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In Belmarsh ist das Gewissen des Westens inhaftiert

Eingereicht on 11. April 2024 – 16:41

Roberto De Lapuente.  Heute vor fünf Jahren wurde Julian Assange in Belmarsh inhaftiert. Bis heute sitzt er in Haft. Sein Fall verdeutlicht die westliche Doppelmoral wie kaum etwas anderes.

Wir leben in Zeiten voller Propaganda, gefüllt mit Kriegslügen und Durchhaltemanipulationen. Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit. Diese Erkenntnis ist so oft wiederholt worden, man mag sie eigentlich nicht nochmal zitieren – aber sie trifft nun mal zu. Julian Assange hat mal gesagt: »Wenn Kriege durch Lügen begonnen werden können, kann Frieden durch Wahrheit begonnen werden.« Theoretisch hatte der australische Journalist recht. In unserer traurigen Wirklichkeit sah es praktisch so aus: Wer die Wahrheit berichtet, wird verfolgt und geht ins Gefängnis.

Assange wird seit dreizehn Jahren verfolgt. Die ersten Jahre seiner Odyssee verbrachte er in der Botschaft Ecuadors in London. Bis 2019 verschanzte er sich an jenem Ort. Nachdem sich die Beziehung zu seinem Gastgeber verschlechterte, musste er die Botschaft verlassen und wurde von der Londoner Polizei festgenommen. Er landete Belmarsh, dem härtesten Knast Englands. Bis heute ist ungeklärt, ob er in die USA ausgewiesen wird oder nicht – zuletzt wurde eine mögliche Ausweisung aufgeschoben.

Investigativjournalismus soll für immer weggesperrt werden

In den Vereinigten Staaten erwarten ihn bis zu 175 Jahre Haft. Selbst die Todesstrafe wird von den US-Behörden nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Washington steht auf dem Standpunkt, dass Assange Leben gefährdet hätte. Insbesondere Soldatenleben. Dafür gibt es allerdings keine Beweise. Viele seiner Offenlegungen und Leaks zeigen aber, was wirklich Menschenleben gekostet hat: US-Militär im Kriegseinsatz. Das, was man auf den von WikiLeaks veröffentlichten Videos sah oder in geleakten Berichten las, hörte sich so völlig anders an, als das was die Medien über die US-Kriege berichteten. Dort kam die US-Army abgeklärt vor – als führe sie einen angemessenen Krieg mit angemessenen Mitteln. Aber es war ganz anders, Assange habe dabei geholfen, »unschöne Wahrheiten über die US-geführten Kriege in Irak und Afghanistan bekannt zu machen«, wie die Deutsche Welle einst euphemistisch erklärte.

Angefangen hat die Verfolgungsjagd des Investigativjournalisten mit plumpen Vergewaltigungsvorwürfen. Gerade in jenem Moment, da Julian Assange auf dem Höhepunkt seines investigativen Schaffens war, kamen dieser Vorwürfe auf. Zwei Frauen aus Schweden meldeten sich im August 2010 bei der Polizei. Die schwedische Staatsanwaltschaft erließ Haftbefehl – und der wurde internationalisiert. Es kam nie zu einem Verfahren. Damals unkten schon die ersten, man hätte hier etwas konstruiert, um Assange aus dem Verkehr zu ziehen. Das galt natürlich als Verschwörungstheorie – allzu verschwörungstheoretisch klingt es heute allerdings nicht mehr.

Assanges Vergehen war es, Journalismus so verstanden zu haben, wie die Mächtigen ihn sich eben gerade nicht vorstellen. Sie bevorzugen und fördern einen Journalismus, der kein Stachel im Fleisch sein will, der sich nicht als Kontroll- sondern schlicht als Begleitinstanz politischer und wirtschaftlicher Prozesse versteht. Natürlich soll er über Abläufe berichten, aber bitte auf das Wording zurückgreifen, das PR-Agenturen vorab zur Verfügung gestellt haben. Eingebundener Journalismus: Das ist das Stichwort. Bei dem ist natürlich auch immer Wahrheit im Spiel – die Wahrheit der Macht, die gerade benötigte Wahrheit für den Augenblick. Objektive Wahrheit allerdings nicht.

Gefangener der NATO

Julian Assange verstand WikiLeaks jedoch als objektive Plattform. Regierungen nicht freundschaftlich zu begleiten, sie kritisch und mit Abstand zu durchleuchten und damit zur demokratischen Gewaltenteilung beizutragen: Das war seine Auffassung. Mit solchen Journalisten sitzt man natürlich nicht fraternisierend zusammen – dieses Privileg genießen nur die Eingebundenen. Häufig vernimmt man, wie Politik und Medien sich gegenseitig um Zusammenarbeit bemühen – als sei Zusammenarbeit etwas, das die Grundlage zwischen beiden Welten ausmachen würde. Das Gegenteil wäre der Fall. WikiLeaks hat es so gehandhabt: Die Plattform arbeitete mit denen zusammen, die etwas wussten und bereit waren, das weiterzutragen: Mit Whistleblowern.

Dabei handelt es sich um Menschen, die in einer sensiblen Position arbeiten, aber von Gewissensbissen geplagt werden, weil sie spüren oder sogar wissen, dass die Macht eben diese missbraucht und Gesetze bricht. Ihr Anliegen ist es, dieses Wissen mit anderen zu teilen und die Gesellschaft darüber in Kenntnis zu setzen. Für die Vereinigten Staaten ist ein solcher Antrieb Spionage. Um Julian Assange in den USA anklagen zu können, greift Washington dann auch auf ein Gesetz aus dem Ersten Weltkrieg zurück. Dieser Espionage Act legt nahe, dass Assange – wie schon erwähnt – Menschenleben gefährdet habe. Folgte man dieser Logik, müsste man es so auslegen: Weil Assange Kriegsverbrechen im Nahen Osten aufdeckte, gefährdete er US-Soldaten ebenda. Denn aufgebrachte Autochthone könnten sich ja zur Wehr setzen gegen die Praktik gezielter Kriegsverbrechen.

Wäre Assange Russe und flüchtete vor dem Zugriff Wladimir Putins, würde er im Westen und insbesondere in den Vereinigten Staaten als wahrer Held gefeiert. Man würde ihm Asyl gewähren und ihn als Gesicht eines besseren Russlands ausweisen. Assange ist, mit etwas Pathos ausgedrückt, das Gesicht des besseren Westens. Der Globale Süden schaut mittlerweile argwöhnisch auf den Globalen Norden, der kurioserweise auch der Westen ist: Assange ist das Gesicht, das das schlechte Bild des Westens dort ein wenig retten könnte. In Belmarsh sitzt das Gewissen des Westens. Für die Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen vom Bündnis Sahra Wagenknecht ist Assange schlicht ein »Gefangener der NATO«. So merkt sie das in ihrem aktuellen Buch an. Kein Land aus dem Militärbündnis macht Druck auf die USA – sie nehmen ihre Vasallenrolle ein und schweigen. Von wegen Wertebündnis!

Wo ist der Widerstand der Journalistenzunft?

Ja, selbst der eigene Berufsstand schweigt. In den ersten Jahren von Assanges Verfolgung schien es noch kritische Berichte zu seiner Person zu geben. Sukzessive schliefen die ein, je dringlicher die USA Assange in Übersee »begrüßen« wollten, desto häufiger griff man Assange an. 2016 war es dann – wie kann es anders sein! – Deutschlands Investigativirokese, der Assange zum Instrument für Donald Trump umfunktionierte. Unabhängigen Journalismus gibt es in Deutschland selbstverständlich. Wer was anderes behauptet, gefährdet womöglich unsere Demokratie.

Sascha Lobo wird mit dieser Art von »Journalismus« natürlich nie in die Lage kommen, sich in eine Botschaft zurückziehen zu müssen. Wie ihm geht es fast allen Journalisten im Mainstream-Bereich. Sie sind eingebunden – und das geschieht ohne direkten Druck, sie haben gelernt, genau so zu reagieren, wie es der aktuelle Augenblick verlangt. Diese Selbstregulierung stellt keine klassische Zensur dar, sie ist dem Selbsterhaltungstrieb der einzelnen Protagonisten geschuldet. Wer Karriere machen will, ja wer auch nur im Job verweilen möchte, der passt sich je nach Wetterlage an. Ein Präzedenzfall wie Assange ist ein mahnendes Beispiel. Wer will schon so enden wie er?

2011 hat Assange in einem Interview mit Russia Today folgendes gesagt: »Die Medien hätten es [Anm.: die Kriege im Irak und Afghanistan] stoppen können, wenn sie tief genug recherchiert hätten, wenn sie Regierungspropaganda nicht abgedruckt hätten. Aber was heißt das? Das bedeutet, im Kern mögen Bevölkerungen Kriege nicht. Bevölkerungen müssen in Kriege hineingetrickst werden. Bevölkerungen gehen nicht freien Willens und mit offenen Augen in einen Krieg. Wenn wir ein gutes Medienumfeld haben, haben wir auch ein friedliches Umfeld.« Besser kann man es an diesem 11. April 2024, dem fünften Jahrestag von Assanges Haft, nicht sagen. Die Medien hätten es in der Hand. Sie verweigern die Arbeit. Assange hat diese Arbeitsverweigerung verweigert. Dafür büßt er schwer. Lasst Julian Assange endlich frei!

Update: US-Präsident Biden sagte am Mittwoch während einer Pressekonferenz mit dem japanischen Ministerpräsidenten Fumio Kishida, dass man überlege, das Verfahren gegen Julian Assange einzustellen: „We’re considering it.” Das ist sehr vage und nebenbei gesagt, aber erstmals ein Zeichen der Hoffnung, dass Assange freigelassen werden könnte und die Qual ein Ende hätte.

Quelle: overton-magazin.de… vom 11. April 2024

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