Die dritte Welle des Feminismus: Hin zu einer neuen Klassenbewegung
Cinzia Arruzza. Am 23. Oktober 2018 begannen Tausende Reinigungsarbeiter_innen in Glasgow eine Gewerkschaftsdemonstration für gleichen Lohn mit einer Schweigeminute in Gedenken an all jene Arbeiterinnen, die gestorben sind, ohne zu erleben, dass ihre Arbeit endlich den gleichen Wert wie die ihrer männlichen Kollegen erhält. Lohngleichheit: ein einleuchtendes, fast triviales Ziel – und doch so schwer zu erreichen. Das Weltwirtschaftsforum hat auf Basis der aktuellen Entwicklung berechnet, dass es noch mindestens 217 Jahre dauern wird, bis das Lohngefälle zwischen Frauen und Männern weltweit überwunden ist.
Eine Woche nach dem Streik in Glasgow verließen Tausende Google-Mitarbeiter_innen von Tokio bis New York ihre Arbeitsplätze und gingen auf die Straße. Sie protestierten gegen Fälle sexueller Belästigung durch Manager des Tech-Konzerns, die anschießend vertuscht worden waren. Google trägt wie andere Riesen der Digitalwirtschaft seit Jahren die Maske des progressiven Kapitalismus: ein Arbeitgeber, der Frauen und Männer ausbeutet, das ja, aber ohne Frauen, trans, schwule oder lesbische Mitarbeiter_innen zu diskriminieren. Und einer, der sogar die Kosten für das Einfrieren von Eizellen und für künstliche Befruchtung übernimmt. Der Protest beschränkte sich jedoch nicht auf Fälle sexueller Belästigung am Arbeitsplatz; er brachte eine Reihe von Forderungen zum Ausdruck, unter anderem auch die nach gewerkschaftlichen Rechten.
Diese beiden Kämpfe sind nur die jüngsten in einer langen Reihe von Streiks mit Frauen als Protagonistinnen: von den internationalen Streiks am 8. März bis hin zu denen der Hotel- und Bildungsarbeiter_innen in den USA. Sie stellen uns vor ein Dilemma. Wovon reden wir, wenn wir von Frauenstreiks reden? Haben wir es mit Klassenkampf zu tun – oder mit einer neuen Welle des Feminismus?
Die dritte feministische Welle
Nach mehr als zwei Jahren ist klar, dass wir uns mitten in einer neuen feministischen Welle befinden: Schon zweimal gab es transnationale Streiks am Internationalen Frauentag. Letzten Sommer fegte eine Welle von Besetzungen und Streiks gegen Belästigung und sexuelle Gewalt über Schulen und Universitäten in Chile hinweg, und in Brasilien trat der Hashtag #EleNao feministische Massenproteste gegen den Wahlsieg von Jair Bolsonaro los. Diese Welle feministischer Proteste hat unterschiedliche politische und geografische Schwerpunkte, hat aber überall Themen wie sexistische Gewalt, Lohnungleichheit, reproduktive Rechte und reproduktive Arbeit von Frauen sowie sexuelle Freiheiten in den Mittelpunkt der Debatte gerückt.
Der Einsatz digitaler Technologien und sozialer Medien hat enorm zum transnationalen Charakter der Bewegung beigetragen und nicht nur die Koordination der Kämpfe, sondern auch die Verbreitung von Ideen, Slogans, Analysen und Informationen gefördert. Aber vor allem ist es die Form des Streiks, die die wichtigste Neuerung gegenüber früheren Wellen des Feminismus darstellt. [1] Nicht nur, weil der Streik die Frauenarbeit und die Rolle der Frau in der gesellschaftlichen Reproduktion in den Mittelpunkt der Debatte gerückt hat. Sondern weil er zum Hauptmotor eines Subjektivierungsprozesses geworden ist, durch den eine neue antikapitalistische feministische Subjektivität entsteht, die dem liberalen Feminismus, der in der Bewegung auch präsent ist, kritisch gegenübersteht.
Die potenziellen Folgen dieses Prozesses zeigen sich am deutlichsten, wenn man den grundlegenden Unterschied zwischen dieser Welle und den ersten beiden berücksichtigt. Die erste feministische Welle – Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts – spielte sich grob gesagt im Rahmen der entstehenden Arbeiterbewegung ab. Innerhalb dieses historischen Prozesses der Massenpolitisierung und des Eintritts der Arbeiterklasse in die Politik forderte sie die volle Verwirklichung des universalistischen Versprechens, das sowohl dem demokratischen Liberalismus als auch dem Sozialismus eigen ist, indem sie rund um das Motto der Gleichheit agitierte: gleiche Fähigkeiten, gleiche Rechte.
Die zweite feministische Welle war in einen anderen Prozess der Klassensubjektivierung eingebettet, in das Entstehen der Neuen Linken in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern und die Welle antikolonialer und nationaler Befreiungskämpfe. Innerhalb dieses Prozesses übernahm sie das dem Schwarzen Nationalismus entlehnte Schlagwort der Differenz, um den Sexismus in der Gesellschaft und in der Bewegung anzuprangern und einem spezifischen Anliegen Ausdruck und Sichtbarkeit zu verleihen, das allzu unter den Teppich gekehrt wurde.
Der Kontext der dritten Welle des Feminismus ist ein radikal anderer. Dem Aufstieg der neuen feministischen Bewegung gingen natürlich ebenfalls Mobilisierungen voraus, insbesondere die Kämpfe der Jahre 2011-2013 (Occupy, die spanischen Indignados, die Besetzung des Taksim-Platzes in Istanbul). Von diesen hat sie einige Merkmale geerbt, etwa die Unabhängigkeit von allen Parteien und Organisationen der traditionellen Linken oder das hohe Tempo, mit dem sich bestimmte, partielle Anliegen – die Empörung über Feminizide und den Angriff auf das Recht auf Abtreibung – in eine allgemeine Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise und ihren staatlichen Institutionen verwandelt haben. Zugleich hat sie einen entscheidenden Schritt nach vorn getan, indem sie den Streik als ihre wichtigste Kampfform und ihre politische Identität wiederentdeckt hat. Die Frauenstreiks machen die feministische Bewegung zum internationalen Prozess der Klassenbildung dieser Epoche.
Was ist Klasse?
Die marxistische Tradition wird von einem Paradox heimgesucht. Einerseits ist der Begriff des Klassenkampfes für den Marxismus ein grundlegendes Instrument zum Verständnis des Kapitalismus. Andererseits ist die Frage, was genau eine Klasse ist, vielleicht die kontroverseste und unklarste innerhalb der marxistischen Debatte wie auch in den Marxschen Schriften selbst. Bei Marx bezeichnet Klasse mal eine metaphysische Einheit oder ein Moment der Geschichtsphilosophie (das Proletariat als Totengräber der bürgerlichen Gesellschaft). An anderen Stellen bestimmt Marx die industrielle Arbeiterklasse auf Basis soziologischer und ökonomischer Kriterien. In »Das Elend der Philosophie« findet sich Marx‘ berühmte Unterscheidung zwischen »Klasse an sich« und »Klasse für sich«, auch wenn sie nur angedeutet und keineswegs klar ausformuliert ist.
Diese Unklarheiten haben in der marxistischen Debatte zu unterschiedlichen Theorien geführt. Schematisch lassen sich drei Hauptansätze unterscheiden: objektivistische oder soziologische, metaphysische (wobei »Klasse« eine abstrakte Kategorie ist, die das Subjekt einer fortschrittlichen Geschichtsphilosophie bezeichnet) und politische. Um zu verstehen, warum die neue feministische Bewegung als ein Prozess der Klassensubjektivierung verstanden werden sollte, ist ein Blick auf den letztgenannten Ansatz notwendig.
Für den Marxisten und Historiker E.P. Thompson ist »Klasse« zuallererst eine historische Kategorie, die von der empirischen Beobachtung individueller und kollektiver Handlungen ausgehen muss – Handlungen, die im Laufe der Zeit einen Klassencharakter ausdrücken und Klasseninstitutionen (Gewerkschaften, Parteien, Verbände usw.) hervorbringen. [2] Der Begriff der Klasse ist demnach dynamisch und bezieht sich auf einen historischen Prozess, kann also nicht auf eine soziologische Definition entlang statistischer Kriterien reduziert werden. So betrachtet ist die Bestimmung der Arbeiterklasse als die Gesamtheit aller Lohnarbeiter_innen oder all jener Menschen, die, ob angestellt oder nicht, keine anderen Ressourcen haben als den Verkauf ihrer Arbeitskraft, wenn auch nicht falsch, so doch abstrakt und unvollständig. Wenn Definitionen dieser Art als vollständige Definitionen betrachtet werden, führen sie zu analytischen Missverständnissen und folgenreichen politischen Fehlern. Im Gegenteil ist Klasse für Thompson der Endpunkt, nicht der Ausgangspunkt ihres Formierungsprozesses. Anders: Klasse ist nicht die Voraussetzung, sondern das Produkt des Klassenkampfes.
Wenn Klasse das historische und dynamische Produkt des Klassenkampfes ist, bleibt aber zu klären, wie der Prozess der Entstehung von Klasse (im Klassenkampf) mit der Position sozialer Gruppen in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen zusammenhängt. Die Produktionsverhältnisse strukturieren die Gesellschaft, indem sie Individuen in das versetzen, was die marxistische Historikerin Ellen Meiksins Wood »Klassensituationen« nennt. [3]
Im Falle von Arbeiterklassensituationen sind hier die Enteignung und Trennung von den Produktionsmitteln (Proletarisierung), die Abpressung von Mehrwert durch Lohnarbeit sowie die historisch spezifischen Arbeitsprozesse, Arbeitsteilungen usw. zu nennen.
In eine »Klassensituation« versetzt zu werden, bedeutet jedoch nicht automatisch, zu einer Klasse zu gehören. Tatsächlich präsentieren sich Klassenverhältnisse denjenigen, die sie erleben, nie auf unmittelbare Weise. So schreibt Wood, dass die Fabrikarbeit die Arbeiter_innen nicht zu einer Klasse zusammensetzt, sondern zu einer bestimmten Produktionseinheit: Was Arbeiter_innen direkt erleben, ist ihre Ausbeutung an einem bestimmten Arbeitsplatz, nicht Klassenbeziehungen im Allgemeinen. Natürlich schafft ihre Anordnung innerhalb der Produktionsverhältnisse die Voraussetzungen dafür, dass sich die in einer Produktionseinheit versammelten Arbeiter_innen als Teil einer größeren Einheit erfahren können – mit den Arbeiter_innen anderer Produktionseinheiten im selben Gebiet, im selben Land oder weltweit. Aber diese übergeordnete Einheit ist das Produkt eines historischen Prozesses, den Wood »Klassenbildung« nennt. Damit sich Individuen, die sich in »Klassensituationen« befinden, als Klasse konstituieren können, müssen sie als Klasse kämpfen, sie müssen den Antagonismus zu anderen Klassen erleben.
Dieser theoretische Ansatz hat immense politische Konsequenzen. Wenn Klasse das Ergebnis eines historischen Prozesses der Selbstkonstituierung durch Klassenkampf ist, besteht einer der schlimmsten politischen Fehler darin, mit vorgefertigten, abstrakten Modellen an die Frage heranzugehen, was als Klassenkampf gilt und was nicht. Tatsächlich besteht die Gefahr, dass wir der nostalgischen Sehnsucht nach den Formen und Erfahrungen der Vergangenheit nachhängen (oder unseren Imaginationen davon), statt die Prozesse der Klassensubjektivierung zu erkennen, die vor unserer Nase stattfinden.
Die neue Klasse: feministisch und antirassistisch
Die überwiegende Mehrheit der Theorien und politischen Strategien der Arbeiterbewegung ist von der Vorstellung geprägt, dass es auf der einen Seite den Klassenkampf gibt, auf der anderen Seite die Frauenbewegung, ökologische Bewegungen, antirassistische Bewegungen und so weiter. Hier stellte sich bestenfalls die Frage, wie man die Bewegungen miteinander verbinden könnte; schlimmstenfalls wurde den verschiedenen »partiellen« Bewegungen vorgeworfen, die Klasse zu spalten, liberale Tendenzen auszudrücken oder von der eigentlich zentralen Frage der Ausbeutung abzulenken. Die neue feministische Welle bietet die Möglichkeit, diese Sackgasse zu überwinden, denn sie verwischt mehr noch als frühere Wellen die (realen und imaginären) Grenzen zwischen Klassenkampf und feministischer Bewegung.
Um auf die Beispiele von Glasgow und Google zurückzukommen: Die Schwierigkeit bei der Beantwortung der Ausgangsfrage – ist es Klassenkampf oder Feminismus? – besteht darin, dass die Frage falsch ist. Diese Streiks, ebenso wie die transnationalen Streiks vom 8. März, sind feministische Klassenkämpfe.
Die feministische Bewegung wird mehr und mehr zu einem Formierungsprozess einer Klassensubjektivität mit spezifischen Merkmalen: von Beginn an antiliberal, internationalistisch, antirassistisch, klar feministisch und tendenziell antikapitalistisch. Natürlich ist dieser Prozess nicht in jedem Land gleich, in einigen Ländern ist er definitiv weiter fortgeschritten als in anderen. Und doch, wenn wir die Bewegung insgesamt betrachten, ist es dieser Aspekt, der ihre größte Neuerung darstellt und die interessantesten Möglichkeiten verkörpert. Die Realisierung dieses Potenzials erfordert vor allem die Fähigkeit der Bewegung, über sich selbst nachzudenken und damit strategisch auf der gleichen Ebene zu denken, auf der sie sich bereits durch ihre Praxis positioniert hat: der einer antisystemischen Bewegung auf globaler Ebene.
Die englische Originalfassung des Artikels erschien unter dem Titel »From Women’s Strikes to a New Class Movement: The Third Feminist Wave« am 3. Dezember 2018 im Viewpoint Magazine. Dies ist eine gekürzte und redaktionell bearbeitete Version. Übersetzung: Jan Ole Arps
Quelle: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 646… vom 20. Februar 2019
[1] In der englischen Langfassung des Textes unterscheidet die Autorin die aktuelle, »dritte« Welle des Feminismus von der ersten um die Jahrhundertwende und der zweiten der 1960er und 1970er Jahre. Die landläufig als dritte Welle des Feminismus bezeichnete Bewegung der 1990er und frühen 2000er Jahre nimmt sie von dieser Chronologie aus, da sie vornehmlich in der Theorie und an den Universitäten stattgefunden habe, nicht in massenhaften sozialen Mobilisierungen verwurzelt sei. Allerdings sei die aktuelle feministische Bewegung stark von der Queer- und Trans-Theorie und den Analysen der Intersektionalität beeinflusst.
[2] E.P. Thompson: Die englische Gesellschaft im 18. Jahrhundert: Klassenkampf ohne Klasse, in: Ders.: Plebejische Kultur und moralische Ökonomie, Frankfurt 1980, Seiten 246-288.
[3] Ellen Meiksins Wood: The Politics of Theory and the Concept of Class: E.P. Thompson and his Critics, in: Political Economy 9 (1982): Seiten 45-75.
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitskämpfe, Arbeitswelt, Frauenbewegung, Marx, Postmodernismus, Strategie
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