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Frankreich: Verfassungsgericht entscheidet hinter Barrikaden Renten„reform“

Eingereicht on 15. April 2023 – 9:12

Bernard Schmid. Am heutigen Freitag um 17.30 Uhr wird die Entscheidung des französischen Verfassungsgericht zur am 20. März 23 (infolge gescheiterten Misstrauensvotums) verabschiedeten Rentenreform erwartet – Demoverbotszone im Zentrum von Paris – Protestaktivitäten in über 130 französischen Städten rund um die Bekanntgabe – Demomobilisierung am gestrigen zwölften „Aktionstag“: rückläufig, doch noch immer präsent – Gewerkschaften bis hin zur CFDT kündigen eine Fortsetzung der Oppositionstätigkeiten gegen die Reform an – „Dialog“ mit der Regierung war krachend gescheitert, während Staatspräsident Emmanuel Macron auf der CFDT-Spitze herumhackt

Buchstäblich verbarrikadiert war an diesem Freitag, den 14. April der Sitz des französischen Verfassungsgerichts in der Nähe des Louvre-Museums im Pariser Zentrum. So bereiteten sich Justiz und Staatsmacht auf die Bekanntgabe des verfassungsgerichtlichen Urteils zur Renten„reform“, die für den heutigen Nachmittag ab 17.30 Uhr angekündigt worden ist, vor. (Die Bekanntgabe erfolgt nach dem heutigen Redaktionsschluss bei Labournet.de; wir werden aber um eine zeitnahe Ergänzung bemüht bleiben.)

Seit acht Uhr früh waren rundherum Absperrgitter aufgezogen und Polizeikräfte rund um das Gebäude des Conseil constitutionnel (C.C.) stationiert wurden. Dort wurden in einer Zone, die vom Louvre im Süden bis zum Sentier-Viertel, der historischen Börse und dem Sitz der Nachrichtenagentur AFP im Norden reicht, den ganzen Tag über Demonstrationen verboten. (Vgl.: https://www.sortiraparis.com/actualites/a-paris/articles/291945-manifestations-interdites-pres-du-conseil-constitutionnel-metro-louvre-rivoli-ferme-ce-14-avril

und https://actu.fr/ile-de-france/paris_75056/retraites-manifestations-interdites-aux-abords-du-conseil-constitutionnel-le-metro-ferme_58931842.html)

Das vorab ausgesprochene Verbot sorgt dafür, dass eine Teilnahme als eine Straftat geahndet werden kann. Dies ist dann nicht der Fall, wenn eine Person an einer lediglich unangemeldeten Demonstration teilnimmt – handele es sich nun um eine grundsätzlich erlaubte echte „Spontandemonstration“, oder um eine deren juristische Voraussetzungen nicht erfüllende, nicht angemeldete Demo. Auch wenn Innenminister Gérald Darmanin anlässlich von Diskussionen um polizeiliche Maßnahmen und Festnahmen im Laufe des März d.J. behauptete, es sei berechtigt, wenn Teilnehmer/innen an unangemeldeten Demonstrationen festgenommen würden, da diese schließlich Straftäter/innen seien ( https://www.tf1info.fr/societe/participer-a-une-manifestation-non-declaree-peut-il-etre-illegal-2251781.html ), trifft dies nicht zu. Aber das Aussprechen eines Demo-Verbots ändert die rechtlichen Voraussetzungen. Die Teilnahme wird dann zur Ordnungswidrigkeit; die Organisierung hingegen zum Vergehen, auf das bis zu sechs Monaten Haft als Höchststrafe angedroht werden.

Studierende der Sorbonne rufen für den heutigen Freitag ab 14 Uhr zu einer nicht offiziell angemeldeten Demonstration ab dem Saint-Lazare-Bahnhof auf. Letzter liegt außerhalb der Verbotszone. Um 17 Uhr soll diese zu einer für dann in der Nähe des Louvre-Museums angekündigten Kundgebung stoßen. Hierbei wird sich zeigen müssen, was genau passiert.

Innenminister Darmanin ist übrigens derselbe Protagonist, welcher sich nicht scheute, eine Streichung öffentlicher Subventionen für die traditionsreiche Ligue des droits de l’homme (LDH, „Liga für Menschenrechte“) anzukündigen, falls diese sich weiterhin erdreiste, so viel Kritik an von ihr behaupteter Polizeigewalt zu üben. Die LDH ist eine französische Nichtregierungsorganisation, die im Jahr 1898 in Reaktion auf die Dreyfus-Affäre gegründet wurde. Siehe:

Am Freitag um die Mittagszeit fanden bereits eine Reihe von Aktionen im historischen Pariser Stadtzentrum statt, wo Staatspräsident Emmanuel Macron die Baustelle der Pariser Kathedrale Notre-Dame – diese befindet sich derzeit im Wiederaufbau infolge des dort am 15. April 2019 ausgebrochenen Feuers, zu dessen Augenzeuge der Verf. gehörte – besuchte. Aus Anlass des Besuches ließ Emmanuel Macron den etwas kryptisch bleibenden Satz ab: Ne rien lâcher, c’est ma devise (also: „Nichts ablassen oder auf-/nach-/preisgeben, das ist mein Grundsatz“). Dies könnte so interpretiert werden, dass er nichts kommentiere, was die bevorstehende Entscheidung des Verfassungsgerichts betrifft; aber auch als indirekte Antwort auf die Demonstrierenden, weil die Maxime << On (ne) lâche rien >>, also sinngemäß: „Wir geben nichts auf/nichts nach“, seit den Massenprotesten gegen die damalige Rentenreform unter Nicolas Sarkozy im Frühherbst 2010 – trotz damaliger Niederlage – zum Titel eines bekannten Songs und Demo-Hits geworden ist. (Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=x6_7Mbp76jU) Man könnte es also auch als Provokation interpretieren.

Um die Mittagszeit fanden rund um den Macron-Besuch ebenfalls mehrere Aktionen und Aktivitäten, insbesondere der Gewerkschaften, im Pariser Stadtzentrum statt. Ein mit Protestslogans beschrifteter Lastwagen der CGT wurde gestoppt, doch konnte ein Seine-Boot, das ebenfalls Aufschriften dieser Art trug, an Notre-Dame und dadurch auch an Staatspräsident Macron vorbeischippern. Ein Besuch von Premierministerin Borne in einem Krankenhaus wurde gestört. In mehreren Städten wie Marseille, Rouen und Le Havre fanden Verkehrsblockaden statt. Vgl. u.a.:

In der Vorwoche hatte es bereits Debatten und Auseinandersetzungen gegeben, weil Emmanuel Macron sich relativ provokant gab, als er sich von seiner China-Reise aus gegenüber Pressevertreter/inne/n äußerte und dabei auf dem Chef der CFDT (des rechtssozialdemokratisch geführten, im landesweiten Durchschnitt inzwischen bei Personalvertretungswahlen stimmenstärksten Dachverbands in Frankreich), Laurent Berger, herumhackte. Macron bezeichnete dessen Verhalten im derzeitigen Konflikt um die Renten„reform“ sinngemäß als verantwortungslos, da die CFDT-Spitze sich anders als bei früheren Konflikten nicht konstruktiv mit Detailvorschlägen in den „Reform“prozess einbringe. Laurent Berger (er hatte zuvor aufgrund der Methoden der Regierung bei der Durchsetzung der Rentenreform von einer „Krise der Demokratie“ gesprochen, was Macron wohl am meisten auf die Palme trieb) reagierte daraufhin ungehalten und rief Macron dazu auf, „seine Nerven zu behalten“; dies werde er „nicht wiederholen“. ( https://www.lefigaro.fr/politique/depuis-pekin-emanuel-macron-garde-un-oeil-sur-laurent-berger-20230405 und https://www.lefigaro.fr/flash-actu/attaques-contre-la-cfdt-berger-appelle-macron-a-garder-ses-nerfs-20230405)

Der Grund für den ziemlich gereizten Tonfall zwischen den beiden Protagonisten dürfte – im generellen Kontext der Kraftprobe um die Rentenreform – aber auch darin liegen, dass beide sich zuvor relativ nahe standen. Laurent Berger hatte 2017 an dem Projekt gearbeitet, innerhalb der Macron-Regierung einen sozialdemokratischen Flügel zwecks „sozialpartnerschaftlicher“ Begleitung von „Reform“schritten aufzubauen. Dies scheint nun jedoch weitestgehend gescheitert und hinterlässt einen Scherbenhaufen zwischen Leuten, die sich sonst eigentlich relativ nahe stehen könnten. Macrons Premierministerin Elisabeth Borne setzte sich darauf ihrerseits per Twitter-Botschaft ein Stück weit von ihrem Vorgesetzten Emmanuel Macron ab und versprach, freilich nur symbolisch, Respekt für die Gewerschaften. Während aus der bürgerlich-konservativen Opposition nun immer wieder ständig die Methodenkritik laut wird, die Regierung sei doch bedauerlicherweise unfähig gewesen, bei ihren Vorhaben Laurent Berger mit ins Boot zu nehmen. Vgl. u.a.:

Dies Alles verhinderte nicht, dass Elisabeth Bornes scheinbarer Dialogversuch mit den französischen Gewerkschaften vorläufig im Fiasko endete. Am Mittwoch, den 05. April wurden Letztere an ihrem Amtssitz empfangen, doch wollten über die Rentenreform reden – die Premierminister hingegen über Alles außer derselben. Nach insgesamt 55 Minuten dauernden ergebnislosen Gesprächen darüber, worüber man sprechen könnte oder auch nicht, stande alle Gewerkschaftsvertreter/innen auf und gingen. ( https://www.tf1.fr/tmc/quotidien-avec-yann-barthes/videos/rencontre-elisabeth-borne-intersyndicale-55min-chrono-et-aucune-avancee-14350616.html und https://www.tf1info.fr/politique/video-tf1-reforme-des-retraites-dialogue-de-sourds-entre-la-premiere-ministre-elisabeth-borne-et-les-syndicats-2253160.html)

Vor diesem Hintergrund verkündet jedenfalls derzeit auch die CFDT im Einklang mit anderen Gewerkschaften, ihren Protest gegen die Rentenreform nicht einstellen zu wollen, auch falls das Verfassungsgericht diese als juristisch nicht zu beanstanden bezeichnet (was zum Zeitpunkt unseres Redaktionsschlusses noch nicht feststeht).

An den beiden Donnerstagen, dem 06. April und dem 13. April fanden erneut Demonstrationen in zahlreichen französischen Städten statt (Einzelheiten folgen mit dem nächsten Artikel).

Im Zusammenhang mit diesen beiden Aktionstagen – dem elften und dem zwölften, vorige und diese Woche – fanden auch einige kurze doch spektakuläre Aktionen an prominenten Orten statt:

Quelle: labournet.de… vom 15. April 2023

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