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Aktion «Die Toten kommen» in ganz Europa

Eingereicht on 26. Juni 2015 – 10:43

Susan Bonath. Über 1.700 Bootsflüchtlinge rettete die Marine in den vergangenen Tagen im Mittelmeer aus Seenot, wie die Nachrichtenagentur dpa am Mittwoch abend berichtete. Die Überfahrt in klapprigen Booten nach Europa ist für Hunderttausende Opfer imperialistischer Wirtschafts- und Kriegspolitik die letzte Hoffnung, ihrem Elend zu entfliehen. Zehntausende scheiterten bereits an der abgeschotteten EU-Grenze. Sie ertranken, verdursteten, starben an Entkräftung. Immer neue Tote spült die See in Südeuropa an. Viele landen Massengräbern. Die Künstler vom «Zentrum für politische Schönheit» (ZPS) haben die Opfer in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Im Rahmen ihrer Aktion «Die Toten kommen» entstehen in ganz Europa derzeit symbolische Gräber.

Die Aktion war präzise konzertiert: Monatelange Recherchen waren ihr vorausgegangen. Nach eigenen Angaben hatte das ZPS mehrere Tote identifizieren und exhumieren lassen, um sie nach Deutschland zu bringen. Man wollte das Problem zu den «Mitverantwortlichen europäischer Abschottungsspolitik» holen. Mit zwei echten Beerdigungen auf Berliner Friedhöfen rissen sie die Regierenden aus dem Schlaf. Politiker aus CDU und SPD schimpften, die Aktion sei pietätlos. Die Künstler hielten dagegen und fragten, ob es denn nicht weit pietätloser sei, «Tote wie Dreck zu verscharren».

Am Sonntag trug das ZPS die brutale Realität vor den Reichstag. Rund 7.000 Menschen machten sich auf zum »Marsch der Entschlossenen« (junge Welt berichtete). Seine Idee hatte das Zentrum auf ein riesiges Plakat gebannt: ein monumentaler Friedhof vorm Kanzleramt, gewidmet »den unbekannten Flüchtlingen«. Nicht die Künstler, sondern Tausende Demonstranten vollendeten das Werk in einem spontanen Akt zivilen Ungehorsams. Sie kippten den Zaun, hoben mit bloßen Händen unter den Augen der Polizei Gräber aus dem Rasen vor dem Reichstag, bestückten sie mit Kreuzen, Tafeln, Lichtern, Blumen. Binnen weniger Stunden wurde die Fläche zu einem hastig aufgeworfenen »Friedhof«. Das Ergebnis kam dem Elend am und auf dem Mittelmeer weit näher, als es ein opulentes Mahnmal gekommen wäre: großes Theater, das uns am Ende die geheuchelte Pietät der Regierenden vor Augen führte.

So ließ das Berliner Bezirksamt das Gräberfeld am nächsten Tag von einer Gartenbaufirma entfernen. Der Stern zeigte am Dienstag ein Foto der zusammengekarrten Reste: zerlegte Holzsärge, Kreuze, verwelkte Blumen. Pünktlich zum Stelldichein der britischen Queen im Berliner Regierungsviertel war der Tod verbannt. Das Ende der Kunstaktion ist das nicht. Der Internetblog Graves for Unknown Refugees (Link siehe unten) sammelt Fotos symbolischer Gräber, die Aktivisten inzwischen überall in Europa angelegt haben. Am Donnerstag waren dort Mahnmale in 69 deutschen Städten zu sehen, darunter Flensburg, Rostock, Karlsruhe, Erfurt, München und Halle. In Magdeburg etwa entstand während einer Kundgebung gegen die geplante Asylrechtsverschärfung ein Grab vor einem Hotel. In Baden-Württemberg errichteten Unbekannte in mehreren Städten Mahnmale, wie die dpa am Mittwoch berichtete. In Freiburg würden sie «vorerst toleriert». Aktionen in Hamburg, Ingolstadt, Düsseldorf und Duisburg gingen ebenfalls durch die Presse.

Auch in zehn weiteren Ländern Europas sind Aktivisten laut veröffentlichtem Fotomaterial aktiv geworden. Danach entstanden symbolische Grabmale für geflüchtete Opfer in den Schweizer Städten Bern, Zürich und Luzern, in Österreich in Wien und St. Pölten sowie in den schwedischen Metropolen Stockholm und Göteborg. Weitere Bilder zeigen Miniaturfriedhöfe in London, in Litauen, Bulgarien, Luxemburg, Belgien, den Niederlanden und in der Türkei.

http://unknownrefugees.tumblr.com

Quelle: Junge Welt vom 26.06.2015

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