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Frankreich: Brutale Polizeigewalt bringt Regierung in Bedrängnis

Eingereicht on 7. August 2019 – 14:25

Bernard Schmid. Proteste zum Tod von Steve Maia Caniço, seltsame Auszeichnungen für Polizisten, manipulierte Beweisführungen und Unwahrheiten – der öffentliche Druck wächst.

Möglicherweise ist sie nicht vorbei, die Protestbewegung der „Gelbwesten“, die Frankreich seit Herbst 2018 in Atem hielt. Es ist eine Protestbewegung politisch und sozial heterogenen Charakters, die sich im Laufe der Monate wandelte – und von ihren anfänglich stark rechts besetzten Ausgangsmilieus ablöste, auch Gewerkschaften gesellten sich ab Anfang Dezember 2018 hinzu – und ziemlich unterschiedliche Bewertungen erfuhr.

Darum, eine irgendwie abschließende Bewertung zu treffen, kann und soll es an dieser Stelle nicht gehen. Zumal Staatspräsident Emmanuel Macron selbst laut öffentlichen Bekundungen davon ausgeht, dass die Sache nicht abgeschlossen, also für seine Regierung nicht ausgestanden sei.

Ebenso wenig ausgestanden ist unterdessen ein Thema, das im Zusammenhang mit den „Gelbwesten“-Protesten ebenfalls viele Debatten und Polemiken auslöste und auch aus anderen Gründen ins aktuelle Geschehen drängt: die von der französischen Polizei ausgeübte Gewalt.

Im Zusammenhang mit der Protestbewegung der „Gelbwesten“ ermittelt die Dienstinspektion IGPN – die im Folgenden noch näher vorgestellt werden wird – derzeit in 288 Fällen wegen mutmaßlicher, nicht vom Gesetz gedeckter Gewaltanwendung durch die Polizei, wie just an diesem Montag bekannt wurde.

Letztere ist derzeit auch deswegen in nahezu ganz Frankreich ein Thema, weil in der Nacht vom 21. zum 22. Juni dieses Jahres der 24-jährige Besucher eines Technokonzerts – Steve Maia Caniço – infolge eines Polizeieinsatzes zu Tode kam.

„Wo ist Steve?“

Weil eine von acht Bühnen ihre Musik in der Nacht nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt abschalten mochte, ging die Polizei gegen 4.30 Uhr mit Knüppeln, Tränen- und Reizgas gegen die Besucher vor. Hinter ihnen befand sich das Ufer der Loire, die an der Stelle kurz vor ihrer Einmündung in den Atlantik steht, und deren Strömung ziemlich kräftig ist – und dies ohne Absperrung.

Wie aus Videos von der Szene hervorgeht, riefen mehrfach Anwesende: „Da hinten ist Wasser“ und „Gefahr, da liegen Leute im Wasser!“ Mindestens sieben Personen konnten sich aus dem Fluss retten, doch „Steve“, den quasi alle Medien längst unter seinem Vornamen bezeichnen, konnte nicht schwimmen.

Wochenlang lief in Frankreich dazu eine, viel Aufmerksamkeit erregende, Öffentlichkeitskampagne unter dem Motto: „Wo ist ist Steve?“. Zur Kampagne bestehen inzwischen auch eigene Bild– und Tondokumente.

Am vorigen Montag (29. Juli) wurde nun die, unkenntliche und durch Fingerringe, später durch DNA-Analyse identifizierte, Leiche geborgen. Am selben Tag stellte Premierminister Edouard Philippe persönlich – was laut den Worten der Anwältin von Steves Familie aus der Sache eine „Staatsaffäre“ macht -, den Untersuchungsbericht der „Allgemeinen Inspektion der nationalen Polizei“ (IGPN) vor.

Diese Dienstinspektion ist für die Untersuchung eventueller Verfehlungen der Polizei zuständig und untersteht nicht der Polizeidirektion, jedoch dem Innenministerium. In ihrem Bericht wird behauptet, es gebe „keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen dem Polizeieinsatz und dem Tod von Steve Caniço“.

Nun stellt sich jedoch heraus, dass die IGPN buchstäblich keinen einzigen der 89 anwesenden Partygäste, die Zeugen der Szene wurden oder selbst betroffen waren und Strafanzeige gegen die Polizei erstatteten, vernommen hat. Und ein Zeuge, der sich der IGPN schriftlich zur Verfügung stellte, wurde nicht angehört – die Institution behauptet, ihm eine E-Mail gesandt zu haben, was er selbst energisch dementiert. Ausschließlich Angehörige der Polizeiseite waren angehört worden.

Mittlerweile ruderte die IGPN zurück: Ihre Chefin Brigitte Jullien, die sich zum ersten Mal überhaupt in solcher Form an die Öffentlichkeit wendet, äußerte sich in einem Interview mit der Tageszeitung Libération, das an diesem Montag erschien. Darin erklärt die Dame: „Weitergehen, es gibt nichts zu sehen“ sage man in dem Untersuchungsbericht auch wieder nicht.

CRS-Einsatzkräfte. Foto (vom 05.02.2019): Patrice Calatayu/CC BY-SA 2.0

So weit will sie denn anscheinend doch nicht gehen. Man habe keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen dem Polizeieinsatz und Steves Tod gesehen, aber dass es keinen gebe, behaupte man ja nicht. Nun, Überzeugungsfestigkeit oder Gewissheit sieht anders aus …

Unterdessen hat der Premierminister bereits eine andere Aufsichtsbehörde, die „Allgemeine Verwaltungsinspektion“ (IGA), mit einer „weiterführenden“ Untersuchung beauftragt. Ein Teil der Opposition fordert unterdessen einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Thema, welchen die Regierungspartei LREM jedoch bislang ablehnt.

Am vergangenen Wochenende (03. und 04. August) fanden unterdessen vielerorts Proteste statt. In Nantes gab es am Samstagvormittag eine Trauerkundgebung von rund 1.000 Menschen an dem Ort, nahe dem die Leiche im Wasser aufgefunden worden war. Am Nachmittag demonstrierten rund 1.700 Menschen – laut behördlichen Zahlen – in der Innenstadt, wo der Protestzug zuvor verboten worden war.

Dabei kam es, wie zu erwarten, auch zu Auseinandersetzungen und in diesem Zusammenhang zu vierzig Festnahmen. Auch in weiteren französischen Städten, wie in Rouen oder Le Havre, aber auch etwa in Südfrankreich wurde aus diesem Anlass demonstriert.

Unterdessen wurden einzelne Beamte – in diesem Falle der Gendarmerie, die ähnliche Aufgaben wie die Polizei wahrnimmt, jedoch dienstlich der Verteidigungsministerin untersteht – identifiziert, die sich bei sozialen Medien über den Tod des jungen Mannes lustig gemacht hatten. Einem von ihnen wurde eine Vorladung zu einem dienstrechtlichen Disziplinarverfahren zugestellt.

73-jährige Dame verletzt, Staatsanwalt (bestenfalls) auf Tauchstation

Wie Ende Juli herauskam, hat der Leiter der Staatsanwaltschaft im südostfranzösischen Nizza, Jean-Michel Prêtre, explizit zugegeben, in einem offiziellen Rapport über polizeiliche Übergriffe am 23. März dieses Jahres in der Stadt Unterschiede zwischen divergierenden Versionen weggebügelt und die Ordnungskräfte weißgewaschen zu haben, „um Präsident Emmanuel Macron nicht in Schwierigkeiten zu bringen“.

Konkret ging es u.a. darum, dass Staatspräsident Macron persönlich zwei Tage nach der polizeilichen Attacke vom 23. März 19 in der örtlichen Tageszeitung Nice Matin das Wort ergriffen hatte, und dort behauptete, es habe „keinen Kontakt“ zwischen Geneviève Legay und Polizeibeamten gegeben. Eine Darstellung, die objektiv wahrheitswidrig ist. Doch um nicht herauskommen zu lassen, dass der Staatspräsident die Unwahrheit hinausposaunte, sagte nun einfach auch der ermittelnde Staatsanwalt die Unwahrheit dazu. Allerdings ließ sich seine Version im Lauf der Ermittlungen nicht aufrechterhalten und wurde dann auch offiziell zurückgezogen.

Am 13. Juli dieses Jahres war der Staatsanwaltschaft Nizza die Akte bereits durch höchstrichterliche Entscheidung entzogen worden. Seitdem ist die Staatsanwaltschaft Lyon mit dem Fortgang der Ermittlungen befasst.

Die 73jährige Aktivistin bei ATTAC, Geneviève Legay, war bei einer „Gelbwesten“-Demonstration in Nizza durch Polizisten gestoßen worden, ging zu Boden, wurde überrannt, schwer verletzt und im Krankenhaus behandelt. Zunächst wurde behauptet, die Polizei habe die Frau überhaupt „nicht berührt“, später geriet diese offizielle (Schutz-)Version jedoch ins Wanken. Ein Polizeibeamter wurde identifiziert als derjenige, welcher Madame Legay stieß; er selbst brachte sein „ehrliches Bedauern“ zum Ausdruck und erklärte, er sei davon ausgegangen, „einen Mann“ gestoßen und zu Boden befördert zu haben.

Gendarmeriebeamte hatten anlässlich dieser Auseinandersetzung den Befehl verweigert, die Polizei bei ihrem Einsatz zu unterstützen – das ist mehr oder minder „unerhört“. In Frankreich untersteht die Gendarmerie dem Verteidigungs-, und die Polizei untersteht dem Innenministerium, wobei vor nunmehr zehn Jahren viele Statusbestimmungen (etwa Laufbahngarantien, Rentenregelungen) aneinander angeglichen wurden; das Staatsgebiet ist in jeweilige Zuständigkeitszonen beider Staatsorgane aufgeteilt.

Es mangelte nicht an Pikanterie, als jüngst Innenminister Christophe Castaner die Namen von Angehörigen der polizeilichen Sicherheitskräfte bekannt gab, die „dekoriert“ (décoré) werden sollen, denen also in naher Zukunft eine Auszeichnung verliehen wird. Unter ihnen befinden sich fünf Polizeibeamte, die persönlich im Verdacht stehen, an ungesetzlichen Formen von staatlicher oder im Namen des Staates ausgeübter Gewaltanwendung beteiligt gewesen zu sein. Darunter:

  • zwei Kommissare (das bedeutet in diesem Falle: Einsatzleiter), die an der Szene beteiligt waren, bei der die oben erwähnte Aktivistin Geneviève Legay verletzt worden ist und deren Namen in den Ermittlungsdokumenten dazu auftauchen;
  • und zwei Polizeioffiziere, die respektive an einem gewaltförmigen Überfall auf Demonstrationsteilnehmer in einem Pariser Fastfood-Restaurant im Dezember 2018sowie am Tod der 80jährigen Zineb Redouane in Marseille am 1. Dezember 2018, dazu Näheres unten, beteiligt gewesen sein sollen.
  • Im Übrigen befindet sich auch ein wegen sexueller Nötigung verfolgter Polizistunter den Auszuzeichnenden.

Entscheidend für die Bewertung des Ministerhandelns ist dabei nicht so sehr, dass die fünf Namen auf einer Liste von auszuzeichnenden Polizisten auftauchen ; auf ihr stehen immerhin 9.126 Namen von Polizeibediensteten, denen eine Medaille für ihr/ein „außerordentliches Engagement in den Kräften für Innere Sicherheit in den Jahren 2018/19“ verliehen werden soll. (Die Polizei zählt in Frankreich insgesamt rund 150.000 Mitglieder.)

Entscheidend für die Bewertung des Ministerhandelns ist vielmehr, dass Christophe Castaner auch dann, nachdem er über die Präsenz der beschuldigten Beamten und den Inhalt der Vorwürfe informiert worden war, von seiner Entscheidung nicht abrücken und die Liste nicht modifizieren mochte. Er stehe zu seinem Entschluss; allerdings würden, falls es denn zu dienstrechtlichen Sanktionen (Disziplinarstrafen) komme, den entsprechend Bestraften ihre Auszeichnungen in diesem Falle wieder entzogen, verlautbarte der Minister.

Nun ist für Ermittlungen gegen Polizeibeamte/beamtinnen – etwa wegen des Vorwurfs von Gewalttaten im Dienst – eine „Generalinspektion der Nationalpolizei“ (IGPN) zuständig, die zwar nicht der Autorität der Polizeiführung direkt, wohl aber jener des Innenministeriums unterstellt ist.

Und wenn der amtierende Minister ihr nun durch das Verleihen einer Auszeichnung signalisiert, dass es sich bei den Betreffenden um irgendwie exemplarische, sozusagen eben „ausgezeichnete“ Beamte handele – wird die Dienstinspektion dann dazu neigen, darüber hinwegzusehen und trotzdem Sanktionen vorzuschlagen? Die nähere Zukunft wird es erweisen müssen.

Zineb Redouane: 80-jährige Dame getötet

Auch der Fall der getöteten 80jährigen Zineb Redouane birgt potenziell einigen politischen Sprengstoff. Auch hier kommen immer mehr kompromittierende Informationen ans Tageslicht.

Madame Redouane war am Samstag, den 1. Dezember 2018, am Fenster ihrer Wohnung im vierten Stock, in der rue des Feuillants, durch mindestens eine Tränengasgranate getroffen worden. Zu dem Zeitpunkt spielten sich dort sowohl Proteste der „Gelbwesten“ als auch eine Demonstration gegen die städtische Wohnungspolitik in Marseille ab – infolge des Einsturzeseines in bedenklichem Zustand befindlichen Wohnhauses in der Marseiller rue d’Aubagne am 05. November 18 wurden dort rund 2.500 Menschen aus ebenso schlecht erhaltenen Wohngebäuden evakuiert, zum Teil ohne jegliches vernünftige Angebot einer Ersatzwohnung. Dieser Skandal hält im Übrigen bis heute an.

Am 03. Dezember 2018 verstarb Zineb Redouane an den Folgen ihrer Verletzung in einem Krankenhaus. Die Staatsmacht verbreitete schnell die Version, erstens sei sie an den Folgen der Operation und nicht etwa an ihren Verletzungen gestorben, und zum Zweiten handele es sich um einen Unfall – die Tränengasgranate sei schräg nach oben geschossen worden, um ihren Gasinhalt über die Menge zu verstreuen, und sei dabei durch ein Fenster gegangen.

Ihre Tochter, die sich zum fraglichen Zeitpunkt hinter ihr in der Wohnung befand, sagte hingegen aus, Beamte hätten gezielt auf ihre Mutter geschossen, weil sie ihr Telefon in der Hand gehabt habe – man habe sie verdächtigt, zu filmen. Rassistische Reflexe, die in den Reihen der französischen Polizei nicht wirklich inexistent sind, mögen dabei womöglich auch eine Rolle gespielt haben.

Inzwischen hat ein Sohn von Zineb Redouane Fotos der Dame auf ihrem Krankenhaus- bzw. Totenbett publiziert (was eine Polemik in den Reihen der Familien betreffend Pietätsfragen auslöste). Diese sind zumindest insofern von öffentlichem Interesse, das sicherlich gegen den Respekt der Totenruhe abgewogen werden muss, als die Aufnahmen erkennen lassen, dass Zineb Redouane allem Anschein nach nicht durch eine, sondern durch zwei Granaten getroffen wurde und zwei unterschiedliche Verletzungsstellen aufweist. Dies belegt in den Augen auch von Journalisten die These vom gezielten Beschluss.

Bis heute sind einige brisante Details zu diesem Todesfall bekannt geworden: Der stellvertretende Leiter der Staatsanwaltschaft befand sich selbst während des polizeilichen Einsatzes unmittelbar vor Ort und begleitete die Polizeikräfte; worüber sein Vorgesetzter auch informiert war.

Ihm selbst wurde nach dem Ereignis die Leitung der Ermittlungen übertragen. Überraschung: Der Mann vermochte kein Problem zu erkennen, sondern schloss sofort nach dem Ableben von Madame Redouane auf Herzversagen infolge eines „Operationsschocks“.

Der Leiter der Bereitschaftspolizei (CRS) während des Einsatzes weigerte sich seinerseits standhaft, fünf vor Ort benutzte Abschussgeräte für Gasgranaten durch Experten inspizieren zu lassen. Nun ja, eigentlich nennt sich das illegale Behinderung von Ermittlungen respektive Strafvereitlung im Amt, und bildet einen Straftatbestand …

Und die am Einsatz beteiligten Beamten konnten sich leider, leider an überhaupt nichts erinnern. Komisch aber auch. Die am nächsten am, nennen wir es: Tatort gelegene Überwachungskameras hatte, neue Überraschung, angeblich aufgrund einer Panne keine Bilder aufgezeichnet. Undsoweiterundsofort: Pleiten, Pech und Pannen vereitelten seriöse Ermittlungen, welch ein Unglück aber auch. Im Übrigen ist auch sieben Monate danach jener Polizist, der die (in der Wirkung tödliche) Gasgranate verschoss, noch nicht einvernommen worden.

Hinzu kommt eine kuriose Anordnung der ermittelnden Richter vom April dieses Jahres: Diese wollten wissen, wie lange die Dauer der Krankschreibung (gemessen in Arbeitsausfall-Tagen, französisch ITT abgekürzt) der Toten sei, um die Schwere der Körperverletzung juristisch beurteilen zu können.

Nun stellte sich aber heraus, dass die soeben erwähnte Überwachungskamera mutmaßlich doch nicht kaputt war. Yassine Bouzrou, in dieser Sache Rechtsanwalt von vier der fünf Kinder der Verstorbenen, erstattete am Freitag, den 05. Juli dieses Jahres, deswegen Strafanzeige wegen Falschaussage und Strafvereitlung seitens von Amtsträgern.

Die Familie selbst hatte Ende Juni dieses Jahres eine neuerliche Strafanzeige wegen Verschleppung der Ermittlungen getätigt, die zu einer ersten Anzeige vom 19. April hinzukommt.

Aufgrund der persönlichen Verwicklung des stellvertretenden Leiters der örtlichen Staatsanwaltschaft dürfte die Verantwortlichkeit der Ermittlungen voraussichtlich an einen anderen Gerichtsstandort ausgelagert werden, um eine unmittelbare Einflussnahme zu erschweren.

Man darf aber getrost davon ausgehen, dass es auch in diesem Falle ohne Druck aus der Gesellschaft zu keinen ernsthaften Ermittlungsfortschritten kommen dürfte…

Quelle: Telepolis… vom 7. August 2019

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