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Die Bewegung der Gelben Westen und der neoliberale Kapitalismus

Eingereicht on 13. Januar 2019 – 16:04

Henri Wilno. Die Bewegung der Gelben Westen steht mit ihren egalitären Bestrebungen, ihrer Kampfbereitschaft dem Block der Gross-Bourgeoisie gegenüber. Um zu gewinnen, Vereinnahmungen und Fehlentwicklungen zu vermeiden, wird es notwendig sein, dass sich die Lohnabhängigen in Bewegung setzen, dass eine soziale Front zur Bekämpfung von Macron aufgebaut wird.

Die Gelben Westen stellen uns eine ganze Reihe von Fragen. Über fragwürdige historische Vorgänger und verwerfliche Aspekte (Äusserungen von Rassismus und Antisemitismus) hinaus, auf die oft verwiesen wird, die aber mehr oder weniger anekdotisch sind, erfordert ein Verständnis der Bewegung, zu deren Wurzeln zurückzukehren: Die Gelben Westen sind das Produkt der Entwicklung der französischen Sozialformation, die ihrerseits durch die jüngsten Transformationen des Kapitalismus herbeigeführt wurde. Wie Marx im Manifest der Kommunistischen Partei schrieb: «Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.» Es ist genau dieser Prozess, der sich entfaltet. Diese «Revolution» der sozialen Formation verändert sowohl die Bourgeoisie als auch das Proletariat, ganz zu schweigen von den Zwischenschichten.

Die vom Kapitalismus betroffenen sozialen Schichten

Das Proletariat hat differenzierte Veränderungen erfahren: Erweiterung und Homogenisierung auf der einen Seite, Fragmentierung und Zerstreuung auf der anderen Seite. Lohn- und Arbeitsbedingungen, das Verhältnis der Lohnabhängigen zu den Unternehmern, einem großen Teil der qualifizierten Techniker und Lohnabhängigen in Industrie und Dienstleistung und sogar einem Teil des Kaders haben sich angenähert. Die in der Vergangenheit für einige dieser Kategorien gewährten Leistungen haben sich tendenziell verringert. Aber gleichzeitig hat sich der Status diversifiziert: Zeitarbeit, befristete Verträge, Outsourcing, externe oder Vor-Ort-Vermittlungen, Verkleinerung der Betriebe zugunsten von «Netzwerken», variable oder intermittierende Arbeitszeiten. Im öffentlichen Dienst haben sich privatrechtliche Verträge und Unsicherheit herausgebildet. Die großen Konzentrationen der Arbeiterklasse sind verlagert worden und haben die Städte verlassen, während die kapitalistische Raumordnung viele Lohnabhängige zwingt, weit weg von den städtischen Zentren zu leben, aber nicht unbedingt in der Nähe ihrer Arbeit: daher die Notwendigkeit langer Arbeitswege.

Die französische Grossbourgeoisie hat sich auch vermittelst der Integration der oberen Schichten der Lohnabhängigen, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor, internationalisiert und gewandelt. Die ideologischen Spaltungen, die sie traditionell durchliefen, sind unter dem Druck von Märkten und «Modernität» verblasst und haben so die Stellung von sozialen Kontrollinstanzen wie etwa der katholischen Kirche geschwächt. Es fand eine ideologische und soziale Homogenisierung der französischen Bourgeoisie um einen wesentlichen Punkt statt: die notwendigen Reformen für das Kapital durchzuführen und dies im Rahmen der kapitalistischen Europäischen Union. Wie der Politikwissenschaftler Jérôme Sainte-Marie in einem Interview mit Le Monde nach der Wahl Macrons hervorhob: «Die Einheit der Bourgeoisie ist sehr auffällig. […] Der Eliteblock beherrscht zweifellos den Staatsapparat und das Management großer Unternehmen. In der mittleren und kleinen Bourgeoisie, die sich hauptsächlich am nationalen Markt orientieren, gibt es nach wie vor eine eher traditionalistische und weniger proeuropäische Einstellung, aber das ist nicht die Ausrichtung der dominanten Sektoren der Unternehmer.

Die so genannten sozialen Zwischenschichten sind sehr empfindlich gegenüber den Entwicklungen des Kapitalismus, insbesondere wenn diese sich beschleunigen. Sie haben sich grundlegend verändert: der Niedergang der Bauernschaft und in geringerem Maße der Handwerker und Kleingewerbetreibenden, der Aufstieg und die kontinuierliche Expansion der «Mittelverdiener». Wenn sich heute neue Kategorien von Selbständigen entwickeln, so fühlen sie sich um eines der traditionellen Attribute dieser Kategorie gebracht: Die «Selbständigen» sind weitgehend abhängig geworden, und dies verweist auf eine objektive Situation. Was die «mittleren Lohngruppen» betrifft, so sind sie zerrissen: Wenn eine Partei ideologisch mit der Großbourgeoisie vereint ist, leiden auch ihre «unteren» Elemente unter der kapitalistischen Logik.

Der «bürgerliche Block» weiß, was er will

Zu diesen Entwicklungen kommt ein weiteres Element: die politische Situation. Der Regierungswechsel zwischen der politischen «Rechten» und «Linken» ermöglichte es, die Verwandtschaft der jeweils betriebenen Politik zu verschleiern. Das Wechseln ohne wirkliche Alternative ist eine Methode zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung. Dies ist bei Macron nicht mehr der Fall, der die Wiedervereinigung der französischen Grossbourgeoisie in Wirtschaft und Staat perfekt verkörpert (abgesehen von den alten Spaltungen zwischen den Parteien oder in sozialen Fragen), um Reformen so schnell und vollständig wie möglich durchzuführen. Der «bürgerliche Block» ist sozial in der Minderheit, aber viel entschlossener als diejenigen, die sich ihm entgegenstellen sollen. Dies hat es Macron ermöglicht, mehrere Erfolge zu erzielen (Verordnungen, Reform der SNCF) und seine Verachtung für die Situation der meisten Menschen durch abweisende Erklärungen, aber auch durch einseitige und sichtbar unsoziale Maßnahmen zu verbreiten: Erhöhung der CSG der Rentner, Schleifen der APL, Abschaffung der ISF. Aber wie der erwähnte Politologe betonte, «schwächt sich eine Herrschaft ab, wenn sie ohne Maske voranschreitet». Darüber hinaus untergräbt die Politik Macrons die Legitimität des Steuersystems: Warum Steuern zahlen (zudem ungleiche Steuern), wenn die Reichen immer weniger zahlen, Krankenhäuser verstopft oder geschlossen sind, Postämter und Eisenbahnen abseits des Einzugsbereiches des TGV geopfert werden…?

Eine Bewegung, die in erster Linie auf proletarischen Prinzipien basiert

In diesem Zusammenhang und nachdem die Arbeiterbewegung eine Reihe von Niederlagen erlitten hat, haben sich die Gelben Westen erhoben, eine Gruppierung heterogener sozialer Schichten, alle durch die neoliberale Brutalität, durch die Verachtung der «Elite» gedemütigt und ausgeraubt. Der Großteil der Bewegung besteht aus arbeitenden (Arbeiter und Angestellte) oder pensionierten Proletariern, zu denen Mitglieder der Kleinbourgeoisie (Handwerker, selbständige Unternehmer, freie Krankenschwestern), Bauern und Kleinunternehmer hinzukommen. Ein Teil der populären Wählerbasis der Rechten (oder sogar des RN) findet sich heute um die Gelben Westen herum und beeinflusst deren Erscheinungsformen (dreifarbige Flaggen, Marseillaise), aber diese Präsenz sollte nicht mit den Aktivitäten der organisierten extremen Rechten vermengt werden.

Die vorgebrachten Forderungen sind nach wie vor heterogen: Ihr Kern ist nicht die Infragestellung der kapitalistischen Ausbeutung, sondern deren Folgen. Die Löhne stehen bei weitem nicht im Vordergrund, aber trotz des Gewichts der Nicht-Lohnabhängigen laufen die Forderungen nicht nur auf eine «Kostensenkung» hinaus. Die egalitären Grundtendenzen sind sehr stark. Es haben sich soziale Bindungen und Debatten zwischen Menschen entwickelt, die oft weit von der Gewerkschaft oder der Politik entfernt sind. Mit den Gelben Westen ist auch die Radikalität wieder auf die Tagesordnung gesetzt worden. Zu zeigen, wo die Mächtigen wohnen, und zwar  nicht in den nach wie vor wenig beliebten Stadtteilen von Paris, ist kein Medientrick.

Eine soziale Front gegen Macron

Lohnabhängige, die oft gewerkschaftlich organisiert oder dies einmal gewesen sind und in der Bewegung aktiv sind, treten nicht als solche auf. Sozial weitgehend proletarisch in ihrer Basis, ist die Bewegung der Gelben Westen durch ihre Forderungen in erster Linie eine Bewegung «der Kleinen gegen die Grossen», aber das MEDEF [der Unternehmerverband] gehört nicht zu den angeprangerten Zielen. Diese Herabstufung der eigenen Interessen der Lohnabhängigen in der Bewegung bezieht sich zweifellos auf eine Situation, in der (stark vereinfacht) trotz der Dringlichkeit der Forderung nach Erhöhung der Kaufkraft und der Verteidigung der Beschäftigung, viele Lohnabhängige immer weniger an die Möglichkeit glauben, Dinge zu erlangen, wozu Kämpfe im Unternehmen unerlässlich wären.

Trotz der nach wie vor bestehenden Sympathie in der öffentlichen Meinung, ihrer Fähigkeit zum Weitermachen, ist es schwierig zu erkennen, wie die Bewegung die Dynamik der Ungleichheit wirklich brechen könnte, wenn sie sich nicht ausweitet und wenn sich die Lohnabhängigen nicht in Bewegung setzen, und zwar nicht nur auf der Straße, sondern auch in den Unternehmen, Dienstleistungen und Vertriebsnetzen. Die kommenden Wochen werden entscheidend sein, und die Folgen der Haltung der Arbeiterbewegung sind immens.

Es muss eine soziale Front gegen Macron aufgebaut werden. Dies sollte der Horizont für all diejenigen sein, die die Macht wirklich besiegen wollen. Die Berufung auf die Volksrevolte, die ihre Faszination für einen bestimmten Führer, ohne auf dieses Ziel ausgerichtet zu sein, führt zu allmählicher Erschöpfung (was in keiner Weise diejenigen entschuldigt, die keine andere Politik haben als den systematischen Verdacht gegen die Gelben Westen). Und das Scheitern wäre nicht nur das der Gelben Westen, sondern aller Lohnabhängigen, Rentnerinnen, Arbeitslosen, Kleinbäuerinnen und Handwerker, die durch das macronische Projekt zermalmt werden sollten.

Quelle: npa2009.org… vom 13. Januar 2019; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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