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Wie Banker, Anwälte und Superreiche Europa ausrauben

Eingereicht on 22. März 2019 – 17:49

#CumExFiles. London, 7. August 2018. Sie haben die Suite auf 18 Grad heruntergekühlt. Jede Schweißperle auf der Stirn wäre verräterisch. Sie dürfen nicht nervös wirken. Der Gast, den sie erwarten, hat nervös zu sein. 

Der Blick vom 37. Stock des „Shard“ macht sie leicht schwindlig. Vor der bodentiefen Fensterfront tigern die beiden Männer auf und ab. Der eine plappert aufgekratzt in einem fort, der andere ist still, äußerlich entspannt. Die ganze Londoner City breitet sich unter ihnen aus: Die Themse, Canary Wharf, Tower Bridge, St. Paul’s Cathedral. In den Glastürmen des Finanzdistrikts spiegeln sich die Sonnenstrahlen. Die Menschen unten auf der Promenade, sie sind klein wie Ameisen.

Der Duft der Orchideen in der Porzellanvase liegt schwer in der Luft. Die Flasche Veuve Cliquot kühlt im Eiseimer auf dem Glastisch. Alles steht bereit. Fünf Kameras sind installiert. Eine in einer scheinbar achtlos auf dem Tisch abgelegten Windsor-Tüte. Eine zwischen den Buchdeckeln eines Thrillers im Regal. Sie alle richten sich auf einen noch leeren Sessel der Sitzgruppe.

Als das Telefon um 13.51 Uhr klingelt, neun Minuten zu früh, zucken sie kurz zusammen. Die Singapurerin im eng geschnittenen schwarzen Etui-Kleid hebt den Hörer ab und raunt ihnen zu: „Er ist da.“

 Sag der Rezeption, dass wir ihn in fünf Minuten abholen. 

Sie schauen sich an. Es geht los.

Oliver Schröm ist jetzt nicht mehr Chefredakteur von CORRECTIV, sondern Otto, der Ältere eines Brüderpaars. Christian Salewski ist nicht mehr ein Reporter des ARD-Magazins Panorama, sondern der jüngere Halbbruder, Felix. Otto und Felix sind deutsche Milliardenerben mit Wohnsitz in der Schweiz, bereit, sich gleich auf ein fragwürdiges Investment im dreistelligen Millionenbereich einzulassen. Die Frau im schwarzen Kleid ist nicht mehr PR-Beraterin und Ehefrau eines Kollegen, sondern ihre Assistentin.

Zu ihrer Rolle gehört es, den Gast, der zu früh dran ist, noch nicht abzuholen. Ihn warten zu lassen. Mindestens noch 15 Minuten. Soll er doch in der Lobby schwitzen.

Der Gast, nennen wir ihn Amal Ram, wird 45 Minuten Zeit haben, den Milliardären sein Finanzprodukt schmackhaft zu machen. Die Reporter haben 45 Minuten Zeit, einen Verdacht zu erhärten, dem sie seit über einem Jahr nachgehen: Dass nicht nur deutschen Steuerzahlern Unsummen geraubt wurden, sondern denen in halb Europa. Und dass der größte Steuerraub aller Zeiten nicht vorbei ist.

Wenn Amal Ram das vorhat, was sie glauben, steht die nächste Runde unmittelbar bevor. Deshalb haben sie den Investmentbanker in eine Falle gelockt.

Als ihre Fake-Assistentin mit dem Fahrstuhl nach unten in die Lobby fährt, geht Otto ins Schlafzimmer. Er, der Senior, soll erst später dazu kommen.

Deutschland, 2017: Die erste Enthüllung

31,8 Milliarden Euro. Um soviel hat eine Seilschaft aus Aktienhändlern, Steuerberatern, Bankern und Anlegern den Staat nachweislich ausgeplündert, wie ein achtköpfiges Team von PanoramaZeit und Zeit Online 2017 enthüllte. Mehr als ein Jahr lang hatten die Journalisten Unterlagen von einem Datenstick ausgewertet. Sie belegten, in welchem Ausmaß Banken und Investoren sich Steuern auf Aktiengeschäfte zurückerstatten ließen, die ihnen nicht zustanden. Diese windigen Finanzkonstrukte tragen die Namen Cum-CumEine inländische Bank hilft einem ausländischen Investor, eine Steuerrückzahlung zu ergattern, auf die dieser keinen Anspruch hat. Der Gewinn wird zwischen den Beteiligten aufgeteilt. Cum-Cum ist per se nicht illegal. Die Bundesregierung geht aber von einem steuerlichen Gestaltungsmissbrauch aus, wenn Geschäfte rein steuerlich motiviert sind. und Cum-ExEine Steuer wird einmal abgeführt und doppelt oder noch öfter vom Fiskus zurückerstattet. „Cum“ steht für mit „Dividende”, „Ex“ für „ohne Dividende“. Mittlerweile sind auch Mischformen entstanden. Und neue, noch aggressivere Mutationen, für die es noch gar keine Namen gibt. Cum-Ex und Cum-Cum sind also nur zwei Spielarten steuergetriebener Geschäfte..

Hinter diesen kryptischen Begriffen verbirgt sich eine perfide Maschine zum Gelddrucken.

Die genaue Ausgestaltung dieser Aktiengeschäfte rund um den DividendenstichtagDie Dividende ist der Teil des Gewinns, den eine Aktiengesellschaft an ihre Aktionäre ausschüttet. In Deutschland passiert das in der Regel einmal im Jahr. von Konzernen ist hoch komplex. Aber das Grundprinzip dahinter ist simpel: Die Deals dienen einzig und allein dem Zweck, Steuergelder einzuheimsen. Ansonsten steht keinerlei Wert hinter dem Handel. Jeder, der sich an diesem Geschäft beteiligt, wird reicher. Und der Staat wird ärmer, eins zu eins.

Man kann es sich vorstellen wie einen Betrug rund um das Kindergeld. Bei Cum-Cum-Geschäften lassen sich Deutsche, die gar keine Kinder haben, welche aus London schicken, melden sie in Deutschland an und schicken sie ein paar Tage später wieder nach London. Das Kindergeld teilen sie mit den Vermittlungsagenturen. Bei Cum-Ex-Geschäften und deren Varianten werden die Kinder gleich auf mehrere Familien angemeldet. Pro Kind gibt es also mehrfach Kindergeld. Der einzige Unterschied: Bei Betrug mit Aktien geht es jedes Mal um Millionen.

Cum-Ex-Geschäfte sind also nicht einfach Steuervermeidung. Wer Steuern vermeidet, der zahlt nicht in die gemeinsame Kasse ein. Wer Cum-Ex-Deals macht, der nimmt etwas aus der Kasse heraus, das andere eingezahlt haben. Und was sie noch zynischer erscheinen lässt: Die Deals nehmen kurz vor der Finanzkrise richtig an Fahrt auf. Also in einer Zeit, in der der Staat die Banken vor dem Kollaps retten wird, wiederum mit Steuergeldern.

Was geht in den Köpfen von Menschen vor, die so handeln? Bislang gelang es nicht, die mutmaßlichen Täter zum Sprechen zu bringen. Schröm und Salewski wollen sie verstehen lernen. Denn nur so können sie herausfinden, bis wohin sie gegangen sind – und was sie als nächstes tun werden.

CORRECTIV hat ein Reporterteam aus zwölf Ländern koordiniert. 37 Journalisten haben die Spuren von Cum-Ex, Cum-Cum und vergleichbaren steuergetriebenen Geschäften durch ganz Europa verfolgt. Undercover sind Schröm und Salewski ins Innere dieser Maschinerie vorgedrungen. In die Köpfe ihrer Ingenieure.

Um ihnen auf die Schliche zu kommen, müssen sie lernen, zu fühlen und zu denken wie sie. Sie werden sich eine neue Identität zulegen, sich von Kennern der Szene coachen lassen, sich verkleiden. Ein Hauptakteur der Cum-Ex-Szene wird sie in seine Welt mitnehmen. Auch ihn müssen sie maskieren. Nur mit einem neuen Gesicht wird der Insider vor laufender Kamera exklusiv erklären, wie man sich einen eigenen Glauben schuf und die „Teufelsmaschine“ baute, wie er sie nennt.

Aber von vorne.

Hamburg, Frühsommer 2017: Neue Daten und ein alter Bekannter

Schröm und Salewski, damals beide Reporter bei Panorama, stehen zusammen mit ihren Kollegen kurz vor der Veröffentlichung des Milliardenraubzugs, als sie einen zweiten USB-Stick bekommen. Er enthält interne Unterlagen und Kommunikation von Banken, Hedgefonds und großen internationalen Wirtschaftskanzleien. Vor der Ausstrahlung der Sendung können sie das neue Material nicht mehr auswerten.

In den Tagen danach finden sie eine Email auf dem Stick, datiert auf den 7. Januar 2007:

„Lieber Paul“, beginnt die Nachricht und teilt das Ergebnis einer verabredeten Recherche mit: Steuerexperten der Kanzlei hätten herausgefunden, dass man solche Strukturen in der Schweiz und Österreich aufbauen könne. Desweiteren sei es sehr wahrscheinlich möglich, solche Strukturen in Finnland, Spanien und Frankreich aufzusetzen.

Der Absender ist Hanno Berger, bekannt als „Mr. Cum-Ex“. Der 67-Jährige ist eine Steuerkoryphäe mit eigener Kanzlei in Frankfurt – und war Hauptprotagonist ihres Panorama-Films. Berger erstellte Rechtsgutachten. Sie legten dar, dass es legal sei, sich Steuern erstatten zu lassen, die nie gezahlt wurden. Der Empfänger: Paul Mora, Aktienhändler, ebenfalls ein Cum-Ex-Mastermind der ersten Stunde. Er orchestrierte die Aktiendeals. Er plante, welcher Partner wann welche Aktien kaufen soll.

Nur, warum finden die Reporter keinerlei Medienberichte über solche Aktiengeschäfte in den erwähnten Ländern? Haben Berger und Mora ihre Pläne dort nie umgesetzt?

Oder aber haben sie die Länder geplündert – und die wissen bis heute nichts davon? Passiert es womöglich noch in diesem Augenblick?

Denkbar ist es: Das SteuergeheimnisWährend die EU europaweite Datenbanken betreibt, um Flüchtlinge zu erfassen oder Informationen über Terroristen zu teilen, gibt es so etwas für Steuergeschäfte nicht. erschwert es der Justiz der europäischen Länder, sich auszutauschen. Deutsche Staatsanwälte können ihre ausländischen Kollegen nicht einfach warnen, wenn sie Hinweise haben, dass ihre Nachbarn ausgeraubt werden. Als würde man mit dem Fernrohr einen Mord hinter der Grenze beobachten und nicht bei der Polizei anrufen.

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Und noch eine Information erhält das Panorama-Team, die alle elektrisiert: Die Staatsanwaltschaft Köln hat jetzt einen Insider, der gegen seine ehemaligen Kollegen aussagt. Es handelt sich um Benjamin Frey, die einstige rechte Hand von Hanno Berger. Frey heißt eigentlich anders. Schröm erinnert sich gut an ihn.

2014 trifft Schröm den Cum-Ex-Anwalt in einer Lounge am Zürcher Flughafen. Er hatte gerade im stern enthüllt, wie eine Reihe von prominenten Investoren, allen voran Carsten MaschmeyerDer breiten Öffentlichkeit ist der einstige Vorstand des Finanzvertriebs AWD als Investor in der TV-Show „Die Höhle der Löwen” und als Ehemann von Schauspielerin Veronica Ferres bekannt. Sein dreistelliges Millionen-Vermögen machte er als AWD-Chef mit dem Verkauf von Schrottanleihen. Zehntausende Kleinsparer verloren durch Maschmeyers AWD hohe Summen., Millionen in Cum-Ex-Geschäfte steckten, ohne angeblich gewußt zu haben, dass die Rendite aus der Steuerkasse stammt. Bergers Kompagnon will den Reporter davon abbringen, in einem Folgeartikel seinen Namen zu erwähnen. Er tritt in der Uniform der Banking-Szene auf: maßgeschneiderter Anzug, rote Krawatte. Der Tonfall: selbstbewusst bis herablassend. Das Treffen geht wenig harmonisch auseinander.

 Bei mir hat sich auch etwas im Kopf getan. Das müssen Sie mir glauben. 

Der asketisch aussehende Mann, auf den Schröm im Frühsommer 2017 auf dem Kölner Flughafen trifft, hat wenig mit dem arroganten Anwalt von damals zu tun. Die Krawatte ist weg. Statt Lederschuhen trägt er Camper. Bevor Frey über die Vergangenheit spricht, sprudelt aus ihm heraus, dass er nun Sport macht. Seine Ernährung umgestellt hat. Keinen Alkohol mehr trinkt. Jeden Morgen duscht er 20 Minuten eiskalt, geht bei Wind und Wetter in Shorts in den Garten, macht Atemübungen, meditiert.

„Bei mir hat sich auch etwas im Kopf getan. Das müssen Sie mir glauben“, sagt Frey. Ein anderer Mensch sei er geworden. Tatsache ist: Er hat die Seiten gewechselt. Seit sechs Monaten stellt Frey sich den Fragen der Staatsanwaltschaft in Köln, ob nun aus Kalkül oder Überzeugung. „Ich habe die Hosen heruntergelassen, bis auf die Knöchel“, beteuert er.

Frey erzählt von dem Tag, der die Wende einleitete.

22.Oktober 2014, sechs Uhr morgens. Frey steht in seiner Zürcher Villa mit Seeblick unter der Dusche. Es klingelt. Draußen stehen acht Polizisten, halten seiner Frau, die mit dem Baby auf dem Arm die Tür öffnet, ihre Dienstausweise vors Gesicht. „Es war der Tag der größten Angst in meinem Leben“, sagt Frey. Die Polizisten durchsuchen seine ganze Villa, er muss mit auf die Wache, darf nur noch rasch eine Zahnbürste einpacken. Ab da lebt er mit der Angst.

Straffreiheit gegen Aussagen, darauf hofft Frey. Deshalb spricht er mit der Staatsanwaltschaft. Rückhaltlos, wie er sagt. Andernfalls drohen mindestens sieben Jahre Gefängnis wegen Mittäterschaft beziehungsweise Beihilfe zur Steuerhinterziehung und zum gewerbsmäßigen Betrug.

Frey verspricht, sich auch den Reportern gegenüber zu öffnen. Ihnen die „Teufelsmaschine“ zu zeigen, wie er das Cum-Ex-Konstrukt nun nennt. Die einzige Bedingung: Sein Name darf nicht erwähnt werden. Anonymität gegen exklusives Interview. Das ist der Deal.

Kopenhagen, 4. Oktober 2017: Die Grenzüberschreitung

Auch in Dänemark recherchieren Journalisten zu Cum-Ex. Um 1,7 Milliarden Euro wurden die Steuerzahler dort betrogen. Im Büro des dänischen öffentlichen Rundfunks projizieren Schröm und Salewski Bergers E-Mail an die Wand – und sie sorgt auch bei den dänischen Kollegen für Aufregung.

Paul Mora, der Empfänger der Email, erzählen sie, war Geschäftspartner von Sanjay Shah. Und so wie das deutsche Team die Spuren von Berger und Mora verfolgte, so hatten die dänischen Reporter sich über Monate an die Fersen von Shah geheftet.

Shah hat Dänemark um 1,3 Milliarden Euro erleichtert. Allein mit seinem HedgefondsHedgefonds sind hoch spekulative Investmentfonds. Gewinnchancen und Verlustrisiko sind sehr hoch. Ursprünglich wurden sie zur Absicherung gegen diverse Risiken erfunden.Solo Capital LLP erbeutete er noch knapp 750 Millionen Euro, als in Deutschland schon wegen Cum-Ex ermittelt wurde. Er ist, so erfahren die Deutschen nun, mittlerweile Dreh- und Angelpunkt des Milliardenbetrugs.

Nun fügen sie die Teile zusammen.

Shah, Investmentbanker in London und Sohn indischer Einwanderer, wendet die gleiche Mechanik an wie Mora und Berger. Und wie Berger und Mora setzt sich auch Shah ab – nach Dubai. Er lebt auf der sogenannten „Palme“, einer Gruppe künstlich angelegter Sandinseln mit Luxusappartments, die aus der Vogelperspektive eine Palme bilden.

Statements von Paul Mora, Sanjay Shah und Hanno Berger zu den Vorwürfen

Die Journalisten stoßen gemeinsam auf eine Tabelle. Eine Spalte listet die Länder auf, in denen Berger und Mora Cum-Ex-Deals erproben wollen: Spanien, Italien, die Niederlande, Österreich. In der nächsten Spalte haben sie jeweils das Ergebnis ihrer Tests festgehalten: „Funktioniert“. Der europäische Raubzug nimmt Gestalt an. Aber ein Plan ist noch kein Beleg.

Journalisten können das tun, was das Steuergeheimnis den Staatsanwälten verbietet: Sie können über Grenzen hinweg miteinander reden.

Auch investigative Reporter behalten ihre Informationen normalerweise für sich. Jeder ist hinter dem Scoop her, der exklusiven Geschichte. Doch wenn große Datenmengen und grenzüberschreitende Verstöße im Spiel sind, schließen sie sich immer öfter zusammen, teilen Ressourcen, Fachwissen und Netzwerke miteinander.

Der Kapitalmarkt ist grenzenlos. Journalismus auch.

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Den deutschen und den dänischen Reportern wird klar: Selbst wenn es Belege für einen europäischen Raubzug auf den USB-Sticks gibt, reichen zwei Reporterteams nicht aus, um die Datenmengen zu verarbeiten. Zudem kennen sich weder deutsche noch dänische Journalisten mit dem Steuerrecht in Italien oder Frankreich aus oder haben genügend Kontakte in deren Finanzszenen.

Um herauszufinden, ob Hanno Berger, Paul Mora und Konsorten Europa ausgeraubt haben, müssen sie sich breiter aufstellen.

Berlin, 2. Februar 2018: Das Netzwerk

15 Journalisten aus halb Europa versammeln sich im Berliner Büro von CORRECTIV. Sie arbeiten für Follow the Money in Holland, El Confidencial in Spanien, Addendum und Newsin Österreich, Die Republik in der Schweiz. Kollegen der bestens in die Londoner Bankenwelt verdrahteten Nachrichtenagentur Reuters sind auch dabei.

Das Treffen ist der Auftakt des Projekts „The CumEx-Files“. Die Tech-Kollegen von CORRECTIV führen die internationalen Kollegen in die Datenbank ein, die sie gebaut haben. Auf deren Laptops installieren sie eine Software, mit der sie abhörsicher kommunizieren können.

„In Spanien hat noch nie jemand das Wort Cum-Ex gehört“, erzählt die Reporterin von El Confidencial in der Pizzapause. „Mich haben Kollegen gefragt, ob ich jetzt auf lateinisch arbeite“, sagt ein italienischer Journalist.

Die CumEx-Files umfassen mehr als 180.000 Seiten, zusammengetragen aus vielen verschiedenen Quellen. Interne Gutachten von Banken, Steueranwaltskanzleien und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Es ist ein Blick in den Maschinenraum der Cum-Ex-Welt. Kundenkarteien, Tabellen mit gehandelten Aktien, E-Mails, Kontoauszüge sowie Durchsuchungsprotokolle und Aufzeichnungen von abgehörten Telefonaten. Dazu kommen Interviews mit Whistleblowern und Insidern.

Allerdings ist es ein Blick in die Vergangenheit.

Keine vier Wochen später meldet sich die Gegenwart.

Frankfurt, März 2018: Ein unmoralisches Angebot

Die Gegenwart lugt aus der Innentasche eines Jacketts. Es handelt sich um ein schriftliches Angebot für ein steuergetriebenes Aktiengeschäft. Ein Informant aus Dubai hat es erhalten. Selbst tief in Cum-Ex-Deals verstrickt, wollte er persönlich nicht mit den beiden Reportern sprechen. Zu gefährlich. Aber er schickt einen Mittelsmann zum Frankfurter Flughafen.

Es geht weiter mit steuergetriebenen Geschäften, mit neuen Varianten von Cum-Ex, Cum-Cum und ähnlich gelagerten Deals, sagt der Vermittler. Jetzt, in diesem Moment.

„Sie glauben mir nicht?“, fragt der Vermittler und greift nun ins Innere seines Jacketts. Er zieht die Papiere heraus. „Dieses Angebot“, sagt er, „ist von letzter Woche. Der Anbieter ist auf Suche nach Anlegern. Sie sollen zwischen 150 und 200 Millionen investieren.“

Er macht keine Anstalten, Schröm und Salewski das Papier auszuhändigen. Stattdessen referiert er:

„Die Anlage soll zwischen 100 und 150 Tage laufen. Es werden Aktien gehandelt. Hier wird das ‚overall risk’ beschrieben, das übergeordnete Risiko. Das können Sie gleich mal nachlesen, es steht überall: ‚low, low, low’“. Und trotz des geringen Risikos soll die Anlage hoch profitabel sein: „Wenn Sie mit 200 Millionen reingehen, können Sie mit einer Rendite von 12 Prozent rechnen, ungefähr so hoch wie bei Cum-Ex in Deutschland, als es dort noch möglich war.“

Salewski: „Es schaut ja fast so aus, als wären die Geschäfte noch lukrativer als früher.“

Der Vermittler lacht. „Das ist die Ironie der Geschichte. Die Erträge sind deswegen so gut, weil der Markt enger geworden ist. Kein Wunder, die Staatsanwälte versuchen ja mittlerweile, ihn abzugraben. Für diejenigen, die weiter aktiv sind, werden die Preise also besser.“

Salewski: „Können wir das Papier haben?“

Der Vermittler schüttelt den Kopf und steckt das Dokument wieder in die Jackentasche: „Es wäre zu leicht rückverfolgbar, woher Sie es haben. So etwas wird nur an einen handverlesenen Kreis von Interessenten verschickt.“

Schröm: „Kennen Sie den Händler?“

Vermittler: „Nicht persönlich.“

Schröm: „Aber Sie kennen den Namen?“

„Ja. Amal Ram.“

Amal Ram, der Mann, den die beiden Reporter undercover in dem Londoner Luxushotel treffen werden, ist ihnen da noch kein Begriff.

Köln, 24. April 2018: Die Maske

Eine Maskenbildnerin hat tagelang an Benjamin Freys neuem Gesicht gearbeitet. Schläuche verbanden seine Nase, um ihm das Atmen zu ermöglichen, während sie feuchtes Silikon auf sein Gesicht auftrug, Schicht um Schicht. Auf den Abdruck modellierte sie ein zweites Gesicht. Neue Nase, neues Kinn, neue Lippen und Wangenpartien. Jetzt schmiegt sich die zweite Haut aus festem Silikon an Freys echte. Er blinzelt, macht ein Selfie mit dem Handy und schickt es seiner Frau. „Kennst du den Typ?“, schreibt er. Sie kennt ihn nicht. Test bestanden.

Frey hat sich genau überlegt, was er über zwei Tage in jeweils vier Stunden sagen wird. Er wird seine Geschichte, auf die er die Reporter seit fast einem Jahr hat warten lassen, hoch strukturiert und konzentriert erzählen. Bevor er zu sprechen beginnt, reißt Frey die Augen unter seinem neuen Gesicht auf, pumpt sich ein paar Mal mit Luft voll. Sein künstliches Gesicht sieht in dem Moment furchteinflößend aus. Für ihn sind es beruhigende Atemübungen. „Ich habe einer Menge Menschen mit sehr viel Macht, sehr viel Einfluss, sehr viel Geld, das Spiel verdorben“, beginnt er. „Deswegen habe ich diese Maske auf. Und deswegen habe ich Angst.“

Dann nimmt er die Reporter mit in seine Welt. Von unten nach ganz oben. Ins Raumschiff, wie er es nennt.

Benjamin Frey wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. In der Provinz, wo man „entweder Arbeiter, Landwirt oder Arbeitsloser“ wird. Er ist ehrgeizig, will raus aus dieser Welt und schließt ein Jurastudium 2001 so gut ab, dass er sich um keinen Job bewerben muss. Er wird umworben.

Eine Großkanzlei hat für ihr jährliches Anwaltstreffen in London über 2000 Anwälte aus aller Welt eingeflogen. Auch Frey lädt sie ein. Er kann sich gerade seinen ersten Anzug von der Stange leisten. Für das Abendessen hat die Kanzlei das gesamte Victoria and Albert Museum in London gemietet. Frey guckt nach oben, zur großen Kuppel der Haupthalle hinauf, unter der zwischen Ritterrüstungen und Gemälden die runden Zehnertische mit feinem Tischtuch aufgestellt sind.

Auf einem von ihnen steht eine Tischkarte mit dem Namen Benjamin Frey. Rechts und links von ihm sitzt je ein Partner der Kanzlei. Beim Dinner stellen sie dem Musterabsolventen Fragen zu seinem Leben, seinen Zielen, seinen Einstellungen, auch zu Geld. Er hat keins und will viel. „Bei diesem Raumschiff wurde nicht eine Tür geöffnet und eine Treppe runtergelassen. Die haben mich reingezogen. Und dann hob dieses Raumschiff ab.“

In diesem neuen Universum gelten andere Regeln, als in der Welt, die er kannte. Noch heute argumentieren die Cum-Ex-Prediger, allen voran Hanno Berger, dass sie lediglich die Möglichkeiten des Rechtes ausgeschöpft hätten. „Ob das moralisch verwerflich ist, ist ja kein Kriterium“, sagte Berger einst. Er wird später Freys Chef, Übervater und Mentor.

Der Glaube

Die Industrie ersetzt moralische Überlegungen mit einem eigenen, einem alternativen Glaubenssystem. In diesem System steht der Staat nicht für den Volkswillen. Er ist der Feind, weil er den Menschen – genauer: den Klienten – etwas wegnehmen will. Ob die mehr als genug haben oder nicht, spielt keine Rolle. „Steuern sind für diese Menschen Kosten. Und Kosten gehören reduziert, am besten auf null.“

Der einzige Leitfaden mit normativer Autorität ist paradoxerweise das Gesetz, das ja der Feind irgendwann gemacht hat. Aber Berger und seine Kollegen schreiben mit an dem Gesetz. Sie bezahlen renommierte Rechtsprofessoren dafür, Gutachten zu erstellen, die das Recht in ihrem Sinne auslegen. Aktienhändler und Investmentbanker wiederum stützen sich auf diese juristischen Gutachten wie auf eine heilige Schrift.

Ein Aktienhändler hat Frey von seinem ersten Arbeitstag bei einer großen amerikanischen Investmentbank im Steuerbereich in London erzählt. Auf seinem Arbeitsplatz lag ein sehr dickes Buch, das sie die Bibel nannten. Eine Zusammenstellung von Steuergutachten aus ganz Europa. Sie beschrieben, wo und wie man die besten Deals in den jeweiligen Ländern macht.

Das erste Gebot der Investmentbanker lautet: Du sollst Geld vermehren. Das erste Gebot der Steuerberater lautet: Du sollst alle rechtlichen Möglichkeiten ausnutzen. Du sollst nicht stehlen steht nirgends.

Berger, ein Pfarrerssohn, argumentiert mit der an Fanatismus grenzenden Konsequenz, zu der vielleicht nur Konvertiten in der Lage sind. Jahrelang hat er diesem Staat, dem Feind, nicht einfach nur gedient. Als Regierungsdirektor am Frankfurter Elitefinanzamt war er der „gefürchtetste Bankenprüfer Deutschlands“, so Frey. Er macht seinen Job so gut, dass die großen Banken den Erzählungen nach irgendwann sagen: Den können wir nicht schlagen. Also müssen wir ihn kaufen.

Den Angeboten der Banken widersteht Berger eine Weile. Irgendwann kommt eine Anwaltskanzlei und bietet ihm ein siebenstelliges Gehalt. Berger wird schwach. Im Jahr 1996 steigt Berger beim Finanzamt aus – und wird zum bekanntesten Steuertrickser der Republik.

Die Quandts, Eigentümerfamilie hinter BMW, Unternehmen wie Adidas und Karstadt, sie alle pilgerten zu Berger. „Selbst Fußballnationalspieler und einen Bundespräsidenten, der liebe Gott hab ihn selig, habe ich auf dem Schreibtisch als Fall liegen sehen“, sagt Frey.

Die Steuerprobleme der Reichen wegzumachen, das ist noch das normale Geschäft einer Kanzlei wie der von Berger. Aber mit Cum-Ex und Cum-Cum verwandeln Steuern sich von einer drohenden Belastung zu einem Quell der Bereicherung.

Um den genauen Ursprung der Konstruktion ranken sich mehrere Mythen. Einigkeit besteht darüber, dass es mit einem technischen Fehler begann.

Die Geldmaschine

Frey zufolge ist ein Aktienhändler bei einer US-amerikanischen Investmentbank zufällig darauf gestoßen. Er hatte Aktien gekauft, die aber erst vier Tage später geliefert wurden. Zwischen Kauf und Lieferung lag der Dividendenstichtag, an dem der Gewinn aus der Aktie an die Eigner ausgeschüttet wird. Dieser Gewinn wird in Deutschland besteuert. Deutsche Eigner können sich die Steuer damals wieder zurückholen, weil sie zuvor schon eine Körperschaftssteuer bezahlt haben. Der Händler hatte plötzlich einen Betrag in Höhe dieser Steuer in seinen Büchern stehen, ohne die Aktie selbst zu besitzen. 50 Millionen Pfund.

Der Trader will den Betrag wieder loswerden, weil er ihm nicht zusteht. Er wendet sich an den Verkäufer der Aktie. Dem wurde die Steuer aber auch schon erstattet. Die Steuerabteilung seiner Bank lässt eine Anwaltskanzlei prüfen, wie man das Geld dem Finanzamt wieder zukommen lässt. Die Antwort: Das könnt ihr behalten. Es gibt kein Gesetz, das eine mehrfache Auszahlung verbietet. Und was nicht explizit verboten ist, ist erlaubt. Der Banker behielt das Geld. Und weil die Steuerauszahlung automatisch geschah, ließ sich der Trick unendlich oft wiederholen.

Man muss nur genügend Geld für den Handel mit Aktien auftreiben, für wenige Tage. Man kann sich die Wertpapiere auch einfach nur leihen. Und viele andere Spielarten erfinden, ob sie Cum-Ex heißen oder Cum-Cum oder anders. Entscheidend ist: Die Transaktionen finden um den Dividendenstichtag herum statt. Und die Gewinne entstehen nicht durch eine Wertsteigerung der Aktie selbst. Sie bestehen ausschließlich aus dem Steuerbetrag.

Frey: „Es war, als hätte man Fort Knox geknackt, nur noch besser. Warum? Weil der Staat die Quelle des Geldes war, und die konnte nicht versiegen. Wenn es das perfekte Verbrechen gibt, dann ist es das.“

Plötzlich werden Geschäfte mit 60 Prozent Rendite aufs Jahr gerechnet möglich. Das Risiko: null. Außer, dass man auffliegt. Oder der Staat nicht mehr auszahlt.

Der Raubzug, das ist Frey wichtig, wird nicht wie bei dem Film Oceans Eleven von einer kleinen Zahl genialer Ganoven ausgeführt. Am Werk ist eine ganze Industrie aus Bankern, Anlegern, Steuerberatern – hunderte von Menschen, über viele Länder verteilt.

Investmentbanker und Hedgefonds bauen das Vehikel. Trader bringen es an die Investoren. Die schießen im Schnitt 100 Millionen Euro ein. Die Banken geben Kredite hinzu. Sie hebeln das Geschäft auf das bis zu 20-fache Volumen und stellen die Steuerbescheinigungen aus. Die Steueranwälte schreiben in Gutachten, dass alles legal ist. Alle verdienen mit. Frey selbst: 50 Millionen Euro, die er nun zurückgeben muss.

Frey nennt es „organisierte Kriminalität in Nadelstreifen“. Sie ist grenzüberschreitend, aber findet virtuell statt. Kommt ohne Geldkoffer aus, die über Grenzen geschafft werden, ohne mafiöse Tischrunden in Hinterzimmern. Alle Rädchen in dem Getriebe wissen, was sie zu tun haben. Die eigentlichen Deals werden über Prepaid-Telefone vollzogen. Für die Absprachen gibt es also keine Zeugen, kaum Belege.

Und der Staat? Der segnet die eigene Ausplünderung auch noch ab.

2002, zehn Jahre nachdem jemanden einem nie veröffentlichten Bericht des Beamten August Schäfer von 1992, der ihm zufolge auch an das Bundesfinanzministerium ging. aus dem hessischen Wirtschaftsministerium erstmals vor solchen Geschäften warnte, weist der Bankenverband das Bundesfinanzministerium auf die Gefahr einer doppelten Auszahlung hin – und liefert gleich eine Idee mit, wie das Problem beseitigt werden könnte.

2007, ein Jahr, bevor Lehman Brothers pleite geht und die globale Finanzkrise auslöst, setzt die Politik diesen Vorschlag. Die Cum-Ex-Geschäfte funktionieren nicht mehr, wenn der Aktienverkäufer eine inländische Bank ist. Das ändert nichts, da es genug ausländische Banken gibt. des Bankenverbands ohne jegliche Änderung um – und eröffnet damit die Cum-Ex-Party erst so richtig. Ihren Höhepunkt, so Frey, erreicht sie 2010.

Frey erklärt das mit intensiver Lobbyarbeit einerseits. Und mit der Komplexität des Steuerrechts andererseits: „Diejenigen, die das irgendwann mal ins Gesetz geschrieben haben, verstehen gar nicht mehr, was für eine Maschine sie da gebaut haben. Deswegen holt man sich die Mechaniker, wenn etwas zu verändern ist, lieber aus der Industrie.“    Er hat noch ein anderes Bild für den Vorgang: Der Staat fragt die Füchse, wie man denn die Tür zum Hühnerstall so verriegeln könnte, dass sie nicht mehr reinkommen.

Die Gier

Das Prinzip von Gier lautet: Es ist nie genug. Bei Frey äußerte sie sich so: „Sie haben einen Status und denken: Jetzt habe ich es geschafft. Dann treffen Sie auf jemanden, der hat nicht nur einen Porsche, sondern der hat zwei. Und dann kommt auch diese Energie dazu, Sie sind ja ständig unterwegs. Ich dachte, ich wäre ein besserer Mensch, weil ich im Flugzeug vorne sitzen darf. Und auf Langstrecke dürfen Sie auch noch erste Klasse fliegen, denken: Jetzt habe ich es geschafft! Dann steigen Sie aus, und der Trader, den Sie in der Besprechung treffen, kam mit dem Privatjet.“

Freys Traum war einmal eine Villa auf Mallorca. Er ist zu Besuch in der Villa eines Geschäftspartners, der zwei Villen auf Mallorca hat, beide mit über 1000 Quadratmetern Grundfläche. Wieso zwei Villen auf einer Insel, fragt er. Die Antwort: Im Norden ist es im Schnitt zwei Grad kühler. Wenn es in der Südvilla im Sommer zu heiß wird, ziehe er in die im Norden.

Auch bei Cum-Ex, Cum-Cum und vergleichbaren Aktiengeschäften gibt es ein kleines Saisonproblem: In Deutschland funktioniert der Coup nur einmal im Jahr, zum Dividendenstichtag. Wenn man das Konstrukt auch für andere Länder aufsetzen würde, hätte man eine Ganzjahresgeldmaschine. Andere Länder, andere Stichtage, mehrere Jagdsaisons.

Am Anfang steht die Gier. Aber irgendwann, sagt Frey, wird Geld zur abstrakten Größe. Es ginge nicht mehr um die nächsten Millionen. Es ginge um Herausforderungen, um Thrill. Man könnte auch sagen: Zur Gier gesellen sich Arroganz und Allmachtphantasien.

„Stellen Sie sich ein 38 Stockwerke hohes Haus in Frankfurt vor. Wenn Sie dann runtergeguckt haben auf die Straße, auf die Taunusanlange, dann haben Sie nur noch ganz kleine Menschen gesehen. Wir haben von da oben aus dem Fenster geguckt und haben gedacht: Wir sind die Schlausten. Wir sind die Genies. Und ihr seid alle doof.“

Wobei: Manchmal hat man sich die Menschen dort oben, im 32. Stock im Skyper in Frankfurt, Taunusanlage 1, offenbar zumindest vorgestellt. Bei Meetings mit Bankern fallen Sprüche wie: „Wer sich nicht damit identifizieren kann, dass in Deutschland weniger Kindergärten gebaut werden, weil wir solche Geschäfte machen, der ist hier falsch.“

Niemand verlässt den Raum.

Skrupel, betont Frey, hätte er auch unter den Anlegern nicht erlebt: „Ich kenne kaum einen, der unser Angebot ausschlug.“ Die wenigen Ausnahmen taten dies aus Angst vor Reputationsverlust, falls es durch die Medien öffentlich wird. Wahrscheinlich hätten nicht alle jede Einzelheit der Deals verstanden. Aber das Grundprinzip, das sei jedem klar gewesen: „Die Rendite kommt vom Staat. Und der Staat kann nicht pleite gehen.“

Und wenn einem doch mal so ein Gefühl dazwischenkommt, dass vielleicht nicht alles okay ist?

Frey sagt: „Lässt du diesen Gedanken zu, fliegst du aus dem Team. Dann wirst du aus diesem Raumschiff rausgeschmissen.“

Der Ausstieg

Als Frey den Gedanken im Frühjahr 2016 nicht nur zulässt, sondern auch äußert, treffen sich die Freunde von damals auf dem Zürcher Flughafen. Für Frey fühlt es sich an wie ein Tribunal. An einem großen Konferenztisch sitzt er mit seinem Rechtsanwalt auf der einen Seite. Alle anderen gegenüber, zwei an der Stirnseite. Eineinhalb Stunden lang wirken seine Weggefährten auf ihn ein. Präsentieren Gesetzestexte, die ihn überzeugen sollen, dass sie im Recht sind, und dass der Staat nach wie vor der Feind ist. Dass man nicht mit ihm kooperieren muss, wie Frey es da laut überlegt, sondern ihn bekämpfen kann, „mit dem scharfen Schwert des Gesetzes“. Hanno Berger, Freys Mentor, hat da schon die Staatsanwälte mit der ersten Strafanzeige überzogen, wegen Verfolgung Unschuldiger.

Irgendwann sagt Freys Anwalt zu der Runde: „Wissen Sie, wir haben das alles gehört. Aber wir machen alles genau anders.“ Genau anders heißt: Wir kooperieren mit der Justiz.

Stille. Frey rutscht auf seinem Stuhl runter und wartet auf die Explosion. Doch die Welt explodiert nicht. Es bilden sich Schweißperlen. Auf den Stirnen der Männer auf der anderen Tischseite. Panik greift um sich. So erzählt es zumindest Frey.

Fakt ist: In den folgenden Monaten werden weitere Verdächtige zum Feind überlaufen.

Hanno Berger wird von seinem mondänen Bergdorf in der Schweiz aus weiter prozessieren. Nicht nur gegen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Auch gegen Schröm und dessen Kollegen wird er Strafanzeige stellen. In von der Staatsanwaltschaft abgehörten Telefonaten schimpft Berger über „Schweinerichter“, nennt den Staat „totalitär“ und „links-faschistoid“.

In seinen strafrechtlichen Angelegenheiten wird Berger vertreten von: Wolfgang Kubicki. Wären die Koalitionsgespräche 2017 nicht geplatzt, wäre der Vizepräsident des Bundestages und stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP heute wohl Finanzminister.

Noch eine Frage haben die Reporter an Frey: „Jetzt, wo Cum-Ex in Deutschland nicht mehr funktioniert – gibt es in Europa noch Märkte, wo diese Geschäfte möglich sind?“

Frey: „Woher wissen Sie, dass es in Deutschland nicht mehr funktioniert?“

Die Meister, meint er, versteckten sich zwar derzeit. Aber ihr Wissen sei noch da. In den Köpfen ihrer Schüler. „Es wird wieder passieren. Ich bin sicher: Die neue Generation arbeitet schon an einem neuen Sturm.“

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Hamburg/Berlin, Mai 2018: Partys, Fische und ein Drucker

Ist Amal Ram, der Mann mit dem unmoralischen Angebot, ein Vertreter dieser neuen Generation?

Es braucht nur wenige Mausklicks, um den Händler zu identifizieren: Amal Ram, Jahrgang 1984, studierte an der Queen Mary University, London. Seine beruflichen Stationen: Maple Bank, Solo Capital und eine Privatbank in Hamburg. Es ist eine Cum-Ex-Bilderbuchkarriere, die nur einen Schluss zulässt: Ram ist ein Zögling von Sanjay Shah. Von dem Mann, der Dänemark ausgeraubt hat.

Sanjay Shah gehört zu den schillerndsten Figuren der Cum-Ex-Szene. Nicht einmal Berger habe mit ihm Geschäfte gemacht, meint Frey. Selbst der fand Shah zu dubios. Frey nennt ihn: Cowboy. Verrückter Hund. Autist.

In sehr kurzer Zeit sei Sanjay Shah dank Cum-Ex Milliardär geworden, wahrscheinlich mehrfacher. Jedes Jahr, zum Formel-Eins-Wochenende, lädt er auf seine riesige Yacht vor Abu Dhabi ein. Die Yacht trägt den Namen „Cum-Ex“. Die Partys sind so legendär wie die Konzerte mit Popgrößen wie Prince und Lenny Kravitz, die Shah in London und in der Wüste veranstaltet.

Und wie sein Büro in einem der Türme des Finanzdistrikts von Dubai.

Als Frey das Büro betritt, das so groß ist, wie eine Turnhalle, ist es so gut wie leer. Die internationalen Ermittlungen gegen Shah laufen schon, und die Menschen, die dort einmal arbeiteten, sind weg. Dafür schwimmen dort seltene Fische. In einem riesigen Aquarium, das in der Mitte der Halle steht. So groß wie ein Swimmingpool. „Ich bin nicht gut in Metern“, sagt Frey. „Aber es waren bestimmt fünf mal zehn.“

Ob man ein kleines Land wie Dänemark ausraubt oder nicht, ist für die Branche eine Frage der Risikobereitschaft. Dänemark hat wenige große Aktiengesellschaften, da fallen hohe Rückzahlungsforderungen auf. Ja, man fordert den Gegner, den Staat, förmlich heraus. Zumal, wenn im benachbarten Deutschland die Ermittlungen auf vollen Touren laufen.

Frey erinnert sich, wie einer der Trader einmal zu ihm sagte: „Shah bringt uns noch alle ins Grab. Er übertreibt es.“ Wenn man den Exzess zum weiteren Exzess treibe, dann kann es gefährlich werden. „Fast alle Aktienhändler wussten, dass es Grenzen gibt. Er nicht.“

Shah war auch noch findiger als die anderen: Er fand einen Weg, nicht nur die Staaten zu bestehlen, sondern auch die Investmentbanken zu umgehen. Die Banken stellen für die Maschinerie das Schmiermittel zur Verfügung, in Form von Millionen-, sogar Milliardenkrediten. Und sie stellen die Bescheinigungen aus, mit denen sich die Kapitalertragssteuer erstatten lässt. Dafür wollen sie einen Anteil. Was macht Shah? Er kauft sich einfach eine kleine Bank in Hamburg. „Wenn Sie alles selber steuern können, wenn Sie keinen Partner mehr brauchen, müssen Sie auch die Beute nicht teilen“, erklärt Frey.

In Cum-Ex-Kreisen raunt man sich zu: Shah hat nur einen Drucker. Mehr braucht er nicht, um sich Steuerbescheinigungen auszudrucken. In Shahs Händen wird das komplexe, vielschichtige System zu einem in sich geschlossenen Kreislauf. Darin rotiert er dieselben Aktien bis zu 20 Mal – jedes Mal wird die Steuer kassiert. Looping, nennt man diese hochgezüchtete Form der Cum-Ex-Trades.

Hamburg/Berlin Juni 2018: Ein Strohmann und sein Briefkasten

Sollte dieser Amal Ram sich tatsächlich noch mehr trauen als sein dubioser Ziehvater Shah derzeit? Ist er ein Wahnsinniger? Und folgt das Investment, das er anbietet, tatsächlich der Logik von Cum-Ex oder Cum-Cum?    Um das herauszufinden, sorgen Schröm und Salewski dafür, dass Ram am 21. Juni 2018 eine E-Mail erhält. Der Absender: Simon M. Keynes, Repräsentant einer Briefkastenfirma, registriert in einem europäischen OffshoreOffshore-Standorte wie Malta oder Jersey, oft auch Steueroasen genannt, liegen häufig auf kleinen Inseln und zeichnen sich durch niedrige Steuern und eine minimale Finanzaufsicht aus.-Land.

„Lieber Amal, Herr Smith (Name geändert) in Dubai berichtete mir von Finanzierungsmöglichkeiten, die Sie im Angebot haben. Ich glaube, die Familie, die ich über ein Single Family Office vertrete, ist grundsätzlich an solchen Geschäften interessiert. Wir haben in den letzten Jahren viele gute Erfahrungen gesammelt (z.B. bei einer Bank in Hamburg).“

Er betont, dass die Familie sehr empfindlich in Bezug auf Reputationsrisiken sei. Diskretion vorausgesetzt, stellt Simon M. Keynes ein baldiges Gespräch in Aussicht. Ram möge doch im Vorfeld weitere Unterlagen schicken.

Der Name Simon M. Keynes ist falsch, ebenso die E-Mailadresse, die hinter dem @-Zeichen den Namen der Briefkastenfirma beinhaltet. Die Briefkastenfirma selbst allerdings ist echt. Seit mehr als zehn Jahren ist sie im Handelsregister eingetragen und gehört einem langjährigen Informanten von Schröm, der sie für die Kontaktaufnahme mit Ram zur Verfügung stellt. Einen eigenen Briefkasten zu kaufen, wäre zu verdächtig gewesen: Warum sollte eine alteingesessene Milliardärsfamilie über eine nur wenige Tage alte Firma kommunizieren?

Amal Ram antwortet noch am selben Tag:

„Lieber Simon, bezüglich der Verschwiegenheit und des Reputationsrisikos können Sie sich auf mich verlassen. Bitte seien Sie versichert, dass die Märkte nicht dazugehören, die gerade im ‚Spotlight’ sind. Ich werde Ihnen zwei Powerpoint-Präsentationen schicken. Freue mich auf Ihren Anruf und auf ein persönliches Treffen. Mit freundlichen Grüßen, Amal.“   Wie besprochen, schickt er bereits am nächsten Tag zwei Präsentationen mit dem Titel „Finance Proposal – Participant“ und „Finance Proposal – Term Loan“.

Den Investoren verheißen sie entweder schnell verdientes Geld mit geringem Reputationsrisiko. Bei Variante eins würden sie nur als Kreditgeber fungieren. So können sie jederzeit behaupten, nicht gewusst zu haben, dass mit ihrem Geld letztlich steuergetriebene Geschäfte gemacht wurden. Mit Variante zwei könnten sie noch mehr Rendite rausholen. Da würden die Investoren sich am Aktienhandel beteiligen und die Steuer selbst abgreifen.

Es scheint, als hätte Ram eine neue Verpackung für steuergetriebene Aktiengeschäfte gefunden. Das Ergebnis ist das gleiche wie bei Cum-Ex oder Cum-Cum: Die Performance kommt vom Staat.

Wochenlang gehen E-Mails hin und her. Simon M. Keynes lässt Ram gegenüber durchblicken, dass seine Interessenten einen dreistelligen Millionenbetrag investieren wollen. Ram schickt weitere Unterlagen. Aber nicht alles. Er drängt auf ein persönliches Treffen.

Also werden die beiden Reporter zu Otto und Felix. Ihre Nachnamen muss Ram nicht erfahren. Dass sie sich nicht vollständig identifizieren, ist in ihren Kreisen normal. Man tauscht keine Visitenkarten aus. Um glaubwürdig zu sein, genügt es, dass die richtige Person das Treffen einfädelt – und das ist Simon M. Keynes mit seiner etablierten BriefkastenfirmaBriefkastenfirmen sind bloße Hüllen, die mit Datum und Name in ein Firmenregister eingetragen sind. Sie existieren rechtlich, sind aber wirtschaftlich nicht oder kaum aktiv. Briefkastenfirmen verfügen bisweilen über einen „Scheindirektor’, der auch eine einfache Putzfrau sein kann. Die Firmeninhaber bleiben im Verborgenen. Oftmals sind es selbst auch nur Mittelsmänner, Vertraute oder Anwälte eines Inhabers oder einer Firma..

Die illustren Brüder, schreibt Keynes, kämen demnächst für zwei Tage zum Shoppen nach London. Am 7. August hätte Ram die seltene Gelegenheit, sie für eine halbe Stunde zu treffen.

Hamburg, Ende Juli 2018: Der Crashkurs

Ein Konferenzraum in einer Villa auf dem NDR-Gelände in der Rothenbaumchaussee. „Weißt du, was es bedeutet, so richtig reich zu sein?“, fragt der Vermögensverwalter. Normalerweise betreut er Milliardäre. An diesem Tag coacht er zwei Journalisten, die wirken wollen wie Milliardäre. Lektion eins: standesgemäßes Selbstbild entwickeln.

„Ja klar. Geld spielt keine Rolle. Ich kann mir alles leisten“, antwortet Schröm.

„Nein. Es bedeutet: No limits. Du hast die schwarze Kreditkarte.“

Schröm guckt fragend.

„Du weißt nicht, was die schwarze Kreditkarte ist?“

Also. Die Black Card von American Express, erklärt der Vermögensverwalter, lässt sich nicht beantragen. Man wird zu ihr eingeladen. Sie kostet 5000 Euro im Monat. Sie hat kein Limit. Und sie beinhaltet Concierge-Service: Wenn man am Feiertag bei Harrods in London shoppen gehen will, tätigt man einen einzigen Anruf. Harrods wird aufgemacht.   „No limits also. Verstanden.“

„Und du hast Angst.“

„Angst? Aber ich habe doch die schwarze Kreditkarte!“

„Du hast Angst, dass dein Vermögen von drei Milliarden auf 2,7 Milliarden schrumpfen könnte. Du hast Angst, dass alle hinter deinem Geld her sind und sich damit davonmachen. Und du hast Angst, dass deine Kinder entführt werden. Eine ganze Anwaltskanzlei sorgt dafür, dass es keine Bilder von deinen Kindern im Internet gibt.“   Der Coach entwirft das Brüderpaar Otto und Felix, eine Legende: Nachkommen einer sehr bekannten Familie aus Deutschland. Der Großvater hat das Geld mit Stahl verdient. Vor einigen Jahren haben sie das Unternehmen verkauft und sind in die Schweiz gezogen, wo sie steueransässig sind. Ihre Anlagevehikel befinden sich in Luxemburg, Liechtenstein, Malta, Dubai und auf den Britischen Jungferninseln. Sie besitzen einen Jet, eine Südseeinsel.

Die beiden Halbbrüder verantworten das Investment-Geschäft. Das Erbe, die Substanz, wollen sie möglichst nicht anrühren. Sie haben bereits in Cum-Ex-Geschäfte investiert und würden gern wieder einsteigen. Sorgen sich aber um ihre Reputation. Otto, der Ältere, ist vorsichtig. Felix, der deutlich Jüngere, draufgängerisch. Er will dem älteren Bruder beweisen, dass er auch selbst Geld verdienen kann.

Jetzt gilt es, das richtige Hotel zu finden. „Was ist euer Budget?“, fragt der Coach.

Die Reporter haben ihre erste Lektion gelernt: „No limit!“

Guter Journalismus ist aufwendig und teuer.

Sie können helfen, ihn zu ermöglichen.

Die Suite im „Shangri La“, das sich in den oberen Stockwerken des ikonischen „Shard“-Gebäudes befindet, kostet 2500 Euro die Nacht. Es ist am unteren Limit dessen, was für die Glaubwürdigkeit ihrer Rollen vonnöten ist.

Vor dem fingierten Shoppingtrip in London müssen sie nur noch shoppen. Manschettenknöpfe, Einstecktuch, blaues Jackett und eine rote Hose von einem edlen hanseatischen Herrenausstatter für Otto, teure Markenklamotten für Felix. Ein schwarzes Kleid, eng und gut geschnitten, aber nicht zu sexy für ihre Assistentin. „Eine Assistentin ist gut“, sagt der Vermögensverwalter. „Aber kann sie die Rolle durchziehen?“   Munirah, die Frau eines Panorama-Kollegen, ist polyglott, spricht perfektes Businessenglisch. Die ideale Besetzung. Der Coach ist zufrieden, warnt nur: „Ihr dürft nicht zu freundlich zu ihr sein.“

London, 7. August 2018: Der Showdown

Klack klack klack. Munirahs High Heels kündigen Ram an. Sie öffnet die Tür. Der Mann, der mit ihr in die Hotelsuite tritt, hat ein sympathisches, offenes Gesicht, trägt ein blütenweißes Hemd, Krawatte mit Nadel und Manschettenknöpfe. Auf seiner Stirn glänzt Schweiß, obwohl die Klimaanlage 18 Grad anzeigt. Draußen sind es 31 Grad. Er gibt Munirah das dunkelblaue Jackett.

„Etwas zu trinken?“

„Mineralwasser, danke.“

Felix begrüßt ihn mit beiläufiger Handbewegung und telefoniert weiter am Handy. Munirah bittet Ram, sich zu setzen. Die beiden Herren hätten eine halbe Stunde Zeit, vielleicht 45 Minuten. „Fantastisch“, sagt Ram. Sie klopft an die Schlafzimmertür. „Ihr Gast ist jetzt da“, informiert sie Otto.

Ram sortiert seine Unterlagen, während Felix einen imaginären Mitarbeiter zusammenstaucht. „Wie oft muss ich noch erklären, dass das nicht geht?!“

Als er fertig ist, steht Ram sofort auf. Fester Händedruck. Die ganze Ausstrahlung: Weder zu unterwürfig noch zu selbstbewusst oder überheblich.

Felix fläzt sich auf die Couch. Etwas Smalltalk über die Hitze in London und der Schweiz.

Otto kommt aus dem Schlafzimmer. Er hat keine Zeit für Geplänkel. Setzt sich auf die Couch, Beine übereinandergeschlagen. Ram reicht die Präsentation herüber, hinter der die Reporter seit Monaten her sind. „Financing Presentation – Private and Confidential“ steht auf der ersten von 34 gebundenen Seiten.

Otto nimmt sie eher widerwillig entgegen, blättert kurz scheinbar gelangweilt und legt sie wieder auf den Glastisch.

Felix: „Schildern Sie uns doch mal Ihren beruflichen Hintergrund.“

Ram: „Natürlich. Es ist mir ein Vergnügen, Sie beide zu treffen. Also, ich begann direkt nach dem Studium bei einer kleinen Bank namens Maple.“

Maple: Die deutsche Tochter des kanadischen Bankhauses war einer der Haupt-Cum-Ex-Player.

Ram erzählt, wie er in Maples Londoner Niederlassung mitten in die Cum-Ex-Reise reingeworfen wurde. Spricht von einer „Feuertaufe“. Jedoch nach fünf Jahren „gab es einen Bruch“.

Bruch bedeutet: 285 Staatsanwälte, Steuerfahnder und Beamte des Bundeskriminalamtes durchsuchen das Bankhaus in Frankfurt. Maple soll den deutschen Fiskus mit Cum-Ex-Geschäften um 450 Millionen Euro betrogen haben.

„Dann hat sich Maple etwas aus dem Markt zurückgezogen.“

Zurückgezogen heißt: Behörden wollen das Geld zurückhaben. Maple kann aber die 450 Millionen nicht aufbringen. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) ordnet die Schließung der Bank an.

Ram zieht weiter zu einem Hedgefonds: Solo Capital von Sanjay Shah. „Da lernst du die Ecken und Kanten des Geschäfts kennen und baust Beziehungen auf, die ich weiter pflege“, erzählt Ram. Vier Jahre. Dann leitet er das Londoner Büro einer kleinen Hamburger Bank, die Shah sich für Cum-Ex-Trades kaufte und um Geld aus dem Dänemark-Raubzug zu waschen.

Es ist eine fatale Vita. Oder eine 1-A-Vita – je nachdem, was man will.

Felix: „Wir haben ja bei ihrem früheren Arbeitgeber in Hamburg in den Caerus Fund investiert.“

Ram: „Ah okay. Ich kenne den Caerus Fund.“ Caerus war ein Cum-Ex-Fonds. Für Ram bestätigt die Information, dass Otto und Felix Erfahrung mit den Steuerdeals haben. Er kann jetzt offen reden.

Ram spricht über seinen früheren Chef Sanjay Shah, ohne ihn beim Namen zu nennen: „Ich kann Ihnen dazu den Hintergrund schildern. Es lief einige Jahre richtig gut. Aber es waren zu viele Egos im Spiel. Und das war das Problem. Sie haben es immer bunter und bunter getrieben, bis alles platzte.“

 Felix: Man darf nicht zu gierig sein. Ram: Genau! 

Ram betont, er habe Solo Capital rechtzeitig verlassen, sechs Monate bevor der Hedgefonds wegen seiner Cum-Ex-Geschäfte ins Visier der Ermittler kam und auseinanderbrach: „Ich sah rechtzeitig die Zeichen der Zeit. Schauen Sie, ich habe Familie. Ich will mich nicht für den Rest meines Lebens immer umdrehen müssen und schauen, ob mir jemand folgt.“

Ram beschreibt, wie er nun in London neue Fonds startete. Wie er Banker und Händler zusammenbrachte, die Infrastruktur für den Aktienhandel aufbaute.

Ram: „In meinem Team sind Kollegen, mit denen ich schon früher zusammenarbeitete. Leute an den richtigen Stellen.“

Felix: „Leute aus London?“

Ram: „Ja.“

Otto meldet sich erstmals zu Wort. Besorgt um den Ruf der Familie will er wissen, ob sich darunter auch Aktienhändler befinden, gegen die in Deutschland ermittelt wird: „Sind das Leute mit einer gewissen Vergangenheit?“

Ram: „Oh nein. Das sind Leute mit Erfahrung. Aber keiner von den Jungs, die jetzt im Rampenlicht stehen.“

Felix: „Wir wollen vielleicht wieder in den Markt einsteigen, nachdem es sich etwas beruhigt hat. Mit den Problemen, die wir in Deutschland hatten und solchen Sachen.“

Ram: „Sicher, yeah, okay.“

Felix: „Was können Sie uns anbieten?“

Ram: „Vielleicht schauen wir mal in die Präsentation, wenn das für Sie Sinn ergibt?“

Auch Otto, der Ram die meiste Zeit nur schweigend fixiert hatte, greift sich jetzt das Dokument. Ram lächelt.

Ram: „Wir haben wahrscheinlich ungefähr sieben Märkte. Die beiden Spitzenreiter sind immer noch Frankreich und Italien.“

Er zählt die Länder auf, in denen er steuergetriebene Aktiengeschäfte anbietet. Neben Frankreich und Italien ist Spanien der Hauptmarkt. Norwegen, Finnland, Polen und die Tschechische Republik sind Beifang. Was mit Deutschland sei, will Felix wissen.

Ram: „Es gibt Leute, die Deutschland handeln. Verstehen Sie mich nicht falsch, das ist ihr gutes Recht. Aber ich persönlich würde noch ein Jahr damit warten.“

Die Reporter haben einen kurzen Moment Mühe, nicht aus ihrer Rolle zu fallen. Seit 2012 ist die Gesetzeslücke, die Cum-Ex ermöglichte, in Deutschland offiziell geschlossen. Für Cum-Cum gilt das Gleiche seit 2016.

Aber Ram erklärt, es gäbe Schlupflöcher und versichert: „Ja, es ist Cum-Cum. Das ist weniger aggressiv. Aber die deutschen Behörden nehmen immer noch Banken dafür hoch.“

Ram führt weiter durch seine Präsentation. Frankreich, Italien und Spanien sind dort mit extrem niedrigen Trading LevelsDas Trading Level beschreibt, wie die Steuergelder unter den Partnern aufgeteilt werden. Je niedriger das Level, desto mehr springt für Investoren heraus. aufgeführt.

Ein Wert in den niedrigen 90ern gilt als extrem profitabel. In Rams Präsentation liegt Frankreich bei 92,95 Prozent, Spanien bei 90,53 und Italien gar bei 89,50.

 Wie nennen Sie es jetzt, wenn nicht Cum-Ex? 

Felix: „Es ist immer noch marktneutral, oder?“

Ram: „Alles marktneutral.“

Marktneutral heißt: Es gibt keinerlei ökonomische Grundlage für das Geschäft. Der Gewinn entsteht nicht aus der Entwicklung der Aktien, sondern kommt aus den Steuern. Es ist das alte Spiel.

Felix: „Also, ich finde das interessant. Mir gefällt das.“

Otto äußert wieder Sorge um den Namen der Familie.

Ram versichert, alles zu tun, um den guten Namen zu schützen. Reputation sei auch für ihn der Schlüssel – für ein nachhaltiges Geschäft: „Es braucht nur einen dunklen Fleck auf der Weste, und du bist fertig. Deshalb seien Sie versichert: Mein Berufsethos beruht auf Integrität und Ehrlichkeit.“

Otto kommt noch einmal auf die auffällig niedrigen Trading Level zu sprechen: „Das sind nach unseren Erfahrungen Cum-Ex-Level, oder?“

Ram: „Nicht ganz. Wir wollen aggressiv sein, aber auch genug unter dem Radar bleiben. Schließlich wollen wir den Markt nicht in die Luft jagen.“

Otto: „Wie nennen Sie es jetzt, wenn nicht Cum-Ex?“

Ram: „Ich mag es nicht Cum-Ex oder Cum-Cum nennen. Ich würde es ‘event driven’, ereignisgesteuert, nennen. Oder Corporate Action Trading.“

Das Ereignis, um das es geht, ist der Dividendenstichtag. Alles wie gehabt. Der Unterschied, laut Ram: Früher sei dieselbe Aktie zwölf bis 20 Mal gehandelt worden. Die neuen Produkte seien weniger aggressiv, aber noch immer sehr profitabel.

Otto: „Komm schon, wir müssen nicht um den heißen Brei herumreden, das Geld kommt von der Steuer.“

Ram, grinst: „Ja, klar.“

Berlin, 28. September 2018: Das Puzzle

Das siebte und letzte Treffen der europäischen Journalisten vor der Veröffentlichung. Es ist eng geworden am Konferenztisch der CORRECTIV-Redaktion. 37 Reporter von 19 Medien sind inzwischen an Bord, mittlerweile auch Kollegen aus Finnland und Frankreich. Die Kollegen aus Schweden sind erst vor einer Woche dazu gestoßen, nachdem Akten zu einer großen schwedischen Bank auftauchten.

Die verschlüsselte Kommunikationsplattform, über die sie sich austauschen, ist in den vergangenen Monaten und Wochen übergeflossen mit Nachrichten und angehängten Dokumenten. Weil die Anfragen drei Wochen vor Veröffentlichung drastisch ansteigen, lässt die Datenbank mit den CumEx-Files sich manchmal für Stunden nicht durchsuchen.

Um eine Übersicht herzustellen, welche Banken an Cum-Ex- oder Cum-Cum-Deals oder vergleichbaren steuergetriebenen Geschäften beteiligt waren, hat eine Kollegin aus Dänemark ein Excel-Sheet voll roter und gelber Kästen vorbereitet.

Es ähnelt der Tabelle, die Hanno Berger und Paul Mora vorbereiteten. Die Cum-Ex-Meister listeten in ihren Spalten Länder auf, und markierten sie mit „funktioniert“.  Die auf den großen Bildschirm projizierte Excel-Tabelle der Journalisten listet Banken und Fonds auf. Über Stunden fragt die Dänin die Tischrunde ab und trägt Kreuze in die Tabelle ein. Ein „x“ für jede Bank, die erwiesenermaßen Cum-Ex oder Cum-Cum gemacht hat. Ein „(x)“ für die, die entsprechende Pläne hatten, aber wo der Beleg für die Durchführung fehlt.

Am Ende gibt es kaum eine Bank ohne „x“ oder „(x)“.

Die Excel-Tabelle dokumentiert den organisierten Griff in die Steuerkassen europäischer Staaten. Neben Deutschland sind nachweislich mindestens zehn weitere europäische Länder betroffen. Den genauen Schaden haben sie noch nicht ansatzweise erfasst. Konservativ errechnet beläuft er sich nach Recherchen der Journalisten auf 55,2 Milliarden Euro. Mindestens.

Es ist der größte Steuerraub in der Geschichte Europas.

Quelle: cumex-files.com… vom 22. März 2019

 

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