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Brasilien: Covid-19, kapitalistische Krise und Bonapartismus

Eingereicht on 9. April 2020 – 16:24

André Acier. Brasilien ist vielleicht das Land der Welt, wo die Covid-19-Pandemie das explosivste Gemisch mit einer politischen Krise bildet. Dabei werden die Streitkräfte immer mehr zum wichtigen und entscheidenden Faktor des Regimes. Sie bewahren ihre vermittelnde Rolle, ohne Bolsonaro zu entfernen, sondern beschränken sich inmitten der Krise, diesen in einer Art «institutionell-militärischem Bonapartismus» mit den Gouverneuren, dem Kongress und dem Obersten Gerichtshof in Einklang zu bringen.

Die gesamte Weltpolitik wird durch die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Pandemie erschüttert; davon ist gerade das Regime in Brasilien betroffen, wo für dieses Jahr bereits mit einem Null-Wirtschaftswachstum gerechnet wird. Kann ein von Rohstoffexporten abhängiges Land wie Brasilien angesichts des schrumpfenden Welthandels, der wirtschaftlichen Schwäche seines wichtigsten Handelspartners China und fallender Rohstoffpreise sein Gleichgewicht lange aufrechterhalten?

In diesem Zusammenhang verstärken sich die gesundheitliche und die politische Krise vor dem Hintergrund einer neuen globalen Rezession gegenseitig. Ihre Kombination führt jedoch nicht überall zu den gleichen politischen Ergebnissen. Während in Ländern wie China, Italien und Frankreich die autoritären Maßnahmen mit der Pandemie von den Massen ein vorübergehendes «politisches Moratorium» erhielten, führt in Brasilien die Entwicklung der Gesundheitskrise zu einer besonders schnellen Zuspitzung der politischen und sozialen Polarisierung. Das Ergebnis bleibt offen, ebenso wie der Weg zu extremen Entwicklungen, wo selbst die Präsidentschaft Bolsonaros droht, in den Strudel der Ereignisse zu geraten.

Brasilien hat bereits mehr als 14.000 bestätigte Fälle von Infizierten und hat bisher mehr als 800 Todesfälle registriert. Es ist nicht möglich, den genauen Verlauf der Pandemie und die Rhythmen, die sie der politischen Krise aufzwingen wird, kategorisch abzuschätzen. Die sanitarische Krise wird sich tendenziell verschärfen, international, wie auch in Brasilien, wo die Inkompetenz der Regierungen der Bundesstaaten wie auch des ganzen Landes ins Auge springen.

Angesichts dieses Szenarios entstehen Risse innerhalb des Regimes, vor allem bei den Streitkräften, die sich gegen Bolsonaros Leugnungslinie verwehren. Die Landesgouverneure versuchen auch, die Situation zu nutzen, um sich politisch gegen die Bundesregierung zu stellen.

Die Beweggründe für Bolsonaros Leugnungslinie

Jair Bolsonaro und seine Minister Paulo Guedes (Wirtschaft) und Mandetta (Gesundheit) führen mit feierlicher Ignoranz die Versuche an, die Pandemie trotz ihrer Schwere nicht zu bekämpfen, sondern zu verbergen. Sie gaukeln grosssprecherisch eine illusorische Anzahl Tests vor, wo doch die Bevölkerung immer dringender breite Tests benötigt. Sie lenken die Produktionsanlagen der grossen Konzerne nicht um für die Produktion von Beatmungsgeräten und -betten oder Intensivbetten. Sie machen sich nicht an die Rekrutierung von Gesundheitspersonal und Studierenden, die auf diesem Gebiet ausgebildet werden, geschweige denn denken sie an die Verstaatlichung und Zentralisierung des gesamten Gesundheitssystems, einschließlich des privaten und zwar ohne Entschädigung. Der Trennung von Tests und Quarantänen der Infizierten, wie sie von ausländischen Regierungen angewandt werden, setzen sie eine obskurantistische Leugnung entgegen, die dem traditionellen damit einhergehenden Klassenhass der rückständigen Bourgeoisie entspricht.

Bolsonaro beansprucht, für die Kleinstselbständigen, für die informellen Arbeiter und die prekären Jugendlichen zu sprechen, die ihre Energien in iFood, Rappi (1) und Uber erschöpfen. Reine Heuchelei. Sie sind die Opfer der Konterreform des Arbeitsrechts und des «Grünen und Gelben Dossiers», einem Lieblingsprojekt von Bolsonaro, mit dem die Schwarzarbeit legalisiert und die elementarsten Rechte der Arbeiter und Arbeiterinnen zerstört werden. Allen Arbeitenden machte Bolsonaro das Angebot der «Provisorischen Sistierung» (2), das den Unternehmern die Möglichkeit geben sollte, die Arbeitsverträge für vier Monate ohne Lohnzahlung auszusetzen. Er musste diese Absicht jedoch fallenlassen und legte einen weiteren Erlass vor, der die Kürzung des Arbeitstages und der Löhne bzw. die Aussetzung des Vertrags für zwei Monate mit Entschädigung durch die Arbeitslosenversicherung erlaubt.

Die Verkündung des Präsidenten vom 24. März war ein Symbol für den Hass auf die Arbeiterklasse: Bolsonaro verachtete das Leben der Lohnabhängigen und sagte, die Wirtschaft müsse zur Normalität zurückkehren, denn «das Grippchen wird bald vorüber sein». Eine hochnäsige Wette, denn die Pandemie gedeiht in den offenen Adern der von den Kapitalisten «perfekt organisierten» öffentlichen Gesundheitskatastrophe.

So verrückt es auch ist, es gibt Methode in der bolsonarischen Haltung. Sie wird von dem Wunsch geprägt, das Leben Tausender Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem Altar des kapitalistischen Profits zu opfern. Bolsonaro weiss, dass seine Situation noch schwieriger würde, wenn sich folgendes entwickeln würde: 1) ein wirtschaftlicher Zusammenbruch infolge des anämischen Wachstums, der neuen Weltrezession und der Folgen der Pandemie; 2) eine gesundheitliche Katastrophe in Brasilien, die eine große Zahl von Menschenleben fordern würde und deren Leugnung durch die Massen für die Tragödie verantwortlich gemacht würde. Die Streitkräfte sind besonders besorgt über diese Variante, und laut der spanischen Zeitung El País schliessen sie zwar die Absetzung des Präsidenten vorerst aus, arbeiten aber bereits an entsprechenden mittel- und längerfristigen Szenarien, wobei sie sich an den Vizepräsidenten Hamilton Mourão halten. Bolsonaro ist vor allem darum besorgt, die Wirtschaft ohne weitere Verzögerung zu reaktivieren, um nicht als politisches Opfer der Rezession und nicht als Opfer des Massensterbens durch Covid-19 abtreten zu müssen. So mögen die Arbeiterinnen und Arbeiter halt geopfert werden, aber die Kapitalisten können sich weiter bereichern.

Bolsonaro sah sich in einer neuen nationalen Verlautbarung am 31. März gezwungen, sich von seiner aggressiven Verleugnungsrhetorik zu verabschieden. Er sagte, dass die Pandemie «eine Realität» sei und dass seine Aufgabe darin bestehe, «Leben zu retten, ohne dass Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren», und forderte einen großen «nationalen Pakt mit allen Institutionen» (Gouverneure, Legislative und Justiz), um das Coronavirus einzudämmen. Dabei spielten auch externe und interne politische Einflüsse eine Rolle. Aus internationaler Sicht kam Bolsonaros Rede kurz nachdem auch Trump sich von seiner «ökonomistischen» Rhetorik zurückgezogen hatte, und angesichts des enormen Anstiegs der bestätigten Fälle und Todesfälle in den Vereinigten Staaten räumte er ein, dass das Land «zwei oder drei sehr düstere Wochen» erleben werde, mit einer Prognose von 100.000 bis 240.000 Toten, so dass er nicht erwarte, die Wirtschaft im April wieder in Gang bringen zu können. Angesichts der steigenden Zahl der Todesopfer in Brasilien musste Bolsonaro im Einklang mit der Politik des Weissen Hauses also eine Kehrtwende vollziehen.

Das brasilianische Militär war nicht unwesentlich an Bolsonaros Rückzieher beteiligt. In Übereinstimmung mit dem Pentagon verfolgte die Führung der Streitkräfte eine Politik der Schadensbegrenzung von Bolsonaros Leugnung und übertrug Walter Braga Netto, einem aktiven General und derzeitigen Stabschef, der für die Beziehungen zwischen der Exekutive und der Legislative verantwortlich ist, die «inoffizielle» Leitung der Bekämpfung der Pandemie in Übereinstimmung mit den WHO-Richtlinien. Der Gesundheitsminister, Luiz Henrique Mandetta, der eine enge Beziehung zu Bolsonaro unterhält, arbeitet eng mit Braga Netto zusammen. Die Politik des Militärs im Planalto entspricht der mässigenden Rolle der Streitkräfte in der Krise seit dem Amtsantritt von Braga Netto im Februar. Sie haben Bolsonaro informell von der Führung der Kampagne getrennt. Doch vorerst will ihn das Militär nicht von der Präsidentschaft entfernen: Er agiert weiterhin als Führer auf allen Ebenen der nationalen Politik. Sie versuchen, ihn im Amt zu halten, um die Spannungen innerhalb des Regimes nicht zu verschärfen und angesichts des Einflusses von Bolsonaro bei Offizieren und Soldaten keine Unzufriedenheit in den Kasernen gegen die Generäle zu erzeugen.

Die Instabilitäten in Bolsonaros Verhalten sind ein Anzeichen dafür, dass die Spannungen mit neuen Provokationen aufrechterhalten werden. Trotz der gegenwärtigen gemässigten Politik der Streitkräfte ist deren Stärkung im Regime Teil der Situation. Braga Netto akkumuliert Macht und kann dieses Element im Verlauf der Pandemie und der Wirtschaftskrise selbst zu seinem Vorteil nutzen, was das Szenario von Volksaufständen nicht ausschließt.

Die Gouverneure als weiterer Pol eines Putsches und das wachsende Gewicht des Militärs

Trotz der enormen Unzufriedenheit der Massen mit der Regierung handelt die Arbeiterklasse immer noch nicht als unabhängiges politisches Subjekt, als Alternative zu den Bossen und Bolsonaro. Dieser Zustand kann sich ändern, weil die Arbeiterklasse durch keine Mauer von ihrer Selbstorganisation getrennt ist; diese aber ist notwendig, um die Lösung der Pandemie Krise in ihre Hände zu nehmen. Aber diese Möglichkeit ist vorderhand nicht gegeben. Da die Arbeiterklasse noch nicht auf der politischen Bühne erscheint, steht die von Bolsonaro geführte Exekutive als ihrem wichtigstem «Gegner» den Gouverneuren der Bundesstaaten unter der Leitung von João Doria (PSDB), Gouverneur von São Paulo gegenüber. Dieses Lager wurde durch die Ablösung des Gouverneurs Ronaldo Caiado (DEM von Goiás), einem Gefolgsmann Bolsonaros, verstärkt.

Die Spannungen zwischen der bolsonarischen Bewegung und den Gouverneuren waren während der Polizeimeuterei im Bundesstaat Ceará im Nordosten des Landes voll entflammt, als der Präsident der Republik mit seinem Gefolge offen den Angriff auf die Hierarchie und die «Mobilisierung» der Polizei mit Milizmethoden zur Konfrontation mit den Gouverneuren propagierten und so versuchten, in der Region politisch voranzukommen. In der Coronavirus-Krise sahen sich die Gouverneure veranlasst, einen Kontrapunkt zur nationalen Regierung zu setzen, indem sie der Politik der «Rückkehr zur Normalität» eine Rhetorik der «Sorge um die Bevölkerung» entgegensetzten, die sich in der Verteidigung der Quarantäne und der sozialen Isolation äusserte.

Man muss daran erinnern, dass einige wirkliche Machtfaktoren, die die Grundpfeiler des institutionellen Putsches waren, im Umfeld der Gouverneure angesiedelt sind. Der Oberste Gerichtshof (STF), der die erste Geige des Justizautoritarismus spielt, verlor die Geduld mit Bolsonaro und verband sich mit den Gouverneuren. Auch die Legislative, an deren Spitze der Abgeordnete Rodrigo Maia steht und die die Hauptkraft hinter den neoliberalen Gegenreformen wie der schändlichen Rentenreform bilden, schloss sich den staatlichen Exekutivorganen an. Die Putschpresse (Estadão, Globo, Folha de S. Paulo) ist der Chor der Stimmen in diesem Bereich des bürgerlichen Regimes.

Wie wir bereits sagten, wurden die Streitkräfte mit der Umwandlung von Braga Netto vom «Stabschef» zum «operativen Präsidenten» während der Pandemie zu einem wichtigen Faktor des Regimes. Dies bildet den bisherigen Höhepunkt der zunehmenden Bonapartisierung (3) des institutionellen Regimes; dabei wurden nach dem Putsch aktive Armeeoffiziere in Positionen im nächsten Umfeld von Bolsonaro gebracht. Sie bewahren Bolsonaro zwar vor dem Verlust des Präsidentenamtes, entfernen ihn jedoch aus dem unmittelbaren Krisenmanagement, indem sie die Linie der Gouverneure übernehmen (die von der WHO vorgeschlagen und von den mit dem Establishment der Demokratischen Partei der USA verbundenen Agenturen bestimmt wurde). Die Führung der Streitkräfte bewahrt ihre mässigende Macht, ohne Bolsonaro zu entfernen, sondern indem sie ihre Macht inmitten der Pandemie begrenzt und dadurch mässigt, dass sie sich auf die Gouverneure, den Kongress und den Obersten Gerichtshof abstützt. Dies sind allesamt reaktionäre Persönlichkeiten und Institutionen, die sich aktiv für den institutionellen Staatsstreich von 2016 eingesetzt haben – und sind Teil einer Art von «institutionell-militärischem Bonapartismus».

Die oberste Führung der Streitkräfte machte mit der Erklärung des Armeechefs Edson Leal Pujol, der bekräftigte, dass der Kampf gegen das Coronavirus vielleicht «die wichtigste Mission unserer Generation» sei, ihre Distanz zur Rhetorik von Bolsonaro deutlich. Bolsonaro wird auch von Reservegeneral und Vizepräsidenten Hamilton Mourão gegenüber der Armeeführung  zurechtgewiesen: Mourão «korrigierte» den Inhalt dessen, was von Regierungsseite verfochten wird, indem er auf die Richtlinien der WHO verwies, und zeigte sich offensichtlich unzufrieden mit Bolsonaros konfrontativen Äusserungen gegen die Gouverneure, was dem Präsidenten in einem Interview mit dem Fernsehsender Band sogar das Etikett «grob» einbrachte.

All dies ist Ausdruck der Interessen der herrschenden Klasse in all ihren heterogenen Interessen, die sich dem Verhalten der Regierung angesichts der Pandemie und der Ausrichtung der Unternehmer in der Industrie und im Einzelhandel, die Bolsonaro unterstützen, widersetzt. Auf internationaler Ebene stimmt sich diese Fraktion mit der Politik der Demokratischen Partei in den Vereinigten Staaten ab. Abhängig von der Entwicklung der Krise könnte die derzeitige Politik dieses Flügels des Regimes von der Forderung, Bolsonaro solle sich «von der Krisenbewältigung zurückziehen», zu einer «Zurücknahme der Präsidentschaft» übergehen. Die nächsten Wochen werden diese Frage wahrscheinlich klären.

Daniel Matos analysierte die Dynamik dieser Konflikte und schrieb im Mai 2019 in La Izquierda Diario:

Die Entwicklung der Kämpfe innerhalb des Putschregimes skizziert zwei verschiedene Projekte des Bonapartismus: ein «imperiales Präsidialprojekt» von Bolsonaro, das die Exekutive als eine absolut vorherrschende Institution des Regimes und sogar als messianisch zu erheben sucht, der alle anderen «Machtfaktoren» untergeordnet werden sollten, wobei Lava Jato (4) und «die Straße» als Disziplinierungsinstrumente benutzt werden sollten. Und ein «institutionelles bonapartistisches» Projekt, bei dem die Putschistenführer der alten traditionellen Parteien (die jetzt von der DEM hegemonisiert werden und den Kongress als «Gravitationszentrum» haben) in Übereinstimmung mit den anderen «Machtfaktoren» (STF, grosse Medien und ein Teil der Führung der Streitkräfte) versuchen, die Macht von Bolsonaro gegenüber den anderen Institutionen, die am Putsch beteiligt waren, zurückzubinden.

Seitdem haben Ereignisse wie das Scheitern der Justizoperation Lava Jato und die Krise wegen der Beteiligung des Bolsonaro-Clans an der Ermordung von Marielle Franco (5) die Exzesse des präsidialen Bonapartismus innerhalb der Institutionen gestoppt, während sie das politische Regime mit dem Eintritt aktiverer Offiziere der Streitkräfte in hohe Regierungspositionen weiter nach rechts geführt hat. Unter dem Konflikt zwischen dem bolsonarischen Präsidentenbonapartismus und dem institutionellen Bonapartismus mit wachsendem Gewicht des Militärs ändert sich die Zusammensetzung der Kräfte innerhalb des neuesten bürgerlichen Projekts. Gleichzeitig übertrug die Legislative, die 2019 an der Spitze dieses Putschpols stand, zumindest vorübergehend die Führung an einen Teil der Gouverneure, unterstützt von der obersten Führung der Streitkräfte. Es handelt sich um zwei verschiedene Projekte, die auf dem Erbe des institutionellen Putsches und seiner reaktionären Reformen basieren.

Ungeachtet der unterschiedlichen Organisationsmethoden der Quarantäne, ob die «horizontale» die Mobilität stärker einschränkt oder die «vertikale» die Älteren isoliert, sind Bolsonaro und die Gouverneure trotz ihres harten Konfliktes zwei Putschisten, die versuchen, die Kosten der Pandemie auf die Arbeiterklasse abzuwälzen. Es gibt in keinem dieser reaktionären bürgerlichen Lager eine Möglichkeit einer fortschrittlichen Lösung für die Arbeiterklasse, die am meisten unter den wirtschaftlichen und gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie leidet.

Der Kampf zur Sicherung aller Ressourcen, die Leben retten und den Auswirkungen der Pandemie begegnen können, kann nur gedeihen, wenn er von den Arbeitern und Arbeiterinnen selbst gegen Bolsonaro, die Gouverneure und die Kapitalisten in die Hand genommen wird.

«Alle vereint gegen Bolsonaro»?

Bolsonaro gemeinsam mit den Gouverneuren und der Legislative und dem gesamten Putschistenlager des institutionellen Bonapartismus zu bekämpfen, bedeutet also, jedes Überbleibsel der Klassenunabhängigkeit im Namen einer «breiten Front gegen Bolsonaro» aufzugeben; dies würde nur den staatlichen Autoritarismus gegen die ausgebeuteten und unterdrückten Sektoren weiter stärken. Massnahmen der Gouverneure, wie Quarantänen ohne Tests – die ihre Wirksamkeit zunichtemachen -, die Weigerung, Masken, Betten und Atemschutzgeräte zu garantieren, vereinen alle Fraktionen der Bourgeoisie mit Bolsonaro in ihrer Verachtung der Bevölkerung. Ein echter Kampf würde die Trennung von allen bürgerlichen Fraktionen voraussetzen.

Indem sie sich von der Politik Bolsonaros unterscheidet, reiht sich die PT als «linker Flügel» ein in die von den Gouverneuren betriebene Politik des institutionellen Bonapartismus, unterstützt vom Militär, das, wie Lula sagt, «mehr Verantwortungsbewusstsein» zeigt als die föderale Exekutive. Lula lobt über soziale Netzwerke den rechten Gouverneur João Doria, was in der Presse weithin als eine Bewegung zur Isolierung von Bolsonaro publik gemacht wurde. Die PT ist staaytstragend, auch wenn es keine radikalen Alternativen zu dem gibt, was Bolsonaro tut. In den vier Staaten des Nordostens, die sie regiert, weigert sich die PT, durchgreifende Massnahmen zu ergreifen, angefangen bei Massentests, der Zentralisierung des Gesundheitssystems oder der Verhinderung von Entlassungen, die die Bevölkerung dieser Region weiterhin plagen. Diese Politik der PT kommt in der Linie der von ihr beeinflussten Gewerkschaftsdachverbände, der CUT und des CTB (6), noch deutlicher zum Ausdruck. Diese Gewerkschaftsdachverbände unterzeichneten ein gemeinsames Communiqué, in dem sie fordern, dass «der Kongress die führende Rolle» im Kampf gegen die Pandemie übernimmt und «mit allen Gouverneuren, unabhängig von ihrer politischen und ideologischen Zugehörigkeit» zusammenarbeitet, obschon diese sich bislang offensichtlich weigerten, ernsthafte Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie einzuleiten, ganz zu schweigen von der Unmöglichkeit einer unabhängigen Politik.

Die PSOL (7) veröffentlichte eine Resolution der nationalen Leitung, in der sie «den Rücktritt von Jair Bolsonaro» forderte und vor der Notwendigkeit warnte, «dass die Ausstiegsbewegung auf demokratische Weise, auf breiter Basis und mit Unterstützung der Bevölkerung» erfolgen muss. Das Manifest, das die PSOL zusammen mit der PT und anderen Parteien unterzeichnet hat, macht deren Ausrichtung klarer: In der Praxis ist dies eine Unterstützung für General Hamilton Mourão, den Vizepräsidenten, bei der allfälligen Übernahme der Präsidentschaft (entweder wegen der Amtsenthebung Bolsonaros oder wegen seines Rücktritts). Das bedeutet nicht nur den Verzicht auf jede noch so minimale unabhängige Lösung, sondern sogar auf jeden demokratischen Anstrich, und die Übergabe der Regierung an einen ultra-reaktionären General, der am Jahrestag des Militärputsches das diktatorische Regime Brasiliens (1964-1985) lobte. Unmittelbar kanalisiert diese Politik das gerechte Gefühl der Ablehnung gegen Bolsonaro in Richtung institutioneller Lösungen, die das Terrain des «institutionellen Bonapartismus» stärken, wie aus der in der offiziellen Verlautbarung der PSOL enthaltenen Aufforderung hervorgeht, «die Anstrengungen der Gouverneure zu unterstützen», in einer «breiten Einheit», die sogar Putschparteien (wie REDE) einschließt, solange sie nur Bolsonaro ablehnen. Die Grundvoraussetzung dafür, dass die PSOL irgendeine Rolle bei der Verteidigung der Arbeiterklasse in dieser Pandemie spielen kann, ist, dass sie mit dieser Politik der Unterwerfung unter Mourão, unter die Gouverneure und den institutionellen Bonapartismus bricht.

Der beste Weg, den Bonapartismus anzugreifen, ist die energischste Antwort auf das Coronavirus, die auf einer unabhängigen Politik beruht. Warum fordern die Parlamentarier der PSOL nicht mit dem Gewicht ihrer Parlamentsitze jetzt massive Tests, die Einstellung von Arbeitskräften für die öffentliche Gesundheit, die Umstellung der Industrie, die über die angemessene Technik zur Herstellung von Medizin- und Krankenhausbedarf im Dienste der Bevölkerung verfügt? Die Art und Weise, «die Katastrophe zu bekämpfen, die uns bedroht» (um von Lenin mehr als nur den Titel eines Pamphlets zu übernehmen, wie es die MES (8), die interne Strömung der PSOL, tut), bedeutet, zur Entwicklung der Selbstorganisation der Arbeiterinnen und Arbeiter beizutragen, indem man Massnahmen priorisiert, die auf die allgemeine Kontrolle der Arbeiterinnen und Arbeiter über alle wirtschaftlichen und gesundheitspolitischen Initiativen, die die Regierungen auf den Weg bringen, abzielen.

Arbeiterkontrolle und der Kampf gegen die Pandemie

Der wirksamste Weg, um zu verhindern, dass Bolsonaro, das Militär und die Putschistenführer aller Coups weiterhin die Auswirkungen der Pandemie durch die Arbeiterklasse tragen lassen, besteht darin, ein Notprogramm zu formulieren, das sofort alle verfügbaren und angesammelten Ressourcen der Kapitalisten für den Kampf gegen Covid-19 einsetzt.

Es gibt fast unbegrenzte Ressourcen: Schauen wir uns nur die Milliarden an, die in die Banken und Unternehmen fließen. Aber die Kapitalisten und ihre Regierungen, die für den erbärmlichen Zustand der Gesundheitsinfrastruktur verantwortlich sind, wollen ihre Profite über unser Leben erhalten. Deshalb ist die Arbeiterkontrolle über die Produktion und Verteilung von medizinischem Material und Krankenhausbedarf eine grundlegende Voraussetzung.

Die Ankündigung von 23 Millionen Tests, die das Gesundheitsministerium von Bolsonaro gemacht hat, ist weiterhin ein Bluff, und Dorias Politik von 2.000 pro Tag ist nicht nur unzureichend, sondern auch immer noch lediglich leere Worte; selbst die Tests, die bereits durchgeführt werden, brauchen manchmal mehr als eine Woche, bis das Ergebnis vorliegt. Wir fordern, dass die Tests massiv sind, d.h. dass sie an allen Personen getestet werden, die irgendwelche Symptome haben, und, dem «Virusweg» folgen. Das heisst, auch an allen, die in irgendeiner Beziehung zu den Symptomen standen. Dies umfasst alle Personen, die sich testen lassen wollen, weil sie mit jemandem mit Symptomen in Kontakt gekommen sind, ohne einen Test zu verlangen, und dass in Stadtvierteln und Regionen, in denen die Verbreitung groß ist, massive und unterschiedslose Tests vorteilhafter sein können). Zusätzlich muss das Gesundheitspersonal und alle Arbeiterinnen und Arbeiter getestet werden, wie weiterhin arbeiten (von denen es viele gibt und zu denen viele Menschen ohne Symptome gehören) oder die an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.

Wir müssen für das kämpfen, was Bolsonaro und die Gouverneure leugnen: die Zentralisierung des gesamten Gesundheitssystems, einschließlich der privaten Gesundheitsfürsorge (von den großen Laboratorien bis hin zu den Krankenhauskliniken und Privatkrankenhäusern), unter der Kontrolle von Arbeitern und Arbeiterinnen und Spezialisten, um alle notwendigen Einrichtungen zur Aufnahme der eventuell Infizierten, die ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, zu gewährleisten: die Beschlagnahme aller fehlenden Zimmer (Hotels usw.) und die Bereitstellung von Beatmungsgeräten (durch Notfallherstellung, Einfuhr usw.). Es ist dringend notwendig, alle arbeitslosen Gesundheitsfachkräfte und Medizinstudenten, die bereits einen Abschluss haben, einzustellen, um den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden.

Weder Bolsonaro noch die Gouverneure wollen die Profite der Unternehmer antasten, und sie erlauben ihnen, weiterhin Waren zu produzieren, die im Kampf gegen das Coronavirus und des Alltagbedarfs nutzlos sind, während die Arbeiter und Arbeiterinnen der Infektion schutzlos ausgeliefert werden. Das muss ein Ende haben. Industrien, die nicht in der Lage sind, nützliche Güter für die Bevölkerung zu produzieren, müssen geschlossen werden, und alle entlassenen Arbeiter ohne Einkommen (sowie Selbständige und der informelle Sektor) müssen ihr volles Gehalt auf Kosten der Gewinne der Kapitalisten und mindestens ein «Quarantänegehalt» von 2.000 Reals (etwa 375 Dollar) für die Dauer der Krise erhalten.

Die Organisationen der Arbeiterklasse planen, mit einem von den verschiedenen kapitalistischen Fraktionen unabhängigen Programm in diese Krise einzugreifen. Die Gewerkschaftsdachverbände müssen aus ihrer passiven Disziplin des institutionellen Bonapartismus herauskommen und ernsthaft für diese Notmaßnahmen kämpfen. Nur das Gesundheitspersonal, die Gewerkschaften und die Volksorganisationen können an der Spitze einer Notstandsregierung stehen, statt all dieser Putschisten, die unserer Gesundheit und unseren Arbeitsplätzen wenig Aufmerksamkeit schenken.

Eine solche Notstandsregierung hätte als eine ihrer zentralen Aufgaben bei der Durchführung der notwendigen Massnahmen zum Schutz des Lebens von Millionen von Menschen die Einberufung und Organisation einer freien und souveränen Verfassungsgebenden Versammlung, in der alle legislativen, exekutiven und judikativen Befugnisse konzentriert wären und in der die gesamte Umgestaltung des Landes demokratisch diskutiert werden könnte, um nicht nur auf die unmittelbare Frage der Gewährleistung von Arbeitsplätzen und Leben zu antworten, sondern auch auf alle strukturellen Fragen, die vorderhand die überwältigende Mehrheit zu einem Leben im Elend verurteilen.

Das ist der beste Weg, um den legitimen Volkshass gegen die Regierung zu kanalisieren und Bolsonaro, das Militär und alle Putschistenführer herauszufordern. In diesem Kampf werden die Marxisten die Entwicklung selbstorganisierender Organe fördern, etwas, das in der Erfahrung der Arbeiterkontrolle eine unvermeidliche Grundlage für das Verständnis der Notwendigkeit eines Bruchs des Kapitalismus durch eine Arbeiterregierung ist.

Quelle: laizquierdadiario.com… vom 8. April 2020; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

Fussnoten (aus der englischen Version unter leftvoice.org…)

1) iFood und Rappi sind App-basierte Lieferdienste.

2) Bei der Carteira Verde Amarela vom November 11, 2019, eine formell Provisorische Verfügung No. 905, handelt es sich um eine Deregegulierung des Brasilianischen Arbeitsrechts, das den Unternehmern die Schaffung neuer prekarisierter Jobs ermöglichte, bis zu 20 Prozent ihrer Belegschaft, für Arbeitskräfte zwischen 18 und 29 Jahren. Den Unternehmern wurden die Lohnbeiträge für diese Jobs erlassen, mit denen die Sozialversicherungen finanziert werden sollten. Zudem erhielten sie eine 75%ige Reduktion bei den obligatorischen Sparbeiträgen, mit denen für die Lohnabhängigen allfällige Arbeitslosigkeitszuschüsse finanziert werden sollten. Auch wurden jegliche Bussen abgeschafft, falls Unternehmer Lohnabhängige entlassen.

3) Der Begriff, aus Karl Marx’s Arbeit von 1852 «Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte» bezieht sich auf einen autoritären Führer, der seine Macht auf sich bekämpfende soziale Klassen stützt, die aber nicht in der Lage sind, aus ihren eigenen Reihen eine Führung für alle durchzusetzen. In diesem Zusammenhang setzt sich dann ein «Bonaparte» durch, der als Schiedsrichter von oben wirkt, getrennt von der herrschenden Klasse und irgendwie auch unabhängig von deren Institutionen. Ein bonapartistischer Führer stützt sich oft auf das Militär ab und strebt nach Autonomie der Exekutive gegenüber anderen staatlichen Bereichen.

4) Operação Lava Jato (Operation Autowaschen, da es zuerst um die Aufdeckung eines Falles im Umfeld einer Autowaschanlage in Brasilia handelte)  ist eine auf Ebene des Bundesstaates laufende Untersuchung gegen Korruption, die im März 2014 begonnen wurde. Zuerst wurden vor allem Geldwaschvergehen untersucht, dann wurden die Untersuchungen auf Korruptionsvorwürfe im staatlichen Erdölkonzern Petrobras ausgeweitet  und dann urde die Kampagne instrumentalisiert für den institutionellen Putsch mit Anklagen und Verhaftung von bekannten politischen Persönlichkeiten wie den Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva. Spätere Enthüllungen vom Juni brachten die Motive dieser Kampagne ans Tageslicht: dass die Arbeiterpartei von Lula die Wahlen 2018 verlieren würde. Dies geschah dann auch und Bolsonaro kam an die Macht.

5) Marielle Franco, eine Stadträtin von Rio de Janeiro aus der PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit) und eine scharfe Kritikerin der Brutalität der Polizei und der Auftragsmorde der Regierung, wurde am 14. März 2014 auf offener Strasse auf der Fahrt zu einer Veranstaltung erschossen. Ein Jahr später wurden zwei ehemalige Mitglieder der Militärpolizei verhaftet und des Mordes beschuldigt. Sie standen in Verbindung zu Carlos Bolsonaro, dem Sohn des Präsidenten. Sie erscheinen auch auf Fotos mit dem Präsidenten. Einer von ihnen war sogar sein Nachbar in einem Komplex von Luxuswohnungen in Rio de Janeiro.

6) Der Central Única dos Trabalhadores (CUT, Vereinigter Arbeiterdachverband) ist der grösste nationale Gewerkschaftsverband Brasiliens. Der Central dos Trabalhadores e Trabalhadoras do Brasil (CTB, Dachverband der männlichen und weiblichen Lohnabhängigen Brasiliens) steht der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB) nahe.

7) Der Partido Socialismo e Liberdade (PSOL) ist ein breites «progressives»  Bündnis in Brasilien, das eine Anzahl von Tendenzen umfasst, einschliesslich solcher, die sich selbst als «der äussersten Linken» zurechnen.

8) Der Movimento Esquerda Socialista (MES, Sozialistische linke Bewegung) ist eine der sich selbst als trotzkistisch bezeichnenden Strömungen innerhalb des PSOL.

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