zielen unserer Bewegung, nach ihren nächsten Aufgaben und ihrer Taktik lebhafter geworden ist, und gerade eine solche Belebung ist für die Erörterung des Programmentwurfs notwendig. Anderseits ist es, wenn die Polemik nicht unfruchtbar bleiben soll, wenn sie nicht zu persönlicher Rivalität ausarten, nicht zu einer Verworrenheit der Ansichten, zur Verwechslung von Feind und Freund führen soll, unbedingt notwendig, die Frage des Programms in diese Polemik einzubeziehen. Die Polemik wird nur dann Nutzen bringen, wenn sie klarstellt, worin eigentlich die Meinungsverschiedenheiten bestehen, wie tief sie geben, ob es sich um Meinungsverschiedenheiten über das Wesen der Sache oder um Meinungsverschiedenheiten in Teilfragen handelt, ob diese Meinungsverschiedenheiten ein Hindernis für die gemeinsame Arbeit in den Reihen ein und derselben Partei sind oder nicht. Nur die Einbeziehung der Programmfrage in die Polemik, nur eine bestimmte Erklärung beider polemisierender Seiten über ihre programmatischen Anschauungen kann Antwort geben auf alle diese Fragen, die dringend Antwort verlangen. Die Ausarbeitung eines gemeinsamen Parteiprogramms soll natürlich durchaus nicht jeder Polemik ein Ende machen, sie wird jedoch diejenigen grundlegenden Ansichten vom Charakter, von den Zielen und Aufgaben unserer Bewegung fest bekunden, die der kämpfenden Partei als Banner dienen sollen, einer Partei, die einig und geschlossen bleibt trotz der partiellen Meinungsverschiedenheiten, die unter ihren Mitgliedern über partielle Fragen bestehen.

Und damit zur Sache.

Wenn von einem Programm der russischen Sozialdemokraten gesprochen wird, so richten sich alle Blicke ganz natürlich auf die Mitglieder der Gruppe «Befreiung der Arbeit», die die russische Sozialdemokratie gegründet und für ihre theoretische und praktische Weiterentwicklung so viel getan haben. Unsere ältesten Genossen haben nicht gesäumt, sich über die Erfordernisse der russischen sozialdemokratischen Bewegung zu äußern. Fast zu derselben Zeit — Frühjahr 1898 —, als der Parteitag der russischen Sozialdemokraten, der den Grundstein legte für die «Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands», vorbereitet wurde, ließ P. B. Axelrod seine Broschüre «Zur Frage der gegenwärtigen Aufgaben und der Taktik der russischen Sozialdemokraten» erscheinen (Genf 1898; das Vorwort ist März 1898 datiert) und brachte als Anhang dazu den von der Gruppe «Befreiung der Arbeit» schon 1885 herausgegebenen «Entwurf eines Programms der russischen Sozialdemokraten».

Mit der Erörterung dieses Entwurfs wollen wir auch beginnen. Obgleich vor fast 15 Jahren herausgegeben, ist er, unserer Meinung nach, im großen und ganzen durchaus befriedigend, er erfüllt seinen Zweck und steht durchaus auf dem Niveau der modernen sozialdemokratischen Theorie. In diesem Entwurf wird eindeutig die Klasse bezeichnet, die in Rußland (wie auch in den anderen Ländern) allein ein selbständiger Kämpfer für den Sozialismus sein kann — die Arbeiterklasse, das «Industrieproletariat»; — es wird das Ziel gewiesen, das diese Klasse sich stecken muß — «Übergang aller Produktionsmittel und Produktionsgüter in gesellschaftliches Eigentum», «Abschaffung der Warenproduktion» und «ihre Ersetzung durch ein neues System gesellschaftlicher Produktion», «die kommunistische Revolution»; — es wird die «unvermeidliche Vorbedingung» einer «Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse» genannt: «die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse»; — es wird eingegangen auf die internationale Solidarität des Proletariats und die Notwendigkeit eines «Elements der Verschiedenartigkeit in den Programmen der Sozialdemokraten verschiedener Staaten entsprechend den gesellschaftlichen Verhältnissen jedes einzelnen von ihnen»; — es wird die Besonderheit Rußlands aufgezeigt, «wo die werktätigen Massen unter dem doppelten Joch des sich entwickelnden Kapitalismus und der überlebten Patriarchalwirtschaft leben»; — es wird der Zusammenhang der russischen revolutionären Bewegung mit dem Prozeß der (durch die Kräfte des sich entwickelnden Kapitalismus erfolgenden) Schaffung «einer neuen Klasse des Industrieproletariats — einer aufnahmefähigeren, beweglicheren und entwickelteren Klasse» gezeigt; — es wird die Notwendigkeit, eine «revolutionäre Arbeiterpartei» zu gründen, und ihre «erste politische Aufgabe» aufgezeigt: «Sturz des Absolutismus»; — es werden die «Mittel des politischen Kampfes» genannt und seine Hauptforderungen aufgestellt.

Alle diese Elemente des Programms sind unserer Meinung nach in einem Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei absolut notwendig — sie alle stellen Thesen dar, die seither immer und immer wieder sowohl durch die Entwicklung der sozialistischen Theorie als auch durch die Entwicklung der Arbeiterbewegung in allen Ländern Bestätigung gefunden haben — insbesondere durch die Entwicklung der russischen gesellschaftlichen Anschauungen und der russischen Arbeiterbewegung. Infolgedessen können und müssen unserer Meinung nach die russischen Sozialdemokraten dem Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands gerade den Entwurf der Gruppe «Befreiung der Arbeit» zugrunde legen — einen Entwurf, der nur in Einzelheiten redaktioneller Änderungen, Korrekturen und Ergänzungen bedarf.

Versuchen wir, von diesen, Einzelheiten betreffenden Änderungen diejenigen aufzuführen, die uns zweckmäßig erscheinen und über die ein Meinungsaustausch unter allen russischen Sozialdemokraten und klassenbewußten Arbeitern herbeigeführt werden sollte.

Vor allem muß natürlich der Aufbau des Programms etwas geändert werden: Im Jahre 1885 handelte es sich um das Programm einer Gruppe im Ausland befindlicher Revolutionäre, die den einzigen erfolgversprechenden Entwicklungsweg der Bewegung richtig zu bestimmen wußten, es jedoch damals noch nicht mit einer einigermaßen breiten und selbständigen Arbeiterbewegung in Rußland zu tun hatten. Im Jahre 1900 handelt es sich bereits um das Programm einer Arbeiterpartei, die von einer ganzen Reihe russischer sozialdemokratischer Organisationen gegründet worden ist. Abgesehen von den redaktionellen Änderungen, die infolgedessen notwendig sind (und auf die nicht näher eingegangen zu werden braucht, weil sie sich von selbst verstehen), ergibt sich aus diesem Unterschied auch die Notwendigkeit, den ökonomischen Entwicklungsprozeß, der die materiellen und geistigen Voraussetzungen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung hervorbringt, sowie den proletarischen Klassenkampf, dessen Organisierung sich die sozialdemokratische Partei zur Aufgabe macht, in den Vordergrund zu rücken und stärker zu betonen. Die Charakteristik der Grundzüge des heutigen Wirtschaftssystems in Rußland und seiner Entwicklung müßte zum Angelpunkt des Programms gemacht werden (vgl. im Programm der Gruppe «Befreiung der Arbeit»: «Der Kapitalismus hat in Rußland seit Aufhebung der Leibeigenschaft riesige Fortschritte gemacht. Das alte System der Naturalwirtschaft macht der Warenproduktion Platz…») und danach müßte die Haupttendenz des Kapitalismus umrissen werden: Spaltung des Volkes in Bourgeoisie und Proletariat, «wachsende Masse des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Degradation, der Ausbeutung»[2]. Diese letztangeführten berühmten Worte von Marx werden im zweiten Absatz des Erfurter Programms der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wiederholt; in letzter Zeit sind die Kritiker, die sich um Bernstein gruppieren, gerade über diesen Punkt besonders heftig hergefallen, wobei sie die alten Einwände der bürgerlichen Liberalen und Sozialpolitiker gegen die «Verelendungstheorie» wiederholen. Unserer Meinung nach hat die Polemik, die aus diesem Anlaß geführt wurde, die völlige Unhaltbarkeit einer derartigen «Kritik» vollauf bewiesen. Bernstein selbst hat die Richtigkeit dieser Worte von Marx in dem Sinne zugegeben, daß sie eine Tendenz des Kapitalismus kennzeichnen — eine Tendenz, die Wirklichkeit wird ohne den Klassenkampf des Proletariats gegen diese Tendenz, ohne die von der Arbeiterklasse erkämpften Arbeiterschutzgesetze. Gerade in Rußland sehen wir gegenwärtig, wie die erwähnte Tendenz sich mit außerordentlicher Stärke auf die Bauernschaft und auf die Arbeiterschaft auswirkt. Weiter aber hat Kautsky gezeigt, daß die Worte von der «wachsenden Masse des Elends usw.» nicht nur als Charakteristik einer Tendenz richtig sind, sondern auch als Hinweis auf die Zunahme des «sozialen Elends», d. h. auf das wachsende Mißverhältnis zwischen der Lage des Proletariats und dem Lebensniveau der Bourgeoisie — einem Niveau von gesellschaftlichen Bedürfnissen, die zusammen mit dem riesigen Wachstum der Arbeitsproduktivität steigen. Schließlich sind diese Worte auch noch in dem Sinne richtig, daß die Zunahme des Elends — und zudem nicht nur des «sozialen» Elends, sondern auch des furchtbarsten physischen Elends, bis zum Hunger und Hungertod einschließlich — «in den Grenzgebieten» des Kapitalismus (d. h. in den Ländern und in den Zweigen der Volkswirtschaft, in denen der Kapitalismus eben erst entsteht und auf vorkapitalistische Zustände stößt) Massenausmaße annimmt. Jeder weiß, daß dies für Rußland in einem zehnfach höheren Maße zutrifft als für irgendein anderes europäisches Land. Also müssen unserer Meinung nach die Worte von der «wachsenden Masse des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Degradation, der Ausbeutung» unbedingt in das Programm aufgenommen werden — erstens, weil sie die grundlegenden und wesentlichen Eigenschaften des Kapitalismus absolut richtig charakterisieren, weil sie gerade den Prozeß charakterisieren, der sich vor unseren Augen vollzieht und der eine der Hauptbedingungen ist, die die Arbeiterbewegung und den Sozialismus in Rußland hervorbringen; zweitens, weil diese Worte ein riesiges Material für die Agitation liefern, da sie eine ganze Reihe von Erscheinungen resümieren, die die Arbeitermassen am meisten bedrücken, aber auch am meisten empören (Arbeitslosigkeit, niedriger Arbeitslohn, Unterernährung, Hungersnöte, drakonische Disziplin des Kapitals, Prostitution, wachsende Zahl der Dienerschaft usw. und dgl. mehr) ; drittens, weil wir uns durch diese genaue Kennzeichnung der verderblichen Auswirkungen des Kapitalismus und der Notwendigkeit, der Unvermeidlichkeit der Empörung der Arbeiter von den halbschlächtigen Elementen abgrenzen, die mit dem Proletariat «sympathisieren» und «Reformen» zu seinen Gunsten verlangen und zugleich bestrebt sind, die «goldene Mitte» zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zwischen der autokratischen Regierung und den Revolutionären einzunehmen. Die Abgrenzung von diesen Leuten aber ist gegenwärtig besonders notwendig, wenn wir eine einige und geschlossene Arbeiterpartei schaffen wollen, die einen entschlossenen und unbeirrbaren Kampf für politische Freiheit und für den Sozialismus führt.

Hier müssen ein paar Worte über unsere Haltung zum Erfurter Programm gesagt werden. Aus dem vorstehend Gesagten hat jeder bereits ersehen, daß wir es für notwendig halten, an dem Entwurf der Gruppe «Befreiung der Arbeit» Änderungen vorzunehmen, die das Programm der russischen Sozialdemokraten dem Programm der deutschen Sozialdemokraten annähern. Wir fürchten uns nicht im geringsten zu sagen, daß wir das Erfurter Programm nachahmen wollen: an der Nachahmung dessen, was gut ist, ist nichts Schlimmes, und gerade jetzt, wo man so häufig eine opportunistische und halbschlächtige Kritik an diesem Programm hört, halten wir es für unsere Pflicht, uns offen für das Erfurter Programm auszusprechen. Aber Nachahmung soll auf keinen Fall einfaches Abschreiben sein. Nachahmung und Entlehnung sind insoweit durchaus berechtigt, als wir in Rußland die gleichen grundlegenden Entwicklungsprozesse des Kapitalismus, die gleichen grundlegenden Aufgaben der Sozialisten und der Arbeiterklasse sehen, aber sie dürfen auf keinen Fall dazu führen, die ‚Besonderheiten Rußlands, die in den Besonderheiten unseres Programms vollen Ausdrudk finden müssen, zu vergessen. Vorauseilend wollen wir schon jetzt darauf hinweisen, daß diese Besonderheiten sich erstens auf unsere politischen Aufgaben und Kampfmittel beziehen; zweitens auf den Kampf gegen alle Überreste des patriarchalischen, vorkapitalistischen Regimes und auf die durch diesen Kampf verursachte besondere Stellung der Bauernfrage.

Nach diesem notwendigen Vorbehalt gehen wir weiter. Der Erklärung über die «wachsende Masse des Elends» muß eine Charakteristik des proletarischen Klassenkampfes folgen—Darlegung des Ziels dieses Kampfes (Übergang aller Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum und Ersetzung der kapitalistischen Produktion durch die sozialistische) — Darlegung des internationalen Charakters der Arbeiterbewegung — Darlegung des politischen Charakters des Klassenkampfes und seines nächsten Ziels (Eroberung politischer Freiheit). Die Anerkennung des Kampfes gegen die Selbstherrschaft und für politische Freiheit als erste politische Aufgabe der Arbeiterpartei ist besonders notwendig, zur Erläuterung dieser Aufgabe aber ist unserer Meinung nach darzulegen der Klassencharakter des heutigen russischen Absolutismus und die Notwendigkeit seines Sturzes nicht nur im Interesse der Arbeiterklasse, sondern auch im Interesse der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung überhaupt. Eine solche Erklärung ist sowohl in theoretischer Beziehung notwendig, denn vom Standpunkt der Grundideen des Marxismus stehen die Interessen der gesellschaftlichen Entwicklung höher als die Interessen des Proletariats — die Interessen der ganzen Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit höher als die Interessen einer einzelnen Arbeiterschicht oder einzelner Momente der Bewegung; — als auch in praktischer Beziehung, um den zentralen Punkt zu bezeichnen, zu dem die ganze mannigfaltige, aus Propaganda, Agitation und Organisation bestehende Tätigkeit der Sozialdemokratie hinstrebt, und um den sich diese Tätigkeit gruppieren muß. Außerdem, glauben wir, sollte auch ein besonderer Absatz des Programms der Erklärung gewidmet werden, daß dieSozialdemokratische Arbeiterpartei es sich zur Aufgabe macht, jede revolutionäre Bewegung gegen den Absolutismus zu unterstützen und den Kampf zu führen gegen alle Versuche der autokratischen Regierung, das politische Bewußtsein des Volkes durch bürokratische Bevormundung und Scheinalmosen zu korrumpieren und zu trüben, durch jene demagogische Politik, die unsere deutschen Genossen «Peitsche und Zuckerbrot» genannt haben. Zuckerbrot — das sind Almosen für diejenigen, die teilweiser und einzelner Verbesserungen der materiellen Lage wegen sich von ihren politischen Forderungen lossagen und gefügige Sklaven der Polizeiwillkür bleiben (für die Studenten Gemeinschaftswohnungen und dgl. mehr, und für die Arbeiter braucht man nur zu erinnern an die Proklamationen des Finanzministers Witte während der Petersburger Streiks von 1896 und 1897 oder an die Reden zum Schutze der Arbeiter, die von Vertretern des Innenministeriums in der Kommission für den Erlaß des Gesetzes vom 2. VI. 1897 gehalten worden sind). Peitsche — das sind die verstärkten Verfolgungsmaßnahmen gegen diejenigen, die trotz dieser Almosen Kämpfer für die politische Freiheit bleiben (Zwangsrekrutierung von Studenten[3]; das Rundschreiben vom 12. VIII. 1897 über die Verschickung von Arbeitern nach Sibirien; verstärkte Verfolgungen gegen die Sozialdemokratie und dgl. mehr). Das Zuckerbrot soll Schwache ködern, bestechen und demoralisieren; die Peitsche soll ehrliche und bewußte Kämpfer für die Sache der Arbeiter und des ganzen Volkes einschüchtern und «unschädlich machen». Solange der Absolutismus existiert (und wir müssen heute unser Programm eben mit Hinsicht auf die Tatsache abfassen, daß der Absolutismus existiert, denn sein Sturz wird unvermeidlich eine so große Veränderung der politischen Verhältnisse herbeiführen, daß die Arbeiterpartei genötigt ist, die Formulierung ihrer nächsten politischen Aufgaben wesentlich zu ändern), solange der Absolutismus existiert, haben wir eine ständige Wiederholung und Verstärkung dieser demagogischen Maßnahmen der Regierung zu erwarten, und folglich müssen wir systematisch gegen sie kämpfen, indem wir die Verlogenheit der polizeilichen Volksbeglücker entlarven, indem wir den Zusammenhang der Reformen der Regierung mit dem Kampf der Arbeiter zeigen, indem wir das Proletariat lehren, sich jede Reform zunutze zu machen, um seine Kampfposition zu stärken, um die Arbeiterbewegung auszubreiten und zu vertiefen. Die Erklärung, daß wir alle Kämpfer gegen den Absolutismus unterstützen, ist im Programm eben deshalb notwendig, weil die russische Sozialdemokratie, die mit den fortgeschrittenen Elementen der russischen Arbeiterklasse unauflöslich verschmolzen ist, das gesamtdemokratische Banner hissen muß, um alle Schichten und Elemente um sich zu gruppieren, die fähig sind, für die politische Freiheit zu kämpfen oder wenigstens diesen Kampf in irgendeiner Weise zu unterstützen.

Das ist unsere Ansicht von den Forderungen, denen der prinzipielle Teil unseres Programms gerecht werden muß, und von den grundlegenden Thesen, die darin so genau und prägnant wie möglich zum Ausdrucke kommen müssen. Aus dem Programmentwurf der Gruppe «Befreiung der Arbeit» müssen unserer Meinung nach wegfallen (aus dem prinzipiellen Teil): 1. die Hinweise auf die Form des bäuerlichen Bodenbesitzes (über die Bauernfrage werden wir weiter unten sprechen); 2. die Hinweise auf die Ursachen der «Unbeständigkeit» usw. der Intelligenz; 3. der Punkt über «die Abschaffung des gegenwärtigen Systems der politischen Vertretung und seine Ersetzung durch die direkte Volksgesetzgebung»; 4. der Punkt über die «Mittel des politischen Kampfes». Wir sehen freilich in diesem letztgenannten Punkt nichts Veraltetes oder Unrichtiges: wir glauben im Gegenteil, daß die Mittel gerade die sein müssen, die die Gruppe «Befreiung der Arbeit» aufgezeigt hat (Agitation, revolutionäre Organisation, «im geeigneten Augenblick» Übergang zum entschlossenen Angriff, der, im Prinzip, auch auf den Terror nicht verzichtet), aber wir glauben, daß das Programm einer Arbeiterpartei für Hinweise auf die Mittel der Tätigkeit, die im Programm einer Auslandsgruppe von Revolutionären im Jahre 1885 notwendig waren, nicht der geeignete Platz ist. Das Programm muß die Frage der Mittel offenlassen und die Wahl der Mittel den kämpfenden Organisationen und den Parteitagen, die die Taktik der Partei festlegen, überlassen. Fragen der Taktik aber können kaum ins Programm aufgenommen werden (mit Ausnahme der wesentlichsten und prinzipiellsten Fragen, wie die Frage nach dem Verhältnis zu den anderen Kämpfern gegen den Absolutismus). Die Fragen der Taktik werden, in dem Maße, wie sie auftauchen, in der Zeitung der Partei erörtert und auf den Parteitagen endgültig entschieden werden. Hierher gehört unserer Meinung nach auch die Frage des Terrors. Die Erörterung dieser Frage — eine Erörterung natürlich nicht von der prinzipiellen, sondern von der taktischen Seite her — muß von den Sozialdemokraten unbedingt begonnen werden, denn die Entwicklung der Bewegung führt von selbst, spontan dazu, daß immer häufiger Spione getötet werden und daß die leidenschaftliche Empörung in den Reihen der Arbeiter und der Sozialisten stärker wird, da diese sehen, daß ein größerer und immer größerer Teil ihrer Genossen in Einzelzellen und in den Verbannungsorten zu Tode gequält wird. Um keinen Platz für Unklarheiten zu lassen, wollen wir gleich hier sagen, daß unserer persönlichen Meinung nach der Terror gegenwärtig ein unzweckmäßiges Kampfmittel ist, daß die Partei {als Partei) ihn ablehnen muß (bis zu einer Änderung der Verhältnisse, die auch einen Wechsel der Taktik hervorrufen könnte) und alle ihre Kräfte konzentrieren muß auf die Festigung der Organisation und die regelmäßige Zustellung von Literatur. Hier ist nicht der Ort, eingehender davon zu sprechen.

Was die Frage der direkten Volksgesetzgebung betrifft, so scheint uns, daß man sie gegenwärtig überhaupt nicht ins Programm aufnehmen soll. Man darf nicht prinzipiell den Sieg des Sozialismus mit der Ablösung des Parlamentarismus durch die direkte Volksgesetzgebung verbinden. Dies haben nach unserer Ansicht die Debatten über das Erfurter Programm und Kautskys Buch über Volksgesetzgebung bewiesen. Kautsky erkennt der Volksgesetzgebung (auf Grund einer historischen und politischen Analyse) unter den folgenden Bedingungen einen gewissen Nutzen zu: 1. Fehlen des Gegensatzes zwischen Stadt und Land oder ein überwiegen der Städte; 2. Bestehen hochentwickelter politischer Parteien; 3. «Fehlen einer übermäßig zentralisierten, der Volksvertretung selbständig gegenüberstehenden Staatsgewalt». In Rußland sehen wir völlig entgegengesetzte Bedingungen, und die Gefahr, daß die «Volksgesetzgebung» zu einem imperialistischen «Plebiszit» ausartet, wäre bei uns besonders groß. Wenn Kautsky 1893 von Deutschland und Österreich sagte: «Für uns Osteuropäer gehört sie» (die direkte Volksgesetzgebung) «in das Inventar des ,Zukunftsstaates’», so braucht man von Rußland gar nicht erst zu reden. Wir glauben deshalb, daß wir uns jetzt, wo in Rußland die Selbstherrschaft besteht, auf die Forderung nach einer «demokratischen Verfassung» beschränken und die ersten beiden Punkte des praktischen Teils im Programm der Gruppe «Befreiung der Arbeit» den ersten beiden Punkten des praktischen Teils im «Erfurter Programm» vorziehen sollten.

Kommen wir zum praktischen Teil des Programms. Dieser Teil zerfällt unserer Meinung nach, wenn nicht in der Darstellung, so doch dem Wesen der Sache nach in drei Abschnitte: 1. Forderungen nach gesamtdemokratischen Umbildungen, 2. Forderungen nach Arbeiterschutzmaßnahmen und 3. Forderungen nach Maßnahmen im Interesse der Bauern. Im ersten Abschnitt ist es wohl kaum erforderlich, wesentliche Änderungen am «Programmentwurf» der Gruppe «Befreiung der Arbeit» vorzunehmen, der fordert: 1. allgemeines Wahlrecht; 2. Diäten für Volksvertreter; 3. allgemeine, weltliche, unentgeltliche und obligatorische Schulbildung usw.; 4. Unantastbarkeit der Person und der Wohnungen der Bürger; 5. unbeschränkte Freiheit des Gewissens, des Worts, der Versammlungen usw. (hier sollte vielleicht speziell hinzugefügt werden: Streikfreiheit); 6. Freizügigkeit und Gewerbefreiheit (hier sollte vielleicht hinzugefügt werden: «Freiheit der Umsiedlung» und «völlige Abschaffung der Pässe»); 7. volle Gleichberechtigung aller Bürger usw.; 8. Ersetzung des stehenden Heeres durch allgemeine Volksbewaffnung; 9. «Revision unserer gesamten Zivil- und Strafgesetzgebung, Abschaffung der Ständeordnung und der Strafen, die mit der Menschenwürde unvereinbar sind». Hier sollte hinzugefügt werden: «völlige rechtliche Gleichstellung der Frau mit dem Manne». Ebenfalls in diesen Abschnitt sollte die Forderung nach Finanzreformen aufgenommen werden, die im Programm der Gruppe «Befreiung der Arbeit» unter den Forderungen formuliert ist, die «die Arbeiterpartei, gestützt auf diese politischen Grundrechte, aufstellen wird» — «Abschaffung des gegenwärtigen Steuersystems und Einführung einer progressiven Einkommensteuer». Platz finden müßte hier schließlich auch die Forderung nach «Wahl der Beamten durch das Volk; Berechtigung jedes Bürgers, jeden beliebigen Beamten ohne Beschwerde bei der übergeordneten Behörde gerichtlich zu belangen».

Im zweiten Abschnitt der praktischen Forderungen finden wir im Programm der Gruppe «Befreiung der Arbeit» die allgemeine Forderung nach «gesetzlicher Regelung der Beziehungen der (städtischen und ländlichen) Arbeiter zu den Unternehmern und Organisierung einer entsprechenden Inspektion, in der die Arbeiter vertreten sind». Wir glauben, die Arbeiterpartei muß die Forderungen zu diesem Punkt ausführlicher und eingehender darlegen, sie muß fordern: 1. den Achtstundentag; 2. das Verbot der Nachtarbeit, das Verbot der Arbeit von Kindern unter 14 Jahren; 3. für jeden Arbeiter in der Woche eine ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden; 4. die Ausdehnung der Fabrikgesetze und der Fabrikinspektion auf alle Zweige der Industrie und Landwirtschaft, auf die staatlichen Fabriken, die Handwerksbetriebe und die zu Hause arbeitenden Kustare. Wahl von Inspektorengehilfen, die die gleichen Rechte haben wie die Inspektoren, durch die Arbeiter, 5. Bildung von Industrie- und Landwirtschaftsgerichten in allen Zweigen der Industrie und Landwirtschaft mit Richtern, die von den Unternehmern und den Arbeitern paritätisch gewählt werden; 6. unbedingtes, überall geltendes Verbot der Entlohnung in Waren; 7. gesetzliche Haftpflicht der Fabrikanten für alle Unfälle und Verstümmelungen von Arbeitern in der Industrie wie auf dem Lande; 8. eine gesetzliche Vorschrift, daß in allen Fällen von Lohnarbeit die Lohnzahlung mindestens einmal wöchentlich erfolgen muß; 9. Aufhebung aller Gesetze, die die Gleichberechtigung von Unternehmern und Arbeitern verletzen (z. B. der Gesetze über die strafrechtliche Verantwortung der Fabrik- und Landarbeiter wegen Aufgabe der Arbeitsstelle; der Gesetze, die den Unternehmern bedeutend mehr Freiheit geben, den Arbeitsvertrag zu lösen, als den Arbeitern usw.)- (Es versteht sich von selbst, daß wir die erwünschten Forderungen nur skizzieren, ohne ihnen die für den Entwurf erforderliche endgültige Formulierung zu geben.) Dieser Abschnitt des Programms muß (in Verbindung mit dem Vorhergehenden) die grundlegenden Leitsätze für die Agitation liefern, ohne natürlich die Agitatoren irgendwie daran zu hindern, in einzelnen Gegenden, Produktionszweigen, Fabriken usw. andere, etwas veränderte, konkretere, mehr ins einzelne gehende Forderungen aufzustellen. Bei Abfassung dieses Programmabschnitts müssen wir deshalb bestrebt sein, zwei Extreme zu vermeiden: Einerseits darf keine der wichtigen, grundlegenden Forderungen, die von wesentlicher Bedeutung für die ganze Arbeiterklasse sind, ausgelassen werden; anderseits dürfen wir uns nicht übermäßig in Einzelheiten verlieren, da es unrationell wäre, das Programm mit ihnen vollzustopfen.

Die Forderung nach «Staatshilfe für Produktivgenossenschaften», die im Programm der Gruppe «Befreiung der Arbeit» steht, muß unserer Meinung nach überhaupt aus dem Programm gestrichen werden. Sowohl die Erfahrungen anderer Länder und theoretische Erwägungen als auch die Besonderheiten des russischen Lebens (die Neigung der bürgerlichen Liberalen und der Polizeiregierung, mit «Artels» und mit der «Protektion» der «Volksindustrie» zu liebäugeln, usw.) — all das spricht gegen die Aufstellung dieser Forderung. (Natürlich stand die Sache vor 15 Jahren in vielen Beziehungen anders, und damals war es natürlich, daß die Sozialdemokraten eine derartige Forderung in ihr Programm aufnahmen.)

Bleibt der letzte — dritte — Abschnitt des praktischen Programmteils: die Forderungen in der Bauernfrage. Im Programm der Gruppe «Befreiung der Arbeit» finden wir eine solche Forderung, und zwar die Forderung nach «radikaler Revision unserer Agrarverhältnisse, d. h. der Bedingungen für den Loskauf des Bodens und für seine Zuweisung an die Bauerngemeinden. Den Bauern, die das angemessen finden, ist das Recht einzuräumen, auf den Bodenanteil zu verzichten und aus der Dorfgemeinde auszuscheiden, und dgl. mehr.»

Mir scheint, daß der hier zum Ausdruck gebrachte Grundgedanke absolut richtig ist und daß die Sozialdemokratische Arbeiterpartei wirklich in ihrem Programm eine entsprechende Forderung aufstellen muß (ich sage: eine entsprechende, denn einige Änderungen erscheinen mir wünschenswert).

Meine Auffassung von dieser Frage ist die folgende. Die Bauernfrage in Rußland unterscheidet sich wesentlich von der Bauernfrage im Westen, aber sie-unterscheidet sich nur dadurch, daß es sich im Westen fast ausschließlich um den Bauern in einer kapitalistischen, bürgerlichen Gesellschaft handelt, in Rußland dagegen hauptsächlich um den Bauern, der unter vorkapitalistischen Einrichtungen und Verhältnissen nicht weniger (wenn nicht mehr) zu leiden hat, der unter den Überresten der Leibeigenschaft zu leiden hat. Die Rolle der Bauernschaft als einer Klasse, die Kämpfer gegen den Absolutismus und gegen die Überreste der Leibeigenschaft stellt, ist im Westen bereits ausgespielt, in Rußland noch nicht. Im Westen ist das Industrieproletariat seit langem und scharf vom Dorfe getrennt, und diese Trennung ist bereits durch entsprechende Rechtsinstitutionen verankert. In Rußland «ist das Industrieproletariat nach seinen Bestandselementen und Existenzbedingungen noch in hohem Grade mit dem Dorf verbunden» (P. B. Axelrod, zitierte Broschüre, S. 11). Freilich geht der Prozeß der Auflösung der Bauernschaft in Kleinbourgeoisie und Lohnarbeiter bei uns mit großer Kraft, mit erstaunlicher Geschwindigkeit vor sich, aber dieser Prozeß ist bei weitem noch nicht abgeschlossen, und — was die Hauptsache ist — dieser Prozeß vollzieht sich bei uns noch im Rahmen der alten, fronherrschaftlichen Institutionen, die alle Bauern durch die schwere Kette der solidarischen Haftung und der fiskalischen Dorfgemeinschaft fesseln. Der russische Sozialdemokrat, selbst wenn er (wie der Schreiber dieser Zeilen) zu den entschiedenen Gegnern des Schutzes oder der Unterstützung des Kleineigentums oder der kleinen Wirtschaft in der kapitalistischen Gesellschaft gehört, d. h., selbst wenn er sich auch in der Agrarfrage (wie der Schreiber dieser Zeilen) auf die Seite derjenigen Marxisten stellt, die von allen möglichen Bourgeois und Opportunisten heute gern als «Dogmatiker» und «Rechtgläubige» beschimpft werden, kann und muß somit, ohne im mindesten seinen Überzeugungen untreu zu werden, ja, im Gegenteil, gerade kraft dieser Überzeugungen, dafür eintreten, daß die Arbeiterpartei die Unterstützung der Bauernschaft auf ihr Banner schreibt (keineswegs als einer Klasse von Kleineigentümern oder kleinen Landwirten), soweit diese Bauernschaft zum revolutionären Kampf gegen die Überreste der Leibeigenschaft im allgemeinen und gegen den Absolutismus im besonderen fähig ist. Erklären wir Sozialdemokraten doch alle, daß wir bereit sind, auch die Großbourgeoisie zu unterstützen, soweit sie zum revolutionären Kampf gegen die erwähnten Erscheinungen fähig ist — wie also können wir der viele Millionen zählenden Klasse der Kleinbourgeoisie, die durch allmähliche Übergänge mit dem Proletariat verschmilzt, eine solche Unterstützung versagen? Wenn die Unterstützung liberaler Forderungen der Großbourgeoisie nicht die Unterstützung der Großbourgeoisie bedeutet, so bedeutet doch auch die Unterstützung der demokratischen Forderungen der Kleinbourgeoisie keineswegs eine Unterstützung der Kleinbourgeoisie: im Gegenteil, gerade die Entwicklung, die Rußland politische Freiheit geben wird, wird mit besonderer Kraft dazu führen, daß die kleine Wirtschaft unter den Schlägen des Kapitals zugrunde geht. Mir scheint, daß es in diesem Punkt unter Sozialdemokraten keine Streitigkeiten geben wird. Die ganze Frage ist also die: 1. Wie gerade solche Forderungen ausgearbeitet werden können, die nicht zur Unterstützung der Kleinbesitzer in der kapitalistischen Gesellschaft abgleiten, und 2. ob unsere Bauernschaft wenigstens teilweise zum revolutionären Kampf gegen die Überreste der Leibeigenschaft und gegen den Absolutismus fähig ist. Beginnen wir mit der zweiten Frage. Wohl niemand wird bestreiten, daß es in der russischen Bauernschaft revolutionäre Elemente gibt. Bekannt sind die Tatsachen der Bauernaufstände gegen Gutsherren, gegen deren Verwalter, gegen die sie schützenden Beamten auch nach der Reform, bekannt sind die Tatsachen der Totschläge, Rebellionen usw. auf dem Lande. Bekannt ist die Tatsache der wachsenden Empörung in der Bauernschaft (in der sogar die armseligen Ansätze von Bildung bereits das Gefühl menschlicher Würde zu erwecken begonnen haben) gegen die barbarische Willkür jener Bande wohlgeborenen Lumpenpacks, die unter dem Namen von Landeshauptleuten auf die Bauern losgelassen worden ist. Bekannt ist die Tatsache der immer häufiger werdenden Hungersnöte für Millionen des Volkes, die nicht teilnahmslose Zuschauer derartiger «Ernährungsschwierigkeiten» bleiben können. Bekannt ist die Tatsache, daß sich in der Bauernschaft Sektenwesen und Rationalismus ausbreiten — der in religiöser Hülle auftretende politische Protest aber ist eine Erscheinung, die in einem bestimmten Entwicklungsstadium allen Völkern und nicht nur Rußland eigen ist. Das Vorhandensein revolutionärer Elemente in der Bauernschaft unterliegt also nicht dem geringsten Zweifel. Wir übertreiben nicht im geringsten die Kraft dieser Elemente, wir vergessen nicht die politische Unentwickeltheit und Unbildung der Bauern, wir verwischen nicht im geringsten die Grenzscheide zwischen «der sinnlosen und erbarmungslosen russischen Rebellion» und dem revolutionären Kampf, wir vergessen nicht im geringsten, welche Unzahl von Mitteln die Regierung besitzt, um die Bauern politisch zu prellen und zu demoralisieren. Aber aus alledem folgt nur, daß es unsinnig wäre, die Bauernschaft zum Träger der revolutionären Bewegung zu proklamieren, daß eine Partei ohne jede Vernunft wäre, die den revolutionären Charakter ihrer Bewegung von der revolutionären Stimmung der Bauernschaft abhängig machen würde. Wir denken ja gar nicht daran, den russischen Sozialdemokraten irgend etwas Derartiges vorzuschlagen. Wir sagen lediglich, daß die Arbeiterpartei, ohne die Grundgebote des Marxismus zu verletzen und einen gewaltigen politischen Fehler zu begehen, an den revolutionären Elementen, die es auch in der Bauernschaft gibt, nicht vorbeigehen, diesen Elementen nicht die Unterstützung versagen kann. Ob diese revolutionären Elemente der russischen Bauernschaft es vermögen, auch nur so in Erscheinung zu treten, wie die westeuropäischen Bauern beim Sturz des Absolutismus in Erscheinung getreten sind — das ist eine Frage, auf die die Geschichte noch keine Antwort gegeben hat. Wenn sie es nicht vermögen, so wird das weder dem guten Namen noch der Bewegung der Sozialdemokratie Abbruch tun, denn es ist nicht ihre Schuld, daß die Bauernschaft auf ihren revolutionären Appell nicht geantwortet hat (vielleicht nicht imstande war zu antworten). Die Arbeiterbewegung geht ihren Weg und wird ihn weitergehen, ungeachtet jedes wie immer gearteten Verrats der Groß- oder Kleinbourgeoisie. Wenn sie es vermögen, so würde die Sozialdemokratie, die die Bauernschaft nicht dabei unterstützt hätte, für immer ihren guten Namen und das Recht verloren haben, als der Vorkämpfer der Demokratie zu gelten.

Um zu der ersten oben gestellten Frage überzugehen, müssen wir sagen, daß die Forderung nach «radikaler Revision der Agrarverhältnisse» uns unklar vorkommt: vor 15 Jahren mag sie genügt haben, heute aber, wo wir richtunggebendes Material für die Agitation liefern und uns außerdem von den Verteidigern der kleinen Wirtschaften abgrenzen müssen, die in der heutigen russischen Gesellschaft so zahlreich sind und so «einflußreiche» Anhänger finden wie die Herren Pobedonoszew, Witte und sehr viele Beamte des Innenministeriums, kann man sich mit ihr schwerlich zufriedengeben. Wir erlauben uns, den Genossen etwa die folgende Formulierung für den dritten Abschnitt des praktischen Teils unseres Programms zur Erörterung zu unterbreiten:

«Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands, die jede revolutionäre Bewegung gegen die heutige Staats- und Gesellschaftsordnung unterstützt, erklärt, daß sie der Bauernschaft Unterstützung angedeihen läßt, soweit diese als die unter der Rechtlosigkeit des russischen Volkes und den Überresten der Leibeigenschaft in der russischen Gesellschaft am meisten leidende Klasse zum revolutionären Kampf gegen die Selbstherrschaft fähig ist.

Von diesem Prinzip ausgehend, fordert die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands:

  1. Abschaffung der Loskauf- und Fronzinszahlungen sowie aller Lasten, die gegenwärtig die Bauernschaft als abgabenpflichtiger Stand zu tragen hat.
  2. Rückerstattung des Geldes, das die Regierung und die Gutsherren den Bauern in Form von Loskaufzahlungen geraubt haben, an das Volk.
  3. Abschaffung der solidarischen Haftung und aller Gesetze, die die Verfügungsgewalt des Bauern über seinen Boden einschränken.
  4. Vernichtung aller Überreste fronherrschaftlicher Abhängigkeit der Bauern von den Gutsbesitzern, ob diese Überreste nun besonderen Gesetzen und Institutionen entspringen (z. B. die Lage der Bauern und der Arbeiter in den Bergbau- und Hüttenrevieren des Ural) oder daraus, daß die Bauern- und Gutsherrenländereien immer noch nicht voneinander abgegrenzt sind (z. B. die Überreste der Servituten[4] in den Westgebieten), oder schließlich daraus, daß die Wegnahme von Bauernland (der Bodenabschnitte) durch den Gutsbesitzer die Bauern faktisch in die ausweglose Lage der früheren Fronbauern versetzt.
  5. Berechtigung der Bauern, im Gerichtswege die Herabsetzung einer übermäßig hohen Pachtzahlung zu verlangen sowie die Gutsherren und überhaupt alle Personen, die die Not der Bauern ausnutzen, um sie in Schuldknechtschaft zu verstricken, wegen Wuchers zu belangen.

Auf die Motivierung dieses Vorschlags müssen wir besonders ausführlich eingehen — nicht weil dieser Teil des Programms der wichtigste wäre, sondern weil er am meisten umstritten ist und weil er mit den allgemein festgestellten, von allen Sozialdemokraten anerkannten Wahrheiten im entferntesten Zusammenhang steht. Der einleitende Satz über die (bedingte) «Unterstützung» der Bauernschaft scheint uns deshalb notwendig, weil das Proletariat, allgemein gesprochen, nicht die Verteidigung der Interessen einer Klasse von kleinen Unternehmern übernehmen kann und darf; es kann sie lediglich insoweit unterstützen, als sie revolutionär ist. Da nun gerade die Selbstherrschaft gegenwärtig die ganze Rückständigkeit Rußlands, alle Überreste der Leibeigenschaft, der Rechtlosigkeit und der «patriarchalischen» Knechtung in sich verkörpert, so muß dargelegt werden, daß die Arbeiterpartei die Bauernschaft nur insoweit unterstützt, als sie zum revolutionären Kampf gegen die Selbstherrschaft fähig ist. Eine solche These wird offenbar durch die folgende These im Entwurf der Gruppe «Befreiung der Arbeit» ausgeschlossen: «Die Hauptstütze des Absolutismus besteht gerade in der politischen Gleichgültigkeit und geistigen Rückständigkeit der Bauernschaft.» Dies aber ist ein Widerspruch nicht der Theorie, sondern des Lebens selbst, denn die Bauernschaft zeichnet sich (wie die Klasse der Kleinbesitzer überhaupt) durch zwiespältige Züge aus. Ohne die bekannten ökonomischen Argumente zu wiederholen, die die innerlich widerspruchsvolle Lage der Bauernschaft beweisen, wollen wir daran erinnern, daß Marx die französische Bauernschaft zu Beginn der fünfziger Jahre wie folgt charakterisiert hat:

… «Die Dynastie Bonaparte repräsentiert nicht den revolutionären, sondern den konservativen Bauer, nicht den Bauer, der über seine soziale Existenzbedingung, die Parzelle, hinausdrängt, sondern der sie vielmehr befestigen will, nicht das Landvolk, das durch eigne Energie im Anschluß an die Städte die alte Ordnung umstürzen, sondern umgekehrt dumpf verschlossen in dieser alten Ordnung sich mitsamt seiner Parzelle von dem Gespenste des Kaisertums gerettet und bevorzugt sehen will. Sie repräsentiert nicht die Aufklärung, sondern den Aberglauben des Bauern, nicht sein Urteil, sondern sein Vorurteil, nicht seine Zukunft, sondern seine Vergangenheit, nicht seine modernen Cevennen, sondern seine moderne Vendee.» (Der 18. Brumaire, S. 99.)[5] Eben die Unterstützung jener Bauernschaft, die danach strebt, die «alte Ordnung» umzustürzen, d. h. in Rußland zuerst und vor allem die-Selbstherrschaft, ist für die Arbeiterpartei notwendig. Die russischen Sozialdemokraten haben stets die Notwendigkeit anerkannt, aus der Doktrin und Richtung der Volkstümlerei die revolutionäre Seite zu entnehmen und sie sich zu eigen zu machen.

Im Programm der Gruppe «Befreiung der Arbeit» findet dies nicht nur in der oben zitierten Forderung nach «radikaler Revision» usw. Ausdruck, sondern auch in den folgenden Worten: «Es versteht sich übrigens von selbst, daß auch heute Menschen, die unmittelbare Fühlung mit der Bauernschaft haben, durch ihre Tätigkeit unter den Bauern der sozialistischen Bewegung in Rußland einen wichtigen Dienst leisten könnten. Die Sozialdemokraten werden diese Menschen nicht von sich wegstoßen, im Gegenteil, sie werden alle Kraft aufbieten, um sich mit ihnen in den grundlegenden Prinzipien und Methoden ihrer Tätigkeit zu verständigen.» Vor 15 Jahren, als die Traditionen der revolutionären Volkstümlerrichtung noch lebendig waren, genügte eine solche Erklärung, heute aber müssen wir selbst mit der Erörterung der «grundlegenden Prinzipien» für die Tätigkeit in der Bauernschaft beginnen, wenn wir wollen, daß die Sozialdemokratische Arbeiterpartei zum Vorkämpfer der Demokratie wird.

Führen jedoch die von uns vorgeschlagenen Forderungen auch wirklich zur Unterstützung der Person der Bauern und nicht ihres Eigentums? nicht zur Konsolidierung der kleinen Wirtschaften? entsprechen sie dem ganzen Gang der kapitalistischen Entwicklung? Betrachten wir diese Fragen, die für einen Marxisten die wichtigsten sind.

Hinsichtlich der 1. und der 3. Forderung kann es unter Sozialdemokraten schwerlich eine Meinungsverschiedenheit dem Wesen der Sache nachgeben. Die zweite Forderung wird wahrscheinlich auch Meinungsverschiedenheiten hervorrufen, die das Wesen der Sache betreffen. Für sie sprechen unserer Meinung nach die folgenden Erwägungen: 1. Es ist Tatsache, daß die Loskauf Zahlungen eine direkte Beraubung der Bauern durch die Gutsherren waren, daß sie nicht nur für den bäuerlichen Boden gezahlt wurden, sondern auch für die Leibeigenschaft, daß die Regierung den Bauern mehr nahm, als sie den Grundherren bezahlte, 2. wir haben keinen Grund, diese Tatsache als ein völlig abgeschlossenes und bereits ins Archiv der Geschichte eingegangenes Ereignis zu betrachten, denn die hochwohlgeborenen Ausbeuter selbst, die jetzt von «Opfern» schreien, die sie damals gebracht hätten, betrachten die bäuerliche Reform nicht in dieser Weise; 3. gerade jetzt, wo die Hungersnot für Millionen Bauern zu einer chronischen Erscheinung wird, wo die Regierung, die Millionen für Geschenke an Gutsherren und Kapitalisten, für ihre abenteuerliche Außenpolitik verschwendet, bei den Hilfeleistungen für die Hungernden um jeden Pfennig feilscht, gerade jetzt ist es angebracht und notwendig, daran zu erinnern, wieviel die Mißwirtschaft der autokratischen Regierung, die den Interessen der privilegierten Klassen dient, das Volk gekostet hat; 4. die Sozialdemokraten können der Hungersnot und dem Hungersterben der Bauernschaft nicht gleichgültig zuschauen, über die Notwendigkeit umfassendster Hilfe für die Hungernden gab es unter den russischen Sozialdemokraten niemals zwei Meinungen. Und schwerlich wird jemand behaupten, daß eine ernstliche Hilfe ohne revolutionäre Maßnahmen möglich ist; 5. die Expropriation der Apanageländereien und die verstärkte Mobilisierung der Adelsländereien — d. h. das, was die Folge einer Verwirklichung der vorgeschlagenen Forderung wäre — würden der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung Rußlands nur Nutzen bringen. Gegen die vorgeschlagene Forderung würde man wahrscheinlich hauptsächlich ihre «Undurchführbarkeit» ins Feld führen. Wenn ein solcher Einwand nur durch Phrasen gegen «Revolutionarismus» und «Utopismus» gestützt wird, so sagen wir im voraus, daß derartige opportunistische Phrasen uns nicht im geringsten schrecken und daß wir ihnen keinerlei Bedeutung beimessen. Wird der erwähnte Einwand dagegen durch eine Analyse der ökonomischen und der politischen Bedingungen unserer Bewegung gestützt, so geben wir die Notwendigkeit einer eingehenderen Erörterung dieser Frage und den Nutzen einer Polemik in dieser Frage vollauf zu. Bemerken wollen wir nur, daß diese Forderung nicht selbständig dasteht, sondern einen Teil der Forderung bildet, die Bauernschaft zu unterstützen, soweit sie revolutionär ist. Die Frage, wie und mit welcher Kraft diese Elemente der Bauernschaft in Erscheinung treten werden, wird die Geschichte entscheiden. Wenn unter «Durchführbarkeit» der Forderungen nicht ihre allgemeine Übereinstimmung mit den Interessen der gesellschaftlichen Entwicklung verstanden würde, sondern ihre Übereinstimmung mit der jeweiligen Konjunktur der ökonomischen und politischen Verhältnisse, so wäre ein solches Kriterium absolut unrichtig, wie Kautsky in seiner Polemik gegen Rosa Luxemburg überzeugend gezeigt hat, die die Forderung der Unabhängigkeit Polens als (für die polnische Arbeiterpartei) «undurchführbar» bezeichnet hatte. Kautsky führte damals (wenn uns das Gedächtnis nicht trügt) als Beispiel die Forderung des Erfurter Programms an, die von der Wahl der Beamten durch das Volk spricht. Die «Durchführbarkeit» dieser Forderung ist im heutigen Deutschland mehr als zweifelhaft, aber kein Sozialdemokrat hat je den Vorschlag gemacht, die Forderungen der Sozialdemokratie auf den engen Rahmen des im gegebenen Augenblick und unter den gegebenen Verhältnissen Möglichen zu beschränken.

Was weiter Punkt 4 anbelangt, so wird wahrscheinlich niemand im Prinzip etwas dagegen einzuwenden haben, daß die Sozialdemokraten die Vernichtung aller Überreste fronherrschaftlicher Abhängigkeit fordern müssen. Zu klären wird wahrscheinlich nur die Formulierung dieser Forderung und dann ihr Umfang sein, d. h. die Frage, ob z. B. die Forderung nach Maßnahmen in sie einbezogen werden soll, die die durch die Wegnahme von Bauernland (der Boden«abschnitte») im Jahre 1861 geschaffene faktische Fronabhängigkeit der Bauern beseitigen. Unserer Meinung nach muß diese Frage bejaht werden. Die gewaltige Bedeutung des faktischen Weiterbestehens der Fron-(Abarbeits-)Wirtschaft ist in der Literatur in vollem Umfang festgestellt worden, ebenso aber auch die gewaltige Hemmung der gesellschaftlichen Entwicklung (und der Entwicklung des Kapitalismus), die aus diesem Weiterbestehen resultiert. Natürlich führt die Entwicklung des Kapitalismus «von selbst, auf natürlichem Wege» zur Beseitigung dieser Überbleibsel und wird sie zu guter Letzt ganz beseitigen; aber erstens besitzen diese Überbleibsel außerordentliche Festigkeit, so daß mit ihrer raschen Beseitigung nicht gerechnet werden darf, und zweitens bedeutet — und das ist die Hauptsache — der «natürliche Weg» nichts anderes als das Aussterben der Bauern, die faktisch (infolge der Abarbeit usw.) an den Boden gefesselt sind und von den Gutsbesitzern geknechtet werden. Selbstverständlich können die Sozialdemokraten unter solchen Umständen diese Frage in ihrem Programm nicht mit Schweigen übergehen. Man wird uns fragen: Wie könnte diese Forderung verwirklicht werden? Wir glauben, daß es nicht notwendig ist, hiervon im Programm zu sprechen. Natürlich wird die Verwirklichung dieser Forderung (die, wie die Verwirklichung fast aller Forderungen dieses Abschnitts, von der Stärke der revolutionären Elemente der Bauernschaft abhängt) eine allseitige Untersuchung der örtlichen Bedingungen durch gewählte örtliche Vertrauensleute, durch Bauernkomitees erfordern — als Gegengewicht gegen die Adelskomitees, die ihren «gesetzlichen» Raub in den sechziger Jahren verübten; die demokratischen Forderungen des Programms definieren hinreichend die demokratischen Institutionen, die für diesen Zweck nötig wären. Dies wäre eben die «radikale Revision der Agrarverhältnisse», von der das Programm der Gruppe «Befreiung der Arbeit» spricht. Wie bereits oben bemerkt, sind wir mit diesem Punkt des Entwurfs der Gruppe «Befreiung der Arbeit» im Prinzip einverstanden und möchten nur 1. die Bedingungen feststellen, unter denen das Proletariat für die Klasseninteressen der Bauernschaft kämpfen kann; 2. den Charakter der Revision bestimmen: die Vernichtung der Überreste fronherrschaftlicher Abhängigkeit, 3. den Forderungen konkreteren Ausdruck verleihen. — Wir sehen noch einen Einwand voraus: Die Revision der Frage der Boden«abschnitte» und dgl. muß dazu führen, daß diese Ländereien den Bauern zurückgegeben werden. Das ist klar. Wird dies jedoch nicht das Kleineigentum, die Kleinparzelle festigen? können denn die Sozialdemokraten wünschen, daß die kapitalistischen Großwirtschaften, die vielleicht auf den den Bauern geraubten Bodenflächen betrieben werden, durch kleine Wirtschaften ersetzt werden? Das wäre doch eine reaktionäre Maßnahme! — Wir antworten: Zweifellos ist eine Ersetzung der großen Wirtschaft durch die kleine reaktionär, und wir dürfen nicht dafür eintreten. Aber die zu untersuchende Forderung ist doch bedingt durch das Ziel, «die Überreste fronherrschaftlicher Abhängigkeit zu vernichten» — folglich kann sie nicht zur Zersplitterung der großen Wirtschaften führen; sie bezieht sich lediglich auf die alten Wirtschaften, die ihrem Wesen nach zum Typus der reinen Fronwirtschaften gehören — und ihnen gegenüber ist die von allen mittelalterlichen Einengungen freie bäuerliche Wirtschaft (siehe Punkt 3) nicht reaktionär, sondern progressiv. Natürlich ist es nicht leicht, hier eine Grenzlinie zu ziehen — aber wir glauben ja durchaus nicht, daß irgendeine Forderung unseres Programms «leicht» zu verwirklichen sein wird. Unsere Sache ist es, die Grundprinzipien und Grundaufgaben festzulegen, für die Einzelheiten aber werden die zu sorgen wissen, denen es beschieden sein wird, diese Aufgaben praktisch zu lösen.

Der letzte Punkt strebt seinem Zweck nach das gleiche an wie der vorhergehende: den Kampf gegen alle (im russischen Dorf so reichlich vorhandenen) Überreste vorkapitalistischer Produktionsweise. Bekanntlich ist die bäuerliche Pacht in Rußland sehr häufig nur eine Tarnung für das Weiterbestehen der Fronverhältnisse. Die Idee dieses letzten Punktes nun haben wir Kautsky entlehnt, der mit dem Hinweis darauf, daß schon das liberale Ministerium Gladstone 1881 für Irland ein Gesetz erließ, das den Gerichten das Recht zur Herabsetzung übermäßig hoher Pachtpreise verlieh, unter die wünschenswerten Forderungen auch die folgende aufnahm: «Reduzierung übermäßiger Pachtzinsen durch dazu eingesetzte Gerichtshöfe». In Rußland wäre dies besonders nützlich (natürlich bei demokratischer Organisation dieser Gerichte) in bezug auf die Verdrängung der Fronverhältnisse. Dazu, so meinen wir, könnte auch die Forderung hinzugefügt werden, die Wuchergesetze auf knechtende Abmachungen auszudehnen: im russischen Dorf ist die Schuldknechtschaft so maßlos entwickelt, sie ist für den Bauern als Arbeiter eine solch schwere Last, sie hemmt den sozialen Fortschritt so ungeheuerlich, daß der Kampf gegen sie besonders notwendig ist. Den knechtenden, wucherischen Charakter einer Abmachung aber könnte das Gericht natürlich ebenso leicht feststellen wie die übermäßige Höhe einer Pachtzahlung.

Im großen und ganzen laufen die von uns vorgeschlagenen Forderungen unserer Meinung nach auf zwei Hauptziele hinaus: 1. alle vorkapitalistischen, fronherrschaftlichen Institutionen und Verhältnisse auf dem Lande zu vernichten (eine Ergänzung finden diese Forderungen im ersten Abschnitt des praktischen Programmteils); 2. dem Klassenkampf auf dem Lande offeneren und bewußteren Charakter zu verleihen. Wir glauben, gerade diese Prinzipien müssen für das sozialdemokratische «Agrarprogramm» in Rußland richtungweisend sein; — es ist notwendig, sich entschieden von den in Rußland so zahlreichen Bestrebungen abzugrenzen, den Klassenkampf im Dorf beizulegen. Die herrschende liberal-volkstümlerische Richtung zeichnet sich gerade durch diesen Charakter aus, aber wenn wir sie entschlossen ablehnen (wie das auch im «Anhang zum Bericht der russischen Sozialdemokraten auf dem internationalen Kongreß in London» geschehen ist), so darf nicht vergessen werden, daß wir dabei den revolutionären Inhalt der Volkstümlerbewegung ausnehmen müssen. «Soweit die Volkstümlerrichtung revolutionär war, d. h. sich gegen den ständisch-bürokratischen Staat und gegen die von ihm unterstützten barbarischen Formen der Ausbeutung und Unterdrückung der Volksmassen wandte, soweit mußte sie mit den entsprechenden Abänderungen als ein Bestandselement in das Programm der russischen Sozialdemokratie eingehen.» (Axelrod, «Zur Frage der gegenwärtigen Aufgaben und der Taktik», S. 7.) Im russischen Dorf verflechten sich gegenwärtig zwei Hauptformen des Klassenkampfes: 1. der Kampf der Bauernschaft gegen die privilegierten Grundbesitzer und gegen die Überreste der Leibeigenschaft; 2. der Kampf des im Entstehen begriffenen Dorfproletariats gegen die Dorfbourgeoisie. Für Sozialdemokraten ist natürlich der zweite Kampf von größerer Bedeutung, aber sie müssen unbedingt auch den ersten Kampf unterstützen, sofern das den Interessen der gesellschaftlichen Entwicklung nicht widerspricht. Nicht zufällig nahm und nimmt die Bauernfrage in der russischen Gesellschaft und in der russischen revolutionären Bewegung soviel Platz ein, diese Tatsache ist nur eine Widerspiegelung dessen, daß auch der erstgenannte Kampf immer noch große Bedeutung behält.

Zum Schluß muß einem möglichen Mißverständnis vorgebeugt werden. Wir sprachen von dem «revolutionären Appell» der Sozialdemokratie an die Bauern. Bedeutet dies nicht, sich verzetteln, der notwendigen Konzentration der Kräfte auf die Arbeit unter dem Industrieproletariat Schaden tun? Durchaus nicht; die Notwendigkeit einer solchen Konzentration geben alle russischen Sozialdemokraten zu, auf sie wird sowohl im Entwurf der Gruppe «Befreiung der Arbeit» vom Jahre 1885 als auch in der Broschüre «Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten» im Jahre 1898 hingewiesen. Folglich besteht durchaus kein Grund zu befürchten, daß die Sozialdemokraten ihre Kräfte verzetteln werden. Ein Programm ist ja keine Instruktion: das Programm muß die ganze Bewegung umfassen, in der Praxis aber muß natürlich bald die eine, bald die andere Seite der Bewegung in den Vordergrund gerückt werden. Niemand wird die Notwendigkeit bestreiten, im Programm nicht nur von den Industriearbeitern, sondern auch von den Landarbeitern zu sprechen, obwohl gleichzeitig kein einziger russischer Sozialdemokrat je daran gedacht hat, beim gegenwärtigen Stand der Dinge die Genossen aufzufordern, aufs Land zu gehen. Aber die Arbeiterbewegung wird unvermeidlich von selbst, sogar unabhängig von unserem Bemühen, zur Verbreitung der demokratischen Ideen auf dem Lande führen. «Die Agitation auf der Grundlage der ökonomischen Interessen wird unvermeidlich die sozialdemokratischen Zirkel unmittelbar auf Tatsachen stoßen lassen, die ihnen die überaus enge Interessensolidarität zwischen unserem Industrieproletariat und den Bauernmassen anschaulich zeigen» (Axelrod, ib., S. 13), und das ist der Grund, weshalb ein «Agrarprogramm» (im aufgezeigten Sinn, strenggenommen ist es natürlich gar kein «Agrarprogramm») für die russischen Sozialdemokraten dringend notwendig ist. In unserer Propaganda und Agitation stoßen wir ständig auf bäuerliche Arbeiter, d. h. auf Fabrik- und Werkarbeiter, die Verbindungen mit dem Dorf aufrechterhalten, dort ihre Verwandten, ihre Familie haben, dorthin fahren. Für die Fragen der Loskaufzahlungen, der solidarischen Haftung, der Pachtzahlung hat sogar fast jeder hauptstädtische Arbeiter ein lebhaftes Interesse (wir sprechen gar nicht erst z. B. von den Arbeitern im Ural, wo die sozialdemokratische Propaganda und Agitation gleichfalls einzudringen begonnen hat). Wir würden unsere Pflicht versäumen, wenn wir uns nicht bemühten, den Sozialdemokraten und klassenbewußten Arbeitern, die oft ins Dorf kommen, genaue Anleitung zu geben. Ferner darf auch die Dorfintelligenz nicht vergessen werden, z. B. die Volksschullehrer, die sowohl materiell als auch geistig eine sie so erniedrigende Stellung einnehmen, die die Rechtlosigkeit und Knechtung des Volkes aus solcher Nähe beobachten und so am eigenen Leibe verspüren, daß sich ohne Zweifel (bei weiterem Anwachsen der Bewegung) unter ihnen die Sympathie mit dem Sozialdemokratismus immer mehr ausbreiten wird.

Also dies müssen unserer Meinung nach die Bestandteile eines Programms der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands sein: 1. Darlegung des Grundcharakters der ökonomischen Entwicklung in Rußland; 2. Darlegung des unvermeidlichen Ergebnisses des Kapitalismus: Zunahme des Elends und Zunahme der Empörung der Arbeiter; 3. Darlegung des Klassenkampfes des Proletariats als der Grundlage unserer Bewegung; 4. Darlegung der Endziele der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung— ihres Strebens, zur Verwirklichung dieser Ziele die politische Macht zu erobern —, des internationalen Charakters der Bewegung; 5. Darlegung der Notwendigkeit des politischen Charakters des Klassenkampfes; 6. die Erklärung, daß der russische Absolutismus, der die Rechtlosigkeit und Knechtung des Volkes bedingt und die Ausbeuter begünstigt, das Haupthindernis der Arbeiterbewegung ist und daß deshalb die Erkämpfung der politischen Freiheit, die auch im Interesse der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung notwendig ist, die nächste politische Aufgabe der Partei bildet; 7. die Erklärung, daß die Partei alle Parteien und Bevölkerungsschichten unterstützen wird, die gegen den Absolutismus kämpfen, daß sie gegen die demagogischen Machenschaften unserer Regierung kämpfen wird; 8. Aufzählung der grundlegenden demokratischen Forderungen — dann 9. der Forderungen zugunsten der Arbeiterklasse und 10. der Forderungen zugunsten der Bauern, wobei der allgemeine Charakter dieser Forderungen zu erklären ist.

In voller Erkenntnis der Schwierigkeit der Aufgabe, das Programm ohne eine Reihe von Beratungen mit den Genossen völlig befriedigend zu formulieren, halten wir es doch für notwendig, dieses Werk in Angriff zu nehmen, denn wir glauben, daß es (aus den obenerwähnten Gründen) nicht aufgeschoben werden darf, und hoffen, daß sowohl alle Theoretiker der Partei (an ihrer Spitze die Mitglieder der Gruppe «Befreiung der Arbeit») als auch alle praktisch arbeitenden Sozialisten in Rußland (und nicht allein die Sozialdemokraten: es wäre uns sehr erwünscht, die Meinung der Sozialisten anderer Fraktionen zu hören, und wir würden es nicht ablehnen, ihre Meinungen zu veröffentlichen) und ebenso alle klassenbewußten Arbeiter überhaupt uns zu Hilfe kommen werden.

[1] Siehe Karl Marx, «Kritik des Gothaer Programms», in Karl Marx und Friedrich Engels, Werke Band 19, Seite 13 (Brief an Wilhelm Bracke); online: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1875/05/briefbracke.htm

[2] Siehe Karl Marx, «Das Kapital», Bd I, MEW 23, S. 803

[3] Lenin meint die «Provisorischen Bestimmungen über die Ableistung der Militärpflicht durch die Studierenden der Hochschulen, die aus selbigen Institutionen wegen gemeinsamer Unruhestiftung relegiert werden». Auf Grund dieser am 29. Juli (10. August) 1899 erlassenen Bestimmungen wurden Studenten, die an Kundgebungen gegen das in den Hochschulen eingeführte Polizeiregime teilgenommen hatten, von den Universitäten relegiert und für einen Zeitraum von einem bis zu drei Jahren als gemeine Soldaten in die zaristische Armee eingezogen. Die Studenten aller Hochschulen Rußlands forderten die Aufhebung der provisorischen Bestimmungen.

[4] Servitut — eine Form des Nutzungsrechts an fremdem Eigentum. Im vorliegenden Fall meint Lenin die Überreste der Leibeigenschaftsverhältnisse in den Westgebieten Rußlands. Für das Recht auf Benutzung der gemeinsamen Wege, Wiesen, Weiden, Viehtränken usw. mußten die Bauern nach der Reform von 1861 zusätzliche Dienste zugunsten der Gutsherren leisten.

[5] Siehe MEW 8, Seite 199. Online: http://www.derfunke.at/html/pdf/faschismus/marx_brumaire.pdf Seite 61.

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