China: Der alltägliche Kollektivismus
Lorenza Colzato und Bernhard Hommel. Die chinesische Gesellschaft ist eine kollektivistische, das sagen die Chinesen selbst und alle anderen sagen das auch. Auch objektivere Daten zeigen das deutlich: auf der bekannten Hofstede-Skala für Individualismus (also dem Gegenteil von Kollektivismus) erhalten die USA 91 von 100 Punkten, Deutschland immerhin 67, aber China lediglich 20 Punkte. Viel kollektivistischer geht es also nicht.
Aber was heißt das im Alltag, wie fühlt sich das an? Der Begriff des Kollektivismus wird vornehmlich in soziologischen Diskursen verwendet, doch welche Bedeutung hat er für das psychologische Verständnis der Chinesen?
Nur auf den ersten Blick chaotisch
Diese Frage hat uns umgetrieben. Durchaus schon bevor wir nach China gezogen sind, als wir mithilfe von Experimenten die psychologischen Auswirkungen von individualistischen und kollektivistischen Religionen verglichen haben. Wie sich aber der kollektivistische Alltag konkret anfühlt, haben wir erst durch zwei Beobachtungen in China nachvollziehen können. Die erste bezieht sich auf den Verkehr. Wir leben in Jinan, der Hauptstadt der Provinz Shandong. Shandong hat mit über 100 Millionen deutlich mehr Einwohner als Deutschland – und in Jinan wohnen ungefähr 10 Prozent davon. Der Verkehr, so kann man sich leicht vorstellen, ist also beträchtlich. Autos sind nicht ganz so populär wie in Deutschland (sehr wohl aber öfter als dort elektrifiziert!), sodass Elektroscooter einen unübersehbaren Anteil am Verkehr haben. Die wesentlichen Verkehrswege beschränken sich interessanterweise auf Straßen für Autos und Wege für Scooter, und die paar vereinzelten Fahrräder, während Bürgersteige offenbar in der gesamten Stadt nicht vorgesehen sind.
Auf Basis dieser Voraussetzungen entwickelt sich oft eine Verkehrsdynamik, die auf den ersten Blick chaotisch scheint: Fußgänger laufen teils auf der Straße, teils auf den Fahrrad- und Scooterwegen und teils in den Hauseingängen; Scooter fahren oft in die eine, gelegentlich aber auch in die Gegenrichtung; und Autos wechseln oft und überraschend die Spur, fädeln unvermittelt ein, kreuzen Radwege, ohne den Verkehrsfluss abzuwarten, und vieles mehr. Unfälle kommen vor, sind aber angesichts der Verkehrsdichte keineswegs auffällig häufig.
Verkehr als Organismus
Der zweite Blick, aus einer Art geistigen Vogelperspektive, offenbart jedoch ein anderes Bild. Tatsächlich funktioniert der Verkehr wie ein Organismus, gesteuert von einer Art Schwarm-Intelligenz. Der zweite Blick zeigt auch, wie sich die individuellen Verhaltensweisen von denen unterscheiden, die wir aus Deutschland gewöhnt sind. So haben wir in all den Monaten niemanden erlebt, der sich über das Verhalten anderer mokiert, der protestiert, geschimpft und andere auf ihre Regelverstöße hingewiesen hätte.
Es wird viel gehupt, das ist wahr. Aber das ist kein „Wie kannst du Depp mir die Vorfahrt nehmen!“-Gehupe, sondern ein „Vorsicht, ich fahre gerade in die Gegenrichtung, fahr bitte nicht in mich rein!“-Gehupe. Und es trifft auf Fahrer, die ungewohnte Verkehrssituationen und Regelübertretungen systematisch erwarten und die gewohnt sind, flexibel mit ihnen umzugehen. Weil sie wissen, dass man sich anders in dieser Stadt nicht fortbewegen kann. Weil sie verstehen, dass sich die viel zu engen Straßen durch die altertümlicheren Teile der Stadt oft nur auf der falschen Fahrbahnseite passieren lassen, dass Anlieferungen oft nur durch Blockierung gleich mehrerer Verkehrswege möglich sind. Und weil sie unentwegt alle anderen auf ihrem visuellen Radar haben. Die, die sie sehen, und die die da noch kommen könnten.
Dies alles verlangt beeindruckende Leistungen am Steuer, und tatsächlich erleben wir fast täglich, was es bedeutet, auf den Millimeter genau zu fahren. Wenn das nicht reicht, kommt oft unerwartete Hilfe: Als wir mithilfe einer Kollegin versucht haben, uns unserem täglichen Coronatest in einem Krankenhaus zu unterziehen, hatten wir uns in einem Moment sprichwörtlich festgefahren. Am Ende ihrer Kräfte verließ die Kollegin das Auto, worauf wie selbstverständlich ein fremder Fahrer einstieg, um das Auto geschickt aus der Gefahrenzone zu fahren. Ohne vorherige Abklärung der Versicherungsverhältnis und möglichen Schadensansprüche. Das, so glauben wir, ist Kollektivismus im Alltag.
Liebe Kollegen
Die andere Beobachtung bezieht sich auf unser Forschungsteam und dessen administrativen Unterstützer. Als Ausländer und vor allem als Nicht-Chinesisch-Sprechende sind wir oft im Alltag aufgeschmissen, jedenfalls wenn er mit Behörden zu tun hat. Praktisch alle Formulare sind nur in Chinesisch erhältlich, und kaum jemand spricht Englisch. Ohne Begleiter und vorbereitende Helfer sind also Behördengänge, die Anmietung einer Wohnung und selbst der Erwerb einer Telefonnummer nicht möglich. Die Universität, an der wir arbeiten, beschäftigt dementsprechend mehrsprachige Angestellte, die uns bei all diesen Angelegenheiten helfen.
Neben diesen offiziellen Angeboten, die man von einer Universität mit internationalen Ambitionen erwarten kann, gibt es aber viel mehr. Kollegen haben ohne Gegenleistung ihr Wochenende geopfert, um uns aus der Quarantäne in Shanghai abzuholen. Hotelrechnungen für uns beglichen und uns (zinslos) Geld von ihrem persönlichen Konto für Einkäufe vorgestreckt, als wir über einen Monat auf unser erstes Gehalt warten mussten. (Westliche Kreditkarten werden hier kaum akzeptiert und der grenzüberschreitende Transfer von Geldbeträgen ist nur nach aufwendiger Prüfung durch das Steuerbüro gestattet.)
In Zeiten der verschärften Coronamaßnahmen haben sie spontan (und ja: auf ihre eigenen Kosten) Lebensmittelpakete für uns im Hotel abgegeben. Und sogar ein Bundesliga-Abonnement bei einem chinesischen Fernsehsender für uns organisiert. Selbst unsere Chinesisch-Lehrerin arbeitet mit uns zweimal die Woche ohne jedes Entgelt, einfach weil sie die Erfahrung, mit derart hoffnungslosen Fällen umzugehen, interessant und lehrreich findet.
Unser zunehmendes Erstaunen über so viel Hilfe, Unterstützung und Liebenswürdigkeit fand seinen Kulminationspunkt während eines der vielen Abendessen, die nahe und entferntere Kollegen für uns organisiert haben. Bei vielen dieser Abendessen war viel Schnaps im Spiel, und viele Toasts, die einen willkommenen Anlass für dessen Genuss abgaben. In vielen dieser Toasts wurden wir willkommen geheißen, aber zwei davon haben uns besonders beeindruckt und tatsächlich überrascht: Kollegen stellten fest, dass es für sie kaum etwas Wichtigeres und Befriedigenderes gäbe, als unsere Wünsche zu erfüllen.
Der Kollektivismus steckt in uns
Mit einem deutschen Hintergrund kommen einem Sätze dieser Art überraschend, vielleicht befremdlich, oder sogar übertrieben vor – aber wir haben bei aller Höflichkeit und aller Berücksichtigung unseres privilegierten Status‘ keinen Anlass zu der Annahme, dass sie nicht authentisch waren. Würden Deutsche so über andere denken und so mit ihnen fühlen? Im Alltag können wir uns das einfach nicht vorstellen. Dafür sind wir zu viel mit uns selbst beschäftigt, sorgen uns viel zu sehr um die möglichen persönlichen, geldwerten oder juristischen Konsequenzen unserer Handlungen, sind wir viel zu neidisch, viel zu empört über die Unzulänglichkeiten und Fehler der anderen.
Und doch steckt es in uns. Denn viele von uns sind es ja gewöhnt, viel für das erste Kollektiv zu tun, das wir kennengelernt haben: unsere Familie. Dies ist vielleicht noch offensichtlicher für die Italienerin in unserem Autorenteam als für den Deutschen, und es gilt vielleicht noch mehr für italienische Familien im Allgemeinen als für deutsche. Aber die Grundidee, dass man manche Dinge auch mal für andere tun könnte und vielleicht sollte, haben viele von uns dort kennengelernt. Und genau das hatten unsere chinesischen Kollegen im Sinn: wir sind jetzt Teil ihrer Familie. Merkwürdig und neu für uns Mitteleuropäer ist also nicht so sehr diese Grundidee, die wir ja eigentlich kennen, sondern die sehr ausufernde Definition von dem, was Familie sein könnte, in der chinesischen Kultur.
Aber selbst wir Mitteleuropäer, und vielleicht sogar diejenigen, die aus einer Kleinfamilie oder weniger familiären Kontexten stammen, sind mit expansiveren Definitionen von Familie vertraut. Denn für jeden Fußballfan ist es ja ganz selbstverständlich, dass er nahezu alles für seinen Verein tun würde. Wenn er den Stürmer der eigenen Mannschaft besser machen könnte, würde er das tun. Ganz selbstlos, und ohne Hintergedanken. Wenn uns also etwas an etwas liegt, das größer ist als wir, dann haben wir mit der Selbstlosigkeit, mit dem Gönnen, mit dem Ertragen des Erfolgs von anderen gar kein Problem. Wir haben dann keine Vorbehalte, juristische Bedenken oder Angst vor dem Ungewissen, sondern Vertrauen in uns und in unser Team. Er steckt also in uns, der Kollektivismus, in allen von uns, nur machen wir halt so selten etwas daraus.
#Bild: Song Hongxiao, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Quelle: overton-magazin.de… vom 28. Februar 2023
Tags: Arbeitswelt, China, Deutschland, Kultur, Neoliberalismus
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