Algerien: Von der Massenmobilisierung zum Generalstreik?
Prominente Personen der algerischen Protestbewegung, linke und berberische Organisationen, Verbände der Studierenden und unabhängige Gewerkschaften: Alle stehen auf der Liste des algerischen Militär-Regimes, zur Repression ausersehen. Militär-Regime? Ja, schon weil die einzige Person, die den Kurs der Herrschenden öffentlich verkündet – der Oberkommandierende ist. Der, wie niemand sonst, für die Durchführung der für den 12. Dezember 2019 geplanten Wahlfarce steht und sie als Pflicht und Abschluss der gesellschaftlichen Erneuerung diktieren will. Aber die Bilanz ist angesichts der Entschlossenheit so vieler Menschen, endlich einen Neuanfang zu erringen, nicht besonders erfolgreich für die Unterdrückungsorgane. So ist beispielsweise die Verhinderung von Demonstrationen der Studierenden nur einmal halbwegs gelungen, seitdem finden sie nicht nur wieder statt, sondern wachsen erneut. Und die Verfolgung von Gewerkschaften, inzwischen so rigide, dass globale Verbände bereits an die Internationale Arbeitsorganisation appellieren, in deren Verteidigung aktiv zu werden, verhindert nicht, dass sich etwas ausbreitet, zu dem niemand aufgerufen hat: Streiks. So wie gerade an den Grundschulen in verschiedenen Regionen des Landes. Bei denen, wie so oft in diesen Tagen, konkrete Forderungen der Aktiven verbunden wurden und waren mit der eindeutigen Ablehnung der sogenannten Wahl am 12. Dezember. Diesen Streiks folgt nun der Aufruf der unabhängigen Gewerkschaften zum Generalstreik. Siehe in der Materialsammlung zur aktuellen Entwicklung in Algerien drei Beiträge zur Entwicklung des Kräfteverhältnisses und fünf Beiträge über die versuchte Repression der Gewerkschaftsbewegung, eine spontane Streikbewegung vor allem im Bildungsbereich und die Aufrufe zu landesweiten Streiks, sowie ein Aufruf zum Generalstreik – und den Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag zur demokratischen Massenbewegung in Algerien: „Algérie, 34e et 35e mardi ou vendredi de mobilisation: le hirak maintient le cap“ am 16. Oktober 2019 bei Europe Solidaire dokumentiert, ist die Zusammenstellung einer Reihe von Berichten über die Demonstration sowohl der Freitage (alle), als auch der Dienstage (Studierende). Die zentralen Themen der weiterhin anwachsenden Mobilisierung waren in erster Linie die Ablehnung der Wahlfarce, die Forderung nach Freilassung aller Gefangenen – und die erneute Ablehnung der Politik, wie sie sich im Haushaltsentwurf der Interims-Regierung für 2020 niederschlägt (siehe den folgenden Link). Bei der Demonstration der Studierenden am Dienstag, 15. Oktober 2019 in Algier war angesichts der Kritiken am „wachsenden Spielraum“ für ausländische Investoren im Energiebereich die zusammenfassende Hauptparole: „Überwacht das Erdöl, nicht die Studierenden!“.
„Algérie, 33e vendredi: Gaïd Salah veut vendre le pays aux multinationales, le peuple s’y oppose de toutes ses forces“ von Kamel Aissat am 15. Oktober 2019 ebenfalls bei Europe Solidaire ist ein Beitrag, der neben der Skizze der Entwicklung der Konfrontation noch eine in letzter Zeit neu hinzu gekommene Kritik am Regime unterstreicht: Sie wollen das Land an die multinationalen Konzerne verkaufen. Diese Kritik entwickelt sich anhand des vorgelegten Plans der Interims-Regierung für das Haushaltjahr 2020 – der unter anderem Steuererleichterungen für ausländische Investoren im Energiesektor ebenso vorsieht, wie die Verlängerung der Höchstdauer von Konzessionen.
„Kräftemessen in Algerien geht weiter“ von Sofian Philip Naceur am 18. Oktober 2019 bei telepolis zieht unter anderem folgende aktuelle Zwischenbilanz: „… Nach monatelangem politischem Stillstand kommt seit Anfang September zwar endlich Bewegung in die festgefahrene Pattsituation, die Fronten zwischen Regime und Opposition bleiben aber verhärtet, denn das Regime widersetzt sich hartnäckig einem tiefgreifenden politischen Wandel und beginnt, die seit Februar de facto vorherrschenden politischen Freiheiten wieder einzuschränken und dem Land zeitgleich einen politische Übergangsfahrplan aufzuzwingen, der von Protestbewegung und Opposition vehement abgelehnt wird. Auf Druck von Algeriens de facto-Machthaber, Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah, kündigte der seit April amtierende Interimspräsident Abdelkader Bensalah für den 12. Dezember Präsidentschaftswahlen an. Von der herrschenden Klasse kooptierte parteipolitische Kräfte – oder jene, die hoffen, aus der Wahl politisches Kapital schlagen zu können – stehen bereits Spalier, begrüßten den Schritt und kündigen einer nach dem anderen ihre Teilnahme an dem umstrittenen Urnengang an, während Protestbewegung und Opposition Boykotterklärungen lancieren und den Widerstand gegen eine von oben aufoktroyierte Lösung der Krise intensivieren – mit ungewissem Ausgang. Denn zwar sind die Proteste weiter konsequent friedlich und das Regime setzt bisher nur auf unblutige Techniken der Repression, doch Algeriens letzter Massenaufstand von 1988 zeigte, zu welchen Mitteln Algeriens Sicherheitsapparat zu greifen bereit ist, wenn Bevölkerung und Opposition darauf pochen, die verkrusteten Machtstrukturen im Land konsequent aufzubrechen. (…) Der Armeechef hatte offenbar darauf gesetzt, dass die Proteste früher oder später nachlassen würden – allerdings vergeblich. Zwischen dem Fastenmonat Ramadan im Mai und dem Schul- und Universitätsbeginn Anfang September hatten die allwöchentlichen Demonstrationen in der Tat massiv an Zugkraft verloren. Doch seit Anfang September bekommen die jeden Dienstag und Freitag stattfindenden Demonstrationen wieder massiven Zulauf. Algeriens Protestbewegung zwang das Regime damit, zur Verteidigung des machtpolitischen Status quo und der Privilegien für den weiterhin hinter den Kulissen regierenden Sicherheitsapparat zu anderen Mitteln zu greifen. Angesichts der konsequenten Friedfertigkeit der Protestbewegung waren Sicherheitsapparat und Armeeführung schon nach Bouteflikas Rücktritt im April gezwungen, dem Treiben auf den Straßen weitgehend tatenlos zuzuschauen. Unzählige Frauen und ganze Familien zogen und ziehen auch heute noch durch die Straßen. Algeriens Frauen gelten dabei als eine der wichtigsten und aktivsten Stützen der Bewegung, die Proteste mit roher Gewalt aufzulösen, war aufgrund ihrer massiven Präsenz keine Option für Gaïd Salah, der inzwischen darauf zu setzten scheint, durch sukzessives Anziehen der Daumenschrauben die Büchse der Pandora wieder zu schließen. Zeitgleich mit dem erneuten Anschwellen der Proteste wurde die Präsenz der Sicherheitskräfte bei den Protesten spürbar erhöht...“
„Algerien: Internationale Gewerkschaften rufen IAO zur Verteidigung von Gewerkschaften gegen zunehmende Repression auf“ am 18. Oktober 2019 bei der IUF (Internationalen Föderation der Nahrungsmittelgewerkschaften) meldet: „… Am 4. Oktober forderte die IUL zusammen mit unseren Schwester-GUFs IndustriAll und PSI sowie dem IGB den Generaldirektor des IAA auf, bei den algerischen Behörden zu intervenieren, um einen umfassenden rechtlichen und physischen Schutz für all diejenigen sicherzustellen, die ihr Recht auf Vereinigungsfreiheit in einem Umfeld ohne Gewalt, Schikanen und Drohungen ausüben wollen. Unter anderem wurde in dem Schreiben die unverzügliche und bedingungslose Freilassung “all jener, die wegen ihres zivilgesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Engagements inhaftiert sind” verlangt. Die wöchentlichen Massenproteste, Streiks und Demonstrationen dauern an, seit das Militär im März den Stecker des Lebenserhaltungssystems für die Bouteflika-Präsidentschaft zog. Jetzt geben die Streitkräfte unter Führung von Generalleutnant Gaid Salah, die sich hinter einem illegitimen ‘Übergangs-Präsidenten’ verstecken, den Ton an und versuchen, die für Dezember angekündigten Wahlen zu manipulieren. In den letzten Monaten sind mehr als 100 Gewerkschafter und zivilgesellschaftliche und politische Aktivisten festgenommen, verhört und wegen ‘Diffamierung der Streitkräfte’ und ‘Gefährdung der Einheit des Landes’ inhaftiert oder zu Freiheitsstrafen verurteilt worden. Der Präsident und der Generalsekretär der der IUL angeschlossenen SNATEG stehen vor einer neuen Runde von Strafverfahren, die mehrjährige Freiheitsstrafen zur Folge haben könnten. Die IUL-Mitgliedsverbände in Algerien, SNAPAP und SNATEG, sind in die Schusslinie geraten, weil sie uneingeschränkte Solidarität mit allen wegen ihres demokratischen Engagements Verurteilten und Drangsalierten – Journalisten, politische Aktivisten, Rechteverteidiger, Studenten und natürlich Gewerkschaftskollegen – gezeigt haben...“
„Grève des enseignants du primaire à l’est : Une vive réaction aux déclarations du ministre de l’Éducation“ von Y. Salem, K. Dadci und Fodil S. am 07. Oktober 2019 bei El Watan war der erste einer ganzen Reihe lokaler Streikberichte – hier aus Constantine – vor allem an den Grundschulen, die aus der Veröffentlichung der Planungen der Interim-Regierung zum Haushalt 2020 resultierten. Wobei vor allem die Verbindung von sozialen und politischen Forderungen hervor gehoben wird, wie sie aus einem von den Streikenden veröffentlichten 14-Punkte Forderungskatalog hervor gehen. Und: Dass der Streik begann in Reaktion auf entsprechende Aufrufe, die einzelne Lehrerinnen und Lehrer über soziale Netzwerke verbreiteten, ohne dass eine gewerkschaftliche Organisation dazu aufgerufen hätte…
„Education nationale: La crainte des syndicats établis à l’heure des grèves anonymes“ am 16. Oktober 2019 bei Algérie 360 meldet, die Gewerkschaften seien „beunruhigt“ über die stark anwachsende Zahl von Streiks, die von „Unbekannten“ organisiert würden. Diese Streikaufrufe hatten unterschiedliche Ergebnisse, lagen aber bei verschiedenen Aktionen deutlich über der Hälfte aller Beschäftigten, die sich daran beteiligten.
„Ils annoncent une grève lundi et mercredi: Les syndicats souscrivent au mouvement des enseignants du primaire“ von Isma Bersali am 19. Oktober 2019 bei El Watan ist der Bericht über den Aufruf der Gewerkschaften Union nationale du personnel de l’éducation et de la formation (Unpef) (Berufsschulen) und des Syndicat national des travailleurs de l’éducation (SNTE) (Grundschulen) zu zwei landesweiten Streiktagen in dieser Woche, am 21. Oktober und am 23. Oktober, was im Beitrag als Stärkung der ohnehin stattfindenden Streikbewegung bewertet wird und die Möglichkeit, landesweit wirksam zu werden, erhöhe.
„La Confédération des syndicats autonomes appelle à une grève générale“ am 19. Oktober 2019 bei Algérie 360 meldet den Beschluss eines der beiden unabhängigen Verbände der algerischen Gewerkschaftsbewegung, der Confédération des syndicats autonomes (CSA) – die vor allem in den Bereichen Bildung, Gesundheit und öffentlicher Dienst mobilisierungsfähig ist – am 29. Oktober einen eintägigen Protest-Generalstreik zu organisieren, als Ausdruck der Ablehnung der Interims-Regierung, die versuche – beispielsweise mit ihrem Haushaltsplan 2020 – politische Maßnahmen für die Zukunft fest zu legen, was ohnehin illegal sei. Andere Gewerkschaften debattieren noch, ob sie sich dem Streikaufruf anschließen sollen.
Quelle: labournet.de… vom 21. Oktober 2019
Tags: Algerien, Arabische Revolutionen, Arbeiterbewegung, Gewerkschaften, Widerstand
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