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Zur polit-ökonomischen Analyse der Schweiz. Eine Skizze

Eingereicht on 6. Januar 2024 – 11:57

Willi Eberle & Hans Schäppi (2007). Einleitend seien zwei Leitideen festgehalten, die unserer Skizze zu Grunde liegen. Erstens gehen wir davon aus, dass es in der Entwicklung der Schweiz seit der Industrialisierung zwei wichtige Knotenpunkte gibt. Der eine ist die sogenannte „Grosse Depression“ des 19.Jhds., eine strukturelle Überakkumulationskrise, welche schliesslich zu einem neuen Akkumulationsregime, dem sogenannten Fordismus geführt hat. Den zweiten Knotenpunkt bildet die strukturelle Überakkumulationskrise Ende des 20.Jhds., welche bis heute andauert und ebenfalls wichtige wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Strukturveränderungen eingeleitet hat. Zwischen den beiden strukturellen Krisenphasen gibt es auffallende Parallelen, wie z.B. die Rationalisierungsinvestitionen, die Bedeutung der neuen Technologien und der Kapitalkonzentration, um die Fixkosten zu senken, die Verschärfung der Ausbeutung durch eine Lohnrestriktion und eine Arbeitsintensivierung, aber auch den Übergang aggressiverer und offenerer Formen imperialistischer Politik. Es gibt natürlich auch Unterschiede, wobei der wichtigste sicher derjenige ist, dass sich nach 1900 der Kapitalismus zunehmend im nationalen Rahmen organisierte. Heute hingegen sind wir mit einer Krise der nationalstaatlich organisierten Formen des Kapitalismus konfrontiert und einem Zerfall des klassischen bürgerlichen Staates, insbesondere des Wohlfahrtsstaates und der Demokratie, worüber eine reaktionäre, ideologische Renationalisierung nicht hinwegtäuschen kann, die vorab der Aufrechterhaltung der Hegemonie des reaktionären bürgerlichen Machtkartells dient.

Die zweite Leitlinie unserer Skizze bildet das Interesse an der Rolle der Schweiz im imperialistischen System. Der Kapitalismus muss von seiner Entstehung her als ein Weltsystem begriffen werden, in dem es Zentren der Akkumulation und eine ausgebeutete Peripherie gibt, mit Kontinenten wie Afrika, welche die Sklaven und Zentral- und Lateinamerika, welches Gold, andere Edelmetalle und Rohstoffe, insbesondere die Baumwolle für die Textilindustrie, lieferten. Eine bloss nationale oder europazentrierte Sicht ohne eine Imperialismustheorie erfasst grundlegende Strukturen nicht. Sie suggeriert in erster Linie, dass Kapitalismus etwas mit Demokratie und friedlicher zivilisatorischer Entwicklung zu tun habe und nicht etwa mit Sklaverei, Genoziden, und diktatorischen Regimes parasitärer Oligarchien. Diese Sichtweisen bilden selbst ein Stück imperialistischer Ideologie der Suprematie des angeblich zivilisierten, christlichen Westens über die unzivilisierten Wilden, deren Probleme natürlich nichts mit den kolonialen und imperialistischen Ausbeutungsstrukturen zu tun haben sollen. Deshalb kann auch die Entwicklung des Schweizer Kapitalismus nicht verstanden werden ohne seine Rolle im imperialistischen System und bei der Ausbeutung der Peripherie zu behandeln.

Voraussetzungen: Primäre Akkumulation und Industrialisierung

Wichtig für das Verständnis der kapitalistischen Entwicklung der Schweiz ist sicher die zentrale Lage in Europa: Die Schweiz bildet den Schnittpunk wichtiger Verkehrswege von Süden nach Norden, sowie von Westen nach Osten. Eine der wichtigen Voraussetzungen einer kapitalistischen Entwicklung ist die Bildung grosser Vermögen. Diese bildeten sich in der Schweiz im Handel und dies nicht nur im europäischen Handel, sondern auch im Fernhandel und seit dem 17.Jhd. auch im Handel mit den Kolonien. Hans Fässler hat dargestellt, wie Schweizer z.B. im Sklavenhandel über Handels- , Bank-, und Versicherungsgeschäfte und Investitionen Vermögen aufgebaut haben (Fässler 2005). Beim Sklavenhandel handelte es sich um einen Dreieckshandel: Sklaven wurden von Afrika nach Amerika, z.B. nach Brasilien transportiert, dort verkauft, von wo dann Rohstoffe und Edelmetalle zurück nach Europa gebracht wurden. Im Verlaufe des 18.Jhds. importierte die Schweiz wohl über längere Zeit in absoluten Zahlen mehr Rohbaumwolle für das Textilgewerbe als England. Die grössten Vermögen entstanden in den Orten der alten Eidgenossenschaft aber nicht im Handel, sondern im Söldnerwesen. Am lukrativsten war es für das eidgenössische Patriziat, Söldner an die europäischen Staaten zu liefern für Kriegschauplätze nicht nur in Europa, sondern auch zum Niederschlagen von Revolten in den Kolonien und dafür die Provisionen zu kassieren. Dies erklärt auch, weshalb erst heute die Glaspaläste der Multinationalen Konzerne unsere Städte zieren, die grossen Patrizierpaläste des 17. und 18.Jhds. sich hingegen vor allem in den ländlichen Kantonen befinden, deren Patriziat fleissig Söldner nach allen Seiten verkauft hat. Damit mussten, anders als in England in der Phase der sogenannten primären Akkumulation die überschüssige ländliche Bevölkerung nicht in Armen- und Zuchthäuser gesteckt werden. Auch die Neutralität hat sich in dieser Zeit herausgebildet: Einerseits musste die Eidgenossenschaft als loses und religiös konfessionell zerstrittenes Bündnis auf eine territoriale Expansion verzichten, aber andererseits, und dies ist für das Verständnis der Neutralität wichtiger, waren alle umliegenden Mächte gleichmässig an Söldnerlieferungen interessiert. Ein letztes Element der primären Akkumulation in der Schweiz von grosser Bedeutung ist die Tatsache, dass akkumulierte Vermögen nicht durch einen absolutistischen Staat abgeschöpft oder gar konfisziert wurden. Im Gegenteil flüchteten seit dem 16.Jhd. viele vermögende Familien aus Italien und aus Frankreich in die Schweiz und spielten in deren frühkapitalistischen Entwicklung eine zentrale Rolle. Sie hatten dabei sicher ehrenhaftere Gründe als die heutigen Steuerflüchtlinge.

Der Industrialisierungsprozess setzte in der Schweiz sehr früh ein und zwar auf Grund der Zunfthemmnissen der Städte auf dem Lande. Wegen der Binnenlage und der Rohstoffarmut – abgesehen vom Wasser und damit der Elektrizität – konzentriert man sich auf eine hohe Wertschöpfung, eine fortwährende Spezialisierung. Kennzeichnend für das Schweizer Kapital ist zudem seine grosse Flexibilität auf Grund der vergleichsweise geringen Fixkapitalinvestitionen. Die Kleinstaatlichkeit erklärt die zentrale Bedeutung des Aussenhandels, der Baumwoll-, Seiden- und Uhrenindustrie, sowie in deren Folge des Maschinenbaus und der Metallindustrie (Textilmaschinen Eisenbahnen). 1850 hatte die Schweiz nach Grossbritannien die grösste Exportquote.

Abgesehen von Frankreich war die Schweiz das einzige Land, in dem eine grundbesitzende Aristokratie im Bündnis mit der Kirche politisch keine führende Rolle spielte. Der bäuerliche Besitz war relativ kleinräumig. Die liberale Bewegung entstand während der Aufklärung in einem Teil patrizischer Schichten und des Bildungsbürgertums, die mit der französischen Revolution sympathisierten. Im Industrialisierungsprozess entstand zudem auf dem Land aus Handwerkerkreisen ein industrielles Bürgertum. Aber auch die Bauern waren ein revolutionäres und radikales Potential, mindestens solange bis sie im Besitz des Landes waren und die Feudalrechte beseitigt waren. Nach einem schweren Rückschlag 1814 spaltete sich die Bewegung in Liberale und Radikale vor allem um die Frage des Zensuswahlrechtes. Das Machtkartell des Ancien Régime wurde zwar zurückgedrängt, war aber in einigen Kantonen wie in der Innerschweiz, Bern, Basel-Stadt, Fribourg, Wallis noch unangefochten.

Der klassische Liberalismus (1830 bis 1873)

Die Gründung des Bundesstaates war das Werk der Radikalen. Sie brachte eine Zentralisierung von Recht, Militär und den Zöllen, sowie den Freihandel und das allgemeine männliches Wahlrecht. Die Mächte des Ancien Régime konnten nach dem heftigen Konflikt des Sonderbundkrieges durch Konzessionen wie die föderalistischen Strukturen mehr oder weniger eingebunden wurden. Mit der Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums begann in der Schweiz die Phase der Hochindustrialisierung, wo neben der Textilindustrie im Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau die Maschinenindustrie und Investitionsbanken entstanden wie die Kreditanstalt.

Die Radikalen differenzierten sich nach der Jahrhundertmitte recht schnell weiter aus. Einerseits die klassischen Manchesterliberalen wie Alfred Escher, die ihre Basis bei den Unternehmern und den wohlhabenden, freiberuflichen Mittelschichten wie Anwälte und Ärzte hatten. Andererseits wuchs eine neue Mittelschicht heran, die nicht wohlhabend, aber gebildet war und die radikalere demokratische Zielsetzungen hatte. Sie formierten sich politisch in der sogenannten Demokratischen Bewegung. Diese setzte sich in einigen Kantonen wie auch auf Bundesebene mit der Verfassungsreform von l873/74 durch.

Die Industriearbeiterschaft war am Ende der Periode etwa gleich gross wie die Beschäftigten im Gewerbe, der traditionelle Mittelstand und die lohnabhängigen Mittelschichten (je ca. 280’000). Alle drei Segmente, wie auch die Bauern waren in der aktiven Politik kaum vertreten. Ihre Anliegen wurden durch die demokratische Bewegung wahrgenommen.

Grosse Depression und Imperialismus (1873 bis 1914)

Die Herausbildung des „klassischen“ Imperialismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts war eng mit der Grossen Depression und deren Lösung verknüpft: Die Produktionsverhältnisse mussten angesichts der strukturellen Überakkumulationskrise den veränderten Produktivkräften angepasst werden wie einhundert Jahre später im Regime der flexiblen Akkumulation. Um das Kapital vor grösseren Verlusten zu schützen, intervenierte der Staat zunehmend in die Wirtschaft zum Beispiel mit Schutzzöllen. Um die hohen Fixkosten amortisieren zu können, organisierte sich das Kapital auch selber mit Hilfe von Kartellen und Trusts. Überflüssiges Kapital, das auf Grund der gesunkenen Profitrate nicht rentabel angelegt werden konnte, floss in den Finanzsektor, was zu einer engeren Verflechtung von Finanz- und Industriekapital führte. Wie in jeder Krise erlangte der Finanzbereich als Garant des Geldwerts der Vermögen und der Rentabilität der Produktion und vor allem als Exekutionsinstanz der Restrukturierung des globalen Gesamtkapitals eine gewisse Hegemonie. Eine wichtige Rolle spielte sodann als Massnahme gegen die Überakkumulation eine Zentralisation und Konzentration des Kapitals. Mit verschiedenen Modellen, das bekannteste sicher der Taylorismus, wurde die Lohnarbeit diszipliniert und dem maschinellen Prozess ein- und untergeordnet (reelle Subsumption der lebendigen Arbeit unter das Kapital). Politisch schlossen die Liberalen, die in den meisten europäischen Ländern nach 1860 eine führende Rolle spielten und zusammen mit der sich herausbildenden Linken gegen die konservativen Kräfte gekämpft hatten, in dieser Zeit zunehmend ein Bündnis mit den Konservativen gegen die stärker werdende Arbeiterbewegung. Der Liberalismus wandelte sich in dieser Zeit von einer fortschrittlichen zu einer zunehmend reaktionären Kraft („Transformismo“, Stone 1983). Der marxistische Theoretiker Hilferding analysierte diese Entwicklung als den Übergang des freien Konkurrenzkapitalismus zum sogenannten „Organisierten Kapitalismus“ – organisiert vorab im Rahmen der Nationalstaaten. Ebenso wichtig in den Analysen zeitgenössischer Marxisten war sodann die Darstellung der Triebkräfte des Übergangs zu offeneren Formen imperialistischer Ausbeutung in dieser Epoche.

Auch in der Schweiz vollzog sich in der Grossen Depression ein starker sozialökonomischer Wandel mit Massnahmen zur Krisenüberwindung wie einer Lohnrestriktion auf dem Hintergrund der Arbeitslosigkeit, einer Steigerung der Kapitalproduktivität mit Rationalisierungen (Taylorismus, neue Technologien wie z.B. Elektrizität) und Neugründungen in der Chemie-, Maschinen-, Elektroindustrie mit einer von Beginn an starken Aussenorientierung. Kennzeichnend war auch ein Prozess der Kapitalkonzentration: In Schweiz mit ihrer Kleinräumigkeit, dem Kapitalreichtum und den fehlenden Kolonien bildeten sich früh Multinationale Konzerne heraus, bevor es denn für diese einen Namen gab. Kennzeichnend für diese Periode war auch die Entwicklung von Grossbanken, die wie in Deutschland und anderen Ländern als Investitionsbanken eng an die Grossindustrie gebunden waren. Gerade in der Schweiz waren sie aber auch weiterhin international gut verankert im Zusammenhang mit der Bedeutung der Handelsgesellschaften und des Handels mit den Kolonien.

Die Landwirtschaft erlebte wie beinahe überall in Europa eine grosse Krise aufgrund der Getreideimporte aus Übersee. Die Agrarkrise beschleunigte den Wandel der Bauern von einem politisch radikalen zu einem eher konservativen Potential mit den ersten schlagkräftigen Interessenorganisationen (Bauernverband, BGB). Die Arbeiter und Angestellten der grossen Industrie wuchsen an Zahl und es kam zu einer Zentralisierung der Organisationen der Arbeiterbewegung (SPS, SGB). Ähnlich wie Frankreich hatte die Schweiz keine eigentliche Grossindustrie und der Sozialismus hatte immer stark kleinbürgerliche Züge. Auch war trotz Organisationsforschritten der Gewerkschaften immer nur ein kleiner Teil der Arbeiterschaft organisiert. Die Liberalen und die Radikalen orientierten sich zusehends am Deutschland Bismarcks, das die virulente soziale Frage paternalistisch-autoritär löste. Es war eine Zeit heftiger Kämpfe mit wenig politischen Vermittlungs- und Konsensstrukturen. Gegen Ende des Jahrhunderts kam es zur organisatorischen Vereinheitlichung der wichtigsten liberalen Strömungen unter der Führung der Radikalen in der FdP. Im Gegensatz zu anderen Ländern führte die Krisenphase der Grossen Depression in der Schweiz nicht zu einem Zersetzungsprozess der Liberalen – sie blieben politisch die führende Kraft. Die Linke und die konservative Rechte erreichte in Wahlen zusammen nie mehr als 40% der Wählerstimmen. Dennoch markieren die 90er- Jahre wie in anderen Ländern einen politischen Umbruch. Während in der Zeit davor die Liberalen zusammen mit den Radikalen und Vorläufern der Linken die politische Landschaft in scharfer Abgrenzung gegen die Konservativen prägten, bildete sich zunehmend ein Bündnis konservativer Liberaler mit den Konservativen gegen die Linke heraus, zuerst im Bundesrat, dann auch im National- und Ständerat. Die Referendumsdemokratie erwies sich nach anfänglichen Turbulenzen mehr und mehr als ein geeignetes Instrument, um die Eliten oppositioneller Bewegungen ins bürgerliche Machtkartell einzubinden. Bei der Sozialdemokratie liess dieser Prozess allerdings bis in die 40er-Jahre auf sich warten – nach einer langen Phase der Ausgrenzung und Stigmatisierung.

Erster Weltkrieg bis 1921: Herausbildung der Drehscheibenfunktion im imperialistischen System

Im ersten Weltkrieg entwickelt sie Schweiz ihre spezifische Rolle im imperialistischen System: Eine zentrale Rolle spielte die Neutralität, nachdem anfänglich von der Armeeführung geplant war, nach ein paar wenigen Wochen auf Seite der Deutschen (Luciri, 1976) in den Krieg einzutreten, der deutsche Sieg aber auf sich warten liess. Als neutraler Staat profitierte die Schweiz von den Kriegen der anderen durch Waffenlieferungen und Finanzgeschäfte, aber auch davon, dass die anderen die Kriege führten, um die Waren- und Wertströme mit der Peripherie zu sichern, und sicher auch auf Grund ihrer traditionell starken Verflechtung über Aussenhandel, Finanzplatz und Handelsgesellschaften. Mehr und mehr übernahm die Schweiz eine Drehscheibenfunktion und diejenige einer Steuer- und Regulationsoase mit politischer Stabilität und einer Aussenpolitik der „Guten Dienste“ (Orsouw, Froidevaux, Guex).

Im Ersten Weltkrieg wurden die Verbindungen zwischen Industrie, Banken und dem Staat weiter ausgebaut und verstärkt. Unter dem Vollmachtenregime des Bundesrates profitierten Industrie und Banken von der Kriegskonjunktur; die Arbeitereinkommen hingegen brachen ein, vor allem auch weil es keine Erwerbsersatzordnung gab. Die Frauen aus Arbeiterschaft und die Bäuerinnen trugen eine grosse Last. Die Widersprüche der Klassengesellschaft im Krieg (Kocka 1973) spitzten sich wie in Russland, in Deutschland und auch anderen Ländern zu und endeten im Generalstreik vom November 1918, die bisher grösste soziale Krise der Schweiz. In der Schweiz wurde dieser Landesstreik mit Militäreinsatz und Repression beendet. In ganz Europa, abgesehen von der Sowjetrepublik, begannen sich vor ab mit der Wirtschaftskrise von 1921 autoritäre Lösungen der sozialen Frage abzuzeichnen durch die Machtergreifung der Faschisten in Italien und dem unbehelligten Agieren faschistischer Formationen in Deutschland und den Ländern des ehemaligen Österreich-Ungarns. Es wurde zusehends sichtbar, dass die Demokratie nun nicht mehr von den Liberalen verteidigt oder gar weiterentwickelt wurde, sondern nur unter dem Druck der arbeitenden Massen durchgesetzt oder verteidigt werden konnte.

20er und 30er Jahre: Autoritäre statt demokratische Lösung der sozialen Frage

In der Schweiz waren die Strömungen, die sich an Deutschland orientieren, auf Grund der Ergebnisse des Ersten Weltkriegs nicht mehr hegemonial. Aber der Generalstreik vom November 1918 hielt, neben der weiterhin unstabilen Lage in Europa und dem Weiterbestehen der Sowjetunion, immer noch ein Interesse an autoritären Lösungen wach wie am Faschismus in Italien und am Nationalsozialismus in Deutschland oder an autoritären Konzeptionen des Liberalismus nach dem Vorbild Frankreichs oder Grossbritanniens. Die Aussenpolitik der Schweiz passte sich in den dreissiger Jahren weitgehend den faschistischen Nachbarn an. Ein Netz von Finanz- und Handelsabkommen sollte die zukünftige Stellung der Schweiz sichern. 1939 liess sich die Schweiz mit dem Vorwand, die „integrale Neutralität“ wiederherzustellen, von der Verpflichtung entbinden, die Boykottmassnahmen des Völkerbunds gegen die faschistischen Aggressoren einzuhalten (Jost 1986). Innenpolitisch wurde das autoritäre Vollmachtenregime des Bundesrates aus dem Ersten Weltkrieg weitergeführt. Sozial- und Lohnbbau, Überfremdungsängste und Abschottung gegen aussen prägten die Schweiz vorab in den Krisen der 30er-Jahre. Die Übernahme faschistischer Ideologien stiess hingegen auf Grenzen – insbesondere die arische Rassenideologie war in der vielsprachigen Schweiz nur schwer anwendbar. So entwickelte man unter dem Titel „Geistige Landesverteidigung“ eine eigenständige nationalistische Blut- und Bodenideologie – auch diese fremdenfeindlich, intolerant, aggressiv und zutieftst reaktionär. In diesen Kontext gehört auch das Friedensabkommen von 1937: Einerseits fürchtete sich die Führung der Gewerkschaften und der SPS vor Lösungen à la Deutschland oder Italien und andererseits auch, wie schon seit den frühen 20er Jahren, vor den radikalen Segmenten der Arbeiterbewegung. Sie wollten an der Verwaltung des Systems beteiligt werden und nicht in dessen Kerkern umkommen oder vom radikaleren Teil der Arbeiterbewegung in Frage gestellt werden. Das Friedensabkommen orientierte sich auf ein Arrangement mit der konservativen und klassisch-liberalen Machtelite: eine paternalistisch-autoritäre Lösung der sozialen Frage, unter Beteiligung der Bürokratie der Massenorganisationen der Arbeiterbewegung. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs wurde dann folgerichtig, aber mit bezeichnender Verspätung der erste Vertreter der Sozialdemokratie in den Bundesrat gewählt.

Der Zweite Weltkrieg und die Zeit des Fordismus

Der Zweite Weltkrieg brachte eine weitere Verstärkung und Ausweitung des Staatsapparates. In der Schweiz waren aber die keynesianischen Grundsätze wegen der Dominanz des Finanzkapitals kaum durchsetzungsfähig, wie überhaupt die Wirtschaftspolitik immer recht liberal blieb. Nach dem Krieg bestand das Problem, die ehemaligen Ansätze für eine Kollaboration mit dem Faschismus zu verdrängen, wie die Rolle des Finanzplatzes und der Handelgesellschaften, die einseitig auf Deutschland ausgerichtete Rüstungsproduktion und die anpasserische und faschistenfreundliche Haltung weiter Kreise der Bourgeosie. Es war notwendig geworden, sich  in den neuen Verhältnissen eine Legitimität zu verschaffen und die Drehscheibenfunktion der Schweiz wieder zum Funktionieren zu bringen. Da es in der Schweiz im Gegensatz zu Italien und Deutschland keinen Bruch mit dem Faschismus gab, waren die 50er-Jahre ebenfalls gekennzeichnet durch einen reaktionären und engen Geist. Es war kein Problem, den Landigeist und die Ideologie der „Geistigen Landesverteidigung“ den Verhältnissen des Kalten Kriegs anzupassen. Für die Aufarbeitung der Rolle der Schweiz gegenüber dem Nationalsozialismus in der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs liess sich die offizielle Schweiz Zeit bis Ende der 90er-Jahre, bezeichnenderweise erst als von Seiten der USA Druck ausgeübt wurde (Vgl. dazu den Schlussbericht der Bergier-Kommission von 2002).

Auf dem Hintergrund der Hochkonjunktur kam es zur Herausbildung eines weitverzweigten institutionellen Netzes der Konsensbildung zwischen der organisierten Arbeiterbewegung, den wichtigsten Segmenten der Industrie und des Gewerbes und des Dienstleistungsbereiches. Durch die Aufnahme der Sozialdemokratie in die politische Verwaltung (Konkordanzdemokratie) und die Schaffung der AHV waren weitere Forderungen aus dem Generalstreik von 1918 zumindest ansatzweise erfüllt. Die reaktionären Kräfte treten ab den 60er– bis zu den 80er-Jahren etwas in den Hintergrund. Ideologisch erlebte die Schweiz in den späten 60er- und den 70er-Jahren unter den Einfluss der 68er-Bewegung eine gewisse Phase des Tauwetters, die aber im Zeichen der neoliberalen und neokonservativen Restauration ein baldiges Ende nahm.

Das ausserordentlich starke Wachstum der Nachkriegsjahre liess die Arbeitslosenzahlen schnell gegen Null sinken, was zu einer starken Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte, etwa im Bau, in der Textilindustrie, in der Landwirtschaft führte. Damit konnte die Lohnentwicklung unterhalb der Produktivitätsentwicklung gehalten werden, was aber nicht daran hinderte, dass es zu einem starken Wachstum der Masseneinkommen kam, wie in anderen Ländern der OECD. Von der ausgeprägten Hochkonjunktur profitierten in der Schweiz dank einer Unterschichtung durch ImmigrantInnen vorab die Schweizer Männer auch durch besondere Aufstiegsmöglichkeiten. Profitiert hat die Schweiz auch kräftig von ihrer Drehscheibenfunktion im imperialistischen System, am deutlichsten und am anstössigsten wohl in Südafrika (Kreis 2005). Auch dieses Kapitel wartet, wie die Rolle der Schweiz im Kolonialsystem und im Sklavenhandel des 17.- bis 19.Jhds. noch der genaueren Aufarbeitung.

Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Klassenstruktur in der Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg durch drei Faktoren geprägt. Erstens durch die spezifische Stellung der Schweiz im imperialistischen System: Dazu gehören die Drehscheibenfunktion, d.h.  dass immer Geschäfte mit allen Seiten gemacht wurden, ferner die international führende Stellung der Finanzindustrie, die heute weltweit mehr als die Hälfte der privaten Vermögen verwaltet, die international ausserordentliche Dichte von Handelsfirmen, von internationalen Konzernen und spezifischen Dienstleistungen. Die starke Stellung des Finanzplatzes erklärt auch, weshalb in der Schweiz der Mittelstand zahlenmässig recht stark ist und immer auch etwas von der imperialistischen Ausbeutung der Peripherie mitprofitieren konnte. Dazu hat die Schweiz sich nicht mit Kolonien belastet, was ihr aufwendige, verlorene Kriege ersparte, aber sie konnte sich über die Handelsfirmen, die Exportindustrie und den Finanzplatz an den kolonialen und imperialen Gewinnen überproportional und reichhaltig beteiligen. Zweitens war die Schweiz mindestens vom Ende der 40er bis zu Beginn der 90er-Jahre ein Sonderfall bezüglich des Arbeitsmarktes, was die ausserordentlich tiefe Arbeitslosigkeit und die starke, arbeitsmarktgesteuerte Immigration angeht. Und drittens war die Schweiz bis zu den 80er-Jahren gekennzeichnet durch einen ausserordentlich tiefen Anteil der Frauen-Erwerbsarbeit, der seither, parallel zur Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen zugenommen hat. Diese drei Faktoren haben einen wesentlichen strukturellen Anteil, dass die Machtclique in der Schweiz nach wie vor fest im Sattel sitzt. Sie hat eine breite Basis für die imperialistische Rolle vor allem bei den Mittelschichten, aber auch bei vielen Schweizer Lohnabhängigen und Rentnern. Gegen ein Viertel der Lohnabhängigen sind ja von den politischen Rechten sowieso ausgeschlossen, da sie AusländerInnen sind.

Ab Anfang der 80er Jahre: Regime der flexiblen Akkumulation

Die strukturelle Überakkumulationskrise seit den 70er-Jahren hat die Landschaft in der Schweiz wie in den anderen Ländern stark verändert. Mit Rationalisierungen und Kostensenkungsmassnahmen wurden die zu hohen Fixkosten gesenkt und die Kapitalproduktivität gesteigert. Dazu kommt, dass seit 1985 vor dem Hintergrund einer Politik der Lohnrestriktion die Entwicklung der Produktivität von den Löhnen abgekoppelt werden konnte.  Eng verbunden mit dem Absinken oder Stagnieren der Reallöhne und der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen ist die Ausbreitung von Niedriglohnsektoren, der Prekarisierung einer grossen Zahl von Beschäftigten und der neuen Armut. Dies war nicht möglich ohne Angriffe auf die Errungenschaften der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie aus der Zeit des „Golden Age“. Die wichtigen Veränderungen sind von uns an anderer Stelle dargestellt worden (Eberle/Schäppi 2006). Eine der wichtigen Veränderungen sei hier noch erwähnt: Das Finanzkapital, das in der Schweiz immer schon eine zentrale Rolle gespielt hat, erlangte in der Krise, als Exekutor der Krise und Verwerter von überschüssigem, nicht rentabel anlegbarem Kapital, eine noch stärkere, beinahe hegemoniale Stellung. Dennoch muss betont werden, dass dies nicht die Ursache der Krise darstellt, wie heute von vielen Linken angenommen wird, sondern eine Folge der strukturellen Überakkumulationskrise ist. Wieder zugenommen hingegen hat mit dieser Entwicklung, insbesondere seit Mitte der 80er-Jahre, die Profitrate – nicht auf Grund grosser Produktivitätsfortschritte, sondern mittels verschärfter Ausbeutung. Trotz steigender Profite wird aber nicht verstärkt in eine Erweiterung des Produktionsapparates investiert, was Arbeitsplätze schaffen würde. Denn einerseits werden durch die restriktive Politik der Neoliberalen die Massenkaufkraft und damit die Absatzmöglichkeiten eingeschränkt. Andererseits haben sich in unserer Gesellschaft die Bedürfnisse stark auf Bereiche wie die Gesundheit und die Bildung verlagert, die kapitalistisch weniger rentabilisiert werden können, sondern bei denen im Gegenteil heute gespart werden soll. Die mit verschärfter Ausbeutung erhöhten Profite fliessen so weniger in produktive Investitionen, als in die Spekulation, in Firmenübernahmen und in Finanzgeschäfte und über eine Erhöhung der Gewinneinkommen in den Luxuskonsum. Von den steigenden Gewinneinkommen, z.B. von Börsengewinnen, profitieren in einem bestimmten Ausmass auch die professionellen Mittelschichten mit, welche zudem von den negativen Aspekten der Entwicklung weniger betroffen sind.

Mit diesen Entwicklungen sind auch in der Schweiz die Voraussetzungen für erspriessliche korporatistische Lösungen wegerodiert: Wachstumsschwäche; strukturelle Schwäche der Arbeiterklasse durch Arbeitslosigkeit und strategische Orientierung der Parteien und der Gewerkschaften auf eine korporatistische Perspektive brachten die Linke in die Defensive. Die klassischen Liberalen andererseits nutzen die Chance für einen Roll-back ab dem Beginn der 80erJahre. Sie greifen wiederum verstärkt auf ein Bündnis mit konservativen und reaktionären Kräften in der Gesellschaft zurück, die ab den 90er Jahren durch die SVP organisiert werden, um das bürgerliche Machtkartell zu stabilisieren. Die SVP vermag dank einer nationalistischen und rassistischen Orientierung gerade auch einen grossen Teil der Lohnabhängigen an sich binden, da die Linke diese Schichten kaum mehr ansprechen kann. Trotz Legitimitätsproblemen, welche sich in einer Schwindsucht der FDP und der CVP zeigen, ist das bürgerliche Machtkartell heute sehr dynamisch und orientiert sich immer klarer auf die Erhaltung und den Ausbau der spezifischen Rolle der Schweiz im imperialistischen System, von dem auch gewisse Mittelschichten, insbesondere im Finanz-, Versicherungs- und Pharmabereich und in einem Teil des Staatsapparates mitprofitieren. Diese Strategie ist vorläufig recht erfolgreich und wird mit immer höherem Tempo weitergetrieben. Auch wird, wie in anderen Ländern, in der föderalistischen Schweiz mit der üblichen Verspätung, der Staat im Interesse der Multinationalen Konzerne, des Finanzkapitals und der Abzockeroligarchie der Tendenz nach von einem fordistischen „Wohlfahrtsstaat“ zu einem totalitären Sicherheitsstaat umgebaut. Unschwer vorauszusagen ist auch, dass sich die gesellschaftlichen Prozesse der Unterwerfung der Lebens- und Arbeitsbedingungen unter das Kapital sowohl global als auch in der Schweiz weiter verschärfen werden. Die Frage ist, wie weit es der Schweizer Bourgeoisie im politischen und ökonomischen Krisenfall gelingt, durch eine Kombination von autoritären politischen Massnahmen und materiellen Zugeständnissen die politische Lage stabil zu halten. Und vor allem, wieweit es der Linken gelingen wird, die Kräfte eines Bruches mit der kapitalistischen Herrschaft zu stärken. Das heisst an der Entwicklung von Ansätzen zu arbeiten, die auf eine Weiterentwicklung der Demokratie und ein gesellschaftliches Projekt der Befreiung arbeiten. Und dies ist nur möglich vor der Perspektive einer allmählichen Ausschaltung der Interessen des Kapitaleigentums aus dem gesellschaftlichen und politischen Prozess mit Ansätzen von gesellschaftlicher Selbstorganisation, in denen die Würde und Autonomie der Menschen garantiert ist, wie sie auch heute immer wieder zum Durchbruch kommen, wie z.B. jetzt in Venezuela oder im Frühjahr 2006 bei Swissmetall in Réconvilier.

Literatur:

Eberle Willi, Schäppi Hans, 2006: Radikale Demokratie statt Korporatismus. In: Denknetz- Jahrbuch 2006. Zürich

Fässler Hans, 2005: Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei. Zürich

Froidevaux Dominique et àl, 2002 : La suisse dans la constellation des paradis fiscaux. Genève

Guex Sébastien, 2002: Place financière suisse et secret bancaire au XXe siècle : ombres et pénombres. In : Froidevaux, Dominique et àl, 2002

Jost Hans Ulrich, 1986. Bedrohung und Enge (1914 – 1945). In: Geschichte der Schweiz und der Schweizer, Bd.3. Basel & Frankfurt a.M.

Kocka Jürgen, 1973: Klassengesellschaft im Krieg. Göttingen

Kreis Georg, 2005: Die Schweiz und Südafrika. Bern/ Stuttgart/ Wien

Luciri Pierre, 1976: Le prix de la neutralité. La diplomatie secrète en 1914-1915 avec des documents d`archives inédits. Genève

Orsouw Michael, von, 1995: Das vermeintliche Paradies. Eine historische Analyse der Anziehungskraft der Zuger Steuergesetze- Zürich

Ruffieux Roland, 1983: Die Schweiz des Freisinns (1848 – 1914). In: Geschichte der Schweiz und der Schweizer, Bd. 3. Basel & Frankfurt a.M.

Stone Norman, 1983: Europe Transformed 1878 – 1919. Oxford (UK)

Unabhängige Expertenkommission der Schweiz – Zweiter Weltkrieg, 2002: Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht. Zürich

#Titelbild: Alfred Escher (1819 bis 1882) steht wie kein Anderer für den Aufstieg des Schweizer Kapitalismus. Seine Vorfahren verdienten ihr Geld im Sklavenhandel, dem Handel und Grundeigentum in den Kolonien und Firmengründungen. Er selbst setzte Ecksteine für die spezifisch Schweizer Variante des Imperialismus mit der der Gründung der Schweizerischen Kreditanstalt und der massgeblichen Rolle beim Aufbau des Schweizerischen Eisenbahnnetzes zur Integration des Finanzkapitals mit dem Industriekapital. Er spielte auch eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des politischen Systems der Schweiz.

Quelle: Denknetz Jahrbuch 2007: Denknetz Jahrbuch 2007…

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