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Dahmers Wiederherstellung der Freud’schen Psychoanalyse

Eingereicht on 13. Juni 2019 – 11:50

Jakob Schäfer. Im März 2019 erschien Helmut Dahmers „Freud, Trotzki und der Horkheimer-Kreis“[1], in dem es nicht nur um das besondere Verhältnis der „Frankfurter Schule“ zur Freud’schen Psychoanalyse geht.

Der vorliegende Band von Dahmers Texten gliedert sich mit seinen insgesamt siebzehn Beiträgen in drei Hauptteile. Außer sechs Beiträgen, die speziell für diesen Band geschrieben wurden, gehen die Texte im Wesentlichen auf die letzten zwei bis sieben Jahre zurück.

Wie schon in den Vorgängerbänden[2] expliziert Dahmer sehr überzeugend, dass Psychoanalyse keine Naturwissenschaft ist. Sie ist vielmehr eng mit der Anthropologie, der Geschichts- und Politikwissenschaft und in ganz besonderem Maß mit der Soziologie verbunden. Speziell mit letzterer ist die Berührung groß, ohne dass wir freilich die Unterschiede der Untersuchungsgegenstände und auch der -methoden unterschlagen dürfen. Über lange Zeiten wurde die Freud’sche Theorie deformiert und bis heute ihres revolutionären Gehalts beraubt. Dahmers Ehrgeiz ist es seit langem (und nicht nur in den Jahren, in denen er die Zeitschrift Psyche als Redakteur betreute; Mitscherlich hatte ihm diese Stelle angetragen), die Freud’sche Theorie zu restituieren. Zur Erklärung ihrer Ziele (und gegen ihre Medizinalisierung) schreibt er in dem vorliegenden Band:

„Joseph Breuer und Sigmund Freud sprengten den Rahmen der naturwissenschaftlichen Medizin ihrer Zeit, indem sie die befremdlichen hysterischen Phänomene (somatische Leiden ohne organischen Befund) nicht als ‚Simulationen‘ abtaten, sondern ihre Patientinnen […] wie ihre Patienten als Partner und Auskunftsgeber ernstnahmen und sich ‒ auf der Grundlage einer ‚Übertragung‘ ‒ auf einen anamnestischen Dialog mit ihnen einließen. Freud wurde darüber […] von einem Objekt- zu einem Subjektwissenschaftler, genauer: zu einem Kritiker der ‚zweiten‘ oder der Pseudo-Natur der lebens- und sozialgeschichtlich konstituierten Institutionen. Mit der Entdeckung, dass die Übermacht der neurotischen Produktionen (oder ‚Privatreligionen‘) der von der Domestizierungs-Kultur überforderten Individuen ebenso wie diejenigen der kulturellen Institutionen vom Typus der etablierten Kollektiv-Religionen darauf beruht, dass deren Bildungsgeschichte vergessen (oder ‚verdrängt‘) worden ist, wurde die Psychoanalyse zur Sozialwissenschaft.“ (S. 17)

Im Rahmen seiner Wiederherstellungsarbeit macht Dahmer unter anderem die Ähnlichkeit der Herangehensweisen von Marx und Freud deutlich. Beide sind historisch vorgegangen und beide verfolgen sie ähnliche (revolutionäre) Ziele, wobei Marx sich auf die Analyse der Produktionsverhältnisse konzentriert. Aber auch Freud hat die gesellschaftlichen Institutionen im Visier, denn sie sind verantwortlich für die verinnerlichten sozialen Zwänge, die etwa zu Hysterie und Zwangsneurosen führen. So ist Freud auch ein konsequenter Kritiker der überkommenen und systemstabilisierenden Kultur (im Besonderen der Religion), aus der es auszubrechen gilt.

Das Scheinbare der „Naturgegebenheiten“ vorhandener Institutionen aufzudecken, ist ihr jeweiliges Ziel. Marx macht dies beispielsweise mit der Erklärung des Fetischcharakters der Ware, Freud spürt der Entstehung psychischer Auffälligkeiten nach und deckt ihre gesellschaftlichen Ursachen auf. Beide, Marx und Freud, zielen (Marx bewusster als Freud) auf die Überwindung einer obsolet gewordenen Gesellschaftsordnung. So sind ihre Lehren allen autoritären Herrschaftssystemen (am meisten dem NS-Regime und der Stalindiktatur) höchst zuwider und müssen unterdrückt (und ihre Träger gegebenenfalls vernichtet) werden.

Psychoanalyse nicht im luftleeren Raum

Psychoanalyse ist nicht ohne gesellschaftliche Positionierung möglich. Wohin das andernfalls führt, zeigt uns die Anpassung der nicht aus Hitlerdeutschland geflohenen Psychologen, die die Psychotherapie als gesellschaftlich losgelöste (und instrumentalisierte) Technik betrieben. Speziell die beiden ersten Texte dieses Buches sollten zur Pflichtlektüre für alle Psychoanalytiker und Psychotherapeuten werden. Denn hier wird nicht nur die ursprüngliche Freud’sche Theorie restituiert, sondern auch die Verkommenheit jener Psychologen offengelegt und angeprangert, die sich in der NS-Zeit angepasst haben und nicht emigrierten. Dazu gehört vor allem die unter den Psychologen lange Zeit so verehrte Autorität von Carl Müller-Braunschweig. Aber auch sein Verteidiger Eickhoff gibt ein jämmerliches Bild ab, wie Dahmer überzeugend nachweist. Gegen die Reduktion der Freud’schen Analysemethode muss auch heute noch (oder wieder) angekämpft werden.

Die entgegengesetzte Haltung nahmen die emigrierten Psychologen ein, gleich den Sozialwissenschaftlern des Instituts für Sozialforschung, also dem Kreis um Max Horkheimer. Deren spezifisches Anliegen war es, die Erkenntnisse von Marx und jene von Freud in einer neuen Theorie zu verbinden. 1931, also noch vor der Emigration, führte Horkheimer, der langjährige Leiter des Instituts, in einem Vortrag aus: „Mit diesen Ausführungen habe ich Ihnen nicht mehr als einige Gesichtspunkte zur Frage nach dem logischen Ort der Psychologie in einer Geschichtstheorie, die der gegenwärtigen Situation entspricht, geben können.“ Dahmer führt dazu aus: „ In Wahrheit hatte er darin die beiden Projekte umrissen, die in den folgenden Jahrzehnten zum Spezifikum der ‚Kritischen Theorie‘ ‒ beziehungsweise der (später so genannten) ‚Frankfurter Schule‘ ‒ wurden: die (kritische) Adoption der Psychoanalyse (also das, was Adorno später die ‚Wendung aufs Subjekt‘ nannte) und die Weiterführung der (Marxschen) Kritik der Hegelschen Geschichtsphilosophie und Logik.“ (S. 93)

Ein weiterer Schwerpunk dieses Sammelbandes ist das (in Teil II) aufgedröselte, schwierige Verhältnis des Horkheimer Kreises zu den oppositionellen Kräften innerhalb der kommunistischen und der sozialistischen Bewegung der 1930er und 1940er Jahre. Speziell die Parallelen in den Analysen Trotzkis und denen einer ganzen Reihe von Vertretern des Horkheimer-Kreises ist augenfällig. Aber aus Sicherheitsgründen vermied es das Institut (1923 gegründet und nach der Machtergreifung Hitlers nach New York emigriert) peinlich genau, sich überhaupt mit einer politischen Strömung zu solidarisieren oder gar zu identifizieren.

An zwei Fragen zeigten sich – wie Dahmer gut herausarbeitet ‒ die Analysen von Trotzki schärfer und klarsichtiger (und vorausblickender) als diejenigen aller anderen Strömungen der sozialistischen/kommunistischen Bewegung wie auch des Instituts für Sozialforschung: die präzise Erfassung des Charakters der faschistischen Bewegung und die Analyse des stalinistischen Regimes in der Sowjetunion (das in den 1930er Jahren auch die letzten Reste der revolutionären Führung von 1917/18 liquidierte). Das Institut vermied es sogar, die konterrevolutionäre Entwicklung in der Sowjetunion eindeutig zu verurteilen (u. a., weil es fast bis zuletzt (genauer bis 1939) in ihren Reihen auch einige Anhänger Stalins gab). Die politischen Schwächen des Instituts (v. a. die fehlende Klarheit in Sachen Theorie und Praxis) werden im dokumentarischen Anhang des Buches (S. 480 ff) in einem Text von Walter Held (Pseudonym für Heinz Epe, Sekretär Trotzkis im norwegischen Exil) sehr gut auf den Punkt gebracht. Horkheimer gab seinerzeit unumwunden zu (auf S. 492 dokumentiert), dass Held damit „ins Schwarze“ getroffen hat.

Neben vielen anderen Themen geht Dahmer auf die besondere Affinität von Walter Benjamins Anschauungen mit denen Trotzkis ein. Benjamin hatte einige von Trotzkis Büchern gelesen und war von ihnen begeistert. Trotzki hatte intensiv die neuere Geschichte, im Besonderen die Geschichte der Revolutionen, studiert und Benjamin entwickelte eine kritische Theorie der Geschichte. Beide waren sie versierte Literaturkritiker und beide traten sie für eine freie Kunst ein (und gegen das Hirngespinst einer „proletarischen Literatur“[3]).

Der III. und nicht weniger interessante Hauptteil des Bandes dreht sich um „Ideologiekritik gestern und heute“. „Xenophobe und Verschwörungstheorien sind vor allem deshalb en vogue, weil sie den Erniedrigten und Beleidigten, die an ihrer Wut zu ersticken drohen, die Chance einer Triebabfuhr eröffnen. Sie alle haben ja eine Rechnung zu begleichen, und die Doktrin sagt ihnen, mit wem.

Damit sind wir bei den Sphinxrätseln unserer Gegenwart. Eines davon ist die Persistenz des Antisemitismus und des verallgemeinerten Antisemitismus, der gewaltträchtigen Xenophobie. Institutionen werden in langwierigen Entkulturationsprozessen in ihren künftigen Trägern verankert; sie verwachsen mit ihnen. Die Institution bedarf ihrer Träger zu ihrer Erhaltung, und ihre Träger bedienen sich ihrer wie eine Prothese, einer anorganischen Ergänzung ihres Leibes. Kein Wunder, dass die in ihrem Gehäuse Lebenden die Institutionen, die Hegel eine ‚zweite Natur‘ nannte, beständig mit ‚erster Natur‘ verwechseln.“ (S. 392).

In diesem Hauptteil verbindet Dahmer in mustergültiger Weise Erkenntnisse (und Erkenntnismethoden) der Psychoanalyse mit denen der politisch engagierten Soziologie. Der Beitrag zum „Antisemitischen Dispositiv“ verdeutlicht die Austauschbarkeit der Hassobjekte. In „Migranten, Flüchtlinge, Djihadisten“ erklärt Dahmer, wie ‒ aufgrund von Benachteiligungen, fehlender Integration und großem Einfluss patriarchaler Familienstrukturen ‒ sich bedeutende Teile der Migrant*innen ausgegrenzt und völlig perspektivlos sehen und welche Mechanismen sich hier abspielen, wenn solche (vor allem junge) Menschen von den Heilsbringern des Dschihads angesprochen werden.

Fazit:

Wie sich schon im Titel dieses Bandes ankündigt, wird ein breites Themenspektrum abgehandelt, wiewohl die Gliederung in die drei Hauptteile den Zusammenhang der Einzelthemen andeutet. Dennoch: Da einige der Beiträge zu verschiedenen Zeiten geschrieben wurden, kommt es zu manchen Überschneidungen, was an sich nicht weiter tragisch ist, aber ein paar Wiederholungen hätte man durch eine entsprechende editorische Arbeit (durch Verlag oder Autor) auslassen können. Aber es sind bei der Gesamtfülle der Informationen, Analysen und Erklärungen (wovon geschätzte 25 Prozent oder mehr allein in dem umfangreichen Fußnotenapparat enthalten sind) zu verschmerzende Wiederholungen.

Die Qualität der Gesamtdarstellung zu diesen Themen sucht seinesgleichen. Helmut Dahmer ist für diese umfängliche Arbeit zu danken. Kurzum: Der Band ist nicht nur allen Psychologen wärmstens ans Herz zu legen.

Quelle: intersoz.org… vom 13. Juni 2016


[1] Erschienen im Verlag Westfälisches Dampfboot, 525 Seiten, 45,00 €

[2] H. Dahmer: „Divergenzen ‒ Holocaust, Psychoanalyse, Utopia“, Münster (Westfälisches Dampfboot) 2009; und: ders. „Pseudonatur und Kritik ‒ Freud, Marx und die Gegenwart“, Münster (Westfälisches Dampfboot) 2013

[3] Mit Spannung dürfen wir übrigens auf die erweiterte Neuherausgabe von Trotzkis „Literatur und Revolution“ hoffen, die Dahmer betreut und die er für das Ende dieses Jahres (beim Neuen ISP Verlag) anpeilt.

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