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Die Illusion der Revolution durch die Revolte

Eingereicht on 5. Dezember 2019 – 9:20

Matias Maiello. Wir erleben derzeit den zweiten großen Zyklus des Klassenkampfes seit der Krise von 2008. Begonnen Ende 2018 mit dem Aufstand der Gelbwesten, durchquert er seither die unterschiedlichsten

Breitengrade. Was ist hierbei die Verbindung zwischen den spontanen Elementen der Bewegungen und revolutionärer Politik?

Wir erleben derzeit den zweiten großen Zyklus des Klassenkampfes seit der Krise von 2008. Begonnen Ende 2018 mit dem Aufstand der Gelbwesten, durchquert er seither die unterschiedlichsten Breitengrade. Er ist kraftvoll in Lateinamerika angekommen, durch Puerto Rico, Honduras, Haiti, Ecuador; den derzeit höchsten Punkt hat er in Chile erreicht, während der jüngste Putsch in Bolivien, trotz der Kapitulation von Evo Morales und der MAS, Widerstand ausgelöst hat.

Diese Situation stellt uns vor ein ähnliches Problem wie das, das Lenin in seiner klassischen Broschüre „Was tun?“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieben hat. Das „spontane Element“ ist die embryonale Form des Bewussten. Je mächtiger jedoch der spontane Aufstieg der Massen, desto notwendiger ist die Entwicklung der bewussten Elemente, also starker revolutionärer Organisationen. Wie damals entstehen heute jedoch Strömungen, die das Gegenteil behaupten: nämlich, dass der spontane Aufschwung es ermöglicht, den Kampf gegen Reformismus und Bürokratie zu vermeiden.

Diese Strömungen drücken sich heute darin aus, dass sie sich den gegebenen Formen der Revolte anpassen, die die gegenwärtigen Prozesse (die wir in “Revolte und Revolution im 21. Jahrhundert” analysiert haben) durchzogen haben und weiterhin durchziehen. Dabei vernachlässigen sie den Kampf um die Hegemonie der Arbeiter*innen. Sie tun dies genau in dem Moment, wo die Prozesse wie der chilenische die Notwendigkeit aufzeigen, eine höhere Stufe zu erreichen. Um diese Debatte zu veranschaulichen, nehmen wir als Beispiel die Vorschläge von Jorge Altamira, der sich seit dem Fraktionskampf in der argentinischen „Partido Obrero“ (Arbeiterpartei — PO) immer deutlicher in diese Richtung entwickelt.

Massenmobilisierungen und politischer Generalstreik

In einem kürzlich erschienenen Video, das sich auf den chilenischen Prozess bezieht, beschreibt Altamira eine Art neue Theorie über die „Gleichstellung“ von Massendemonstrationen in den politischen Generalstreik. Wie er es ausdrückt:

… Diese Demonstrationen, die in Chile unvermindert andauern, konnten den Staatsapparat teilweise lähmen, was bei anderen Revolutionen durch einen politischen Massenstreik erreicht wurde, vielleicht [sic!] tiefgründiger als diese Lähmung. Aber wir können solche gigantischen Demonstrationen, Zusammenstöße mit der Polizei, Zusammenstöße mit den Streitkräften, andauernden Mobilisierungen, mit jenen Revolutionen vergleichen, bei denen es der Massenbewegung mit politischen Streiks gelang, den Staatsapparat lahmzulegen.

Natürlich sind die gewaltigen Demonstrationen in ganz Chile und ihre Beharrlichkeit, wie sie am Freitag, den 15. November, erneut gezeigt wurden, bestimmende Elemente in der Entwicklung des laufenden Prozesses, der die Regierung von Piñera in Schach hält. Aber kann ihre Fähigkeit, den Staat lahmzulegen, mit einem politischen Massenstreik „gleichgestellt“ werden? Hat der politische Generalstreik – der natürlich auch Mobilisierung bedeutet – einen relativen Ersatz gefunden, sodass er seine Bedeutung verringert? Wenn ja, müssten mehr als ein Jahrhundert marxistischer Debatten aus dem Fenster geworfen werden.

Wo Altamira „Gleichstellung” sieht, liegt eigentlich einer der Scheidewege, vor denen der chilenische Prozess steht und der sich in vielen der Prozesse der letzten Jahre widerspiegelt: Die Möglichkeit der Überwindung der Phase der Aktionen des Widerstands oder des extremen Drucks. Einer der großen Stolpersteine auf diesem Weg ist, dass in den meisten Revolten der letzten Zeit die Massenbewegung unorganisiert, im Wesentlichen als „Bürger*innen“ eingreift. Die Arbeiter*innenklasse, die die „strategischen Positionen“ für das Funktionieren der Gesellschaft kontrolliert (Verkehr, Großindustrien und Dienstleistungen), verzichtet bis auf wenige Ausnahmen darauf, diese entscheidende Kraft einzusetzen, die in der Lage wäre, das Regime als Ganzes zu brechen. Stattdessen greift sie als Teil der „Bürger*innen“ ein, die im „Volk“ im Allgemeinen aufgelöst ist.

Es handelt sich aber nicht nur um eine negative Kraft: Die Intervention der Arbeiter*innenbewegung ist diejenige, die die Sektoren im Kampf um sich selbst in einem Klassenbündnis gegen das gesamte bürgerliche Regime vereinigen kann. Der mechanische Katastrophismus, den Altamira traditionell vertreten hat, hindert ihn daran, zu sehen, dass die historische Krise, in der sich der Kapitalismus befindet, die Ausgebeuteten und Unterdrückten nicht alle gleichermaßen trifft. Auf diese relative Heterogenität stützen sich die Bourgeoisie und das Regime, um zu manövrieren und zu versuchen, „legitime“ von „gewalttätigen“ Demonstrant*innen zu spalten, wobei mit letzteren die Armen der Peripherie und die Jugendlichen, die sich der Repression entgegenstellen, zusammengefasst werden.

Der Streik am Dienstag, den 12. November, der der wichtigste seit dem Ende der Diktatur war, war genau ein Zeichen für die Bedeutung dessen, was in Altamiras Analyse eine Nebenrolle zu spielen scheint: der (nur teilweise stattgefundene) Einstieg der Arbeiter*innenbewegung in den Prozess mit ihrem eigenem Gewicht, nicht mehr nur als Teil der „Bürger*innen“. Der Streik ging über die Routine der bürokratischen Führungen des „Tisches der Sozialen Einheit“ hinaus und war in den Bereichen Gesundheit und Bildung sowie im öffentlichen und kommunalen Bereich fast vollständig, wobei die Hafenarbeiter*innen der entschlossenste Sektor waren, der fast 95 % der Häfen lahm legte und auch die Minenarbeiter*innen in geringerem Maße mit sich zog. Strategische Bereiche des öffentlichen Verkehrs, Flughäfen, Industrien oder Grenzübergänge sowie Bereiche wie die Forstwirtschaft wurden jedoch nicht bestreikt. Andererseits behinderten die Straßenblockaden und Mobilisierungen das normale Funktionieren des öffentlichen Nahverkehrs auf dem Land und in den Städten. Hunderte von Straßensperrungen und Barrikaden breiteten sich im ganzen Land aus, ebenso wie massive Mobilisierungen, die einen Tag lang aufzeigten, wie die Stärke der Einheit von Arbeiter*innen, Jugendlichen und armen Sektoren aussehen kann.

Dieser Einsatz der Arbeiter*innenklasse – begrenzt und nur einen Tag lang – markierte einen Sprung im Gesamtprozess. Das konnte man an der Angst erkennen, die er dem Regime einflößte. Die Repressivkräfte zögerten, offenbarten ihre inneren Reibungen. Die bürgerlichen Parteien schlossen sich sofort ein, um eilig einen neuen großen Verrat zu verhandeln, das so genannte „Abkommen für sozialen Frieden und die neue Verfassung“. Dieses Abkommen mit seinen Vorschlägen für Volksentscheide und einer manipulierten Verfassung hat das Ziel, die Entwicklung des Klassenkampfes zu stoppen. Wenn ein einziger Tag entschiedener Intervention eines Teils der Arbeiter*innenklasse — ohne die meisten ihrer strategischen Sektoren -, der sich mit der Jugend und armen Sektoren vereinte, dies bewirkt, ist es nicht schwer vorstellbar, was passieren würde, wenn die Arbeiter*innenklasse beginnt, die Bürokratie zu überwinden und mit all ihrem Gewicht einzugreifen.

Die grundlegende Rolle strategischer Positionen in Produktion, Verkehr und Dienstleistungen nicht zu sehen, bedeutet, nicht an eine Revolution zu denken, sondern höchstens an eine Bewegung extremen Drucks. Was würde zum Beispiel passieren, wenn die Minenarbeiter*innen die Produktion auf unbestimmte Zeit lahm legen würden, mit all den Folgen, die das nicht nur national hätte – wo der Bergbau rund 10 % des BIP ausmacht –, sondern international, da die chilenische Kupferproduktion beispielsweise mehr als 27 % der weltweiten Produktion ausmacht? Oder, um zum konkreten Beispiel des Generalstreiks und der Blockaden in Bolivien im Oktober 2003 während des „Gaskriegs“ zu kommen: Hier konnten wir sehen, was der Kampf in Senkata und seinen Raffinerien bedeutete, die Verknappung der Vorräte; der Einsatz des Streiks, die Bauernblockaden usw. führten dazu, dass der Präsident Sánchez de Lozada gestürzt wurde. Wie lange würde sich die bolivianische Putschregierung von Áñez mit einem solchen Streik halten können?

Im Gegensatz zu dem, was Altamira unterstellt– der die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung des letzten Jahrhunderts ausblendet – würde ein politischer Generalstreik eine Kraft bedeuten, die allem, was wir bisher gesehen haben, weit überlegen ist. Das vom Pinochetismus in Chile übernommene Regime würde nicht länger als einen Seufzer dauern. Natürlich stellt der Generalstreik zwar, wie Trotzki betonte, die Frage der Macht auf, löst sie aber nicht. Und hier kommen wir zur zweiten Definition von Altamira.

Bürger*innenversammlungen, um Druck auszuüben, oder echte Organe der Selbstorganisation und Selbstverteidigung?

Das zweite Element, das Altamira hervorhebt, ist folgendes:

… In Chile haben sich Bürger*innen- oder Volksversammlungen (“cabildos”) gebildet, was bedeutet, dass in gewisser Weise ein Organ, wenn nicht gar ein Machtinstrument der Massen gegenüber dem Staat errichtet wird, der in diesem Sinne ein Machtorgan ist.… Was meinen wir damit, „in diesem Sinne“? Wenn der Staat morgen sagt, dass man nicht demonstrieren darf und die Volksversammlungen eine Demonstration fordern, wird sich das Volk an die Volksversammlungen halten. Sie reichen nicht aus, um eine Regierung zu stürzen oder eine neue Regierung zu bilden, aber das relativ ausgedehnte Gewaltmonopol des Staates wird abgebaut. In diesen Volksversammlungen oder Bürger*innenversammlungen werden Forderungen, Proklamationen usw. formuliert.

Wir wissen nicht, ob diese Analyse von Altamira beabsichtigt ist oder auf der Unkenntnis der Situation basiert, was natürlich verständlich wäre, da die PO in 50 Jahren ihres Bestehens keinen Beitrag zum Aufbau einer revolutionären Organisation in Chile geleistet hat. Aber sicher ist, dass die Bürger*innenversammlungen bei weitem nicht „in gewisser Weise“ Machtorgane sind, wie Altamira behauptet, sondern eine Politik, die von der Kommunistischen Partei (KP) und der Frente Amplio (FA) als Teil ihrer Strategie des „Verfassungsprozesses“ im Rahmen des derzeitigen Regimes gefördert wurde. Sie werden als „Instanzen des Dialogs“, als „Beratungsräume“ reglementiert, in denen die Proklamationen und Forderungen, auf die Altamira hinweist, formuliert werden, um sie an die Parlamentarier*innen dieser Parteien zu senden.

Es ist auffallend, dass seine Bezugnahme auf die „Cabildos“ dazu nichts zu sagen hat. Man könnte denken, dass es sich um eine Ungenauigkeit eines eilig aufgenommenen Videos handelt, aber der Konferenzartikel seiner Tendenz ist noch kategorischer und sagt, dass „die Versammlungen und Cabildos in Chile die Frage der politischen Macht stellen“. Nun, es tut uns leid, ihnen die schlechte Nachricht mitzuteilen, aber heute “stellen” die Cabildos die Frage nach der Macht nicht. Das hindert die Massen nicht daran, sie sich in Zukunft irgendwann anzueignen und ihnen einen ganz anderen Inhalt zu geben, aber heute ist das bei weitem nicht Realität. Natürlich kann man ohne den Anspruch, wirklich in den chilenischen Prozess einzugreifen, alles sagen.

Unsere Genoss*innen der Partei Revolutionärer Arbeiter*innen (PTR), die aktiv in den Prozess in Santiago, Antofagasta, Valparaiso, Arica, Temuco, Puerto Montt, Rancagua und anderen Großstädten des Landes eingreifen (was man täglich bei La Izquierda Diario Chile verfolgen kann, derzeit mit 2 Millionen Besuchen pro Monat), nehmen an einigen dieser Bürger*innenversammlungen teil, wo sie von einem Sektor dazu genutzt werden, um sich selbst zu organisieren — was die Ausnahme ist -. Aber sie kämpfen darum, ihnen einen anderen Inhalt zu geben, als den, den sie aktuell haben. Die Versammlungen sollen dazu dienen, das Programm des Kampfes zu definieren und die Mobilisierung zu organisieren. Dies impliziert natürlich einen offenen politischen Kampf mit der KP und der FA, den Altamira symptomatischerweise übersieht.

Die Priorität der PTR besteht jedoch darin, echte Organe der Selbstorganisation zu fördern. In diesem Sinne gibt es Erfahrungen der Selbstorganisation, die eine wichtige Rolle im Kampf gespielt haben und ein wahres Beispiel auf nationaler Ebene sind. Die fortschrittlichste davon findet in Antofagasta statt, einer Kupferbergbau-Stadt in einer der Regionen, in der sich ein großer Teil der chilenischen Produktionssektoren konzentriert. Wir meinen das Notfall- und Rettungskomitee („Comité de Emergencia y Resguardo“). Ein Raum der Selbstorganisation, der Arbeiter*innen im Bildungssektor, im öffentlichen Dienst, Hafenarbeiter*innen, Studierende, Anwohner*innen, Menschenrechtsorganisationen, Künstler*innen, Kommunikationsfachleute, soziale und politische Organisationen verbindet. Das Komitee leistet den Verwundeten medizinische Hilfe, leistet Rechtsbeistand bei staatlicher Verfolgung und hat in dieser wichtigen Stadt Aktionen organisiert. Am Dienstag, den 12. November, bildete das Komitee eine Einheitsfront mit den Sektoren des Gewerkschaftsverbandes CUT, die zur Mobilisierung von mehr als 25.000 Menschen (in einer Stadt mit insgesamt 285.000 Einwohner*innen) führte und Streikposten zur Sicherung des Streiks organisierte. Das Notfall- und Rettungskomitee wiederum hat den Vorschlag eines unbefristeten Generalstreiks bis zum Fall der Regierung Piñeras und all ihrer Repression aufgeworfen. Es rief dazu auf, der Politik der Regierung mit ihrer Farce einer Verfassungsgebenden Versammlung nicht zu vertrauen und für eine Freie und Souveräne Verfassunggebende Versammlung zu kämpfen, in der die arbeitenden und armen Menschen selbst die Lösungen für die Probleme der großen Mehrheit entscheiden und organisieren.

Natürlich entsteht diese Art von Erfahrung nicht von einem Tag auf den anderen, wie Altamira zu denken scheint, der imaginäre Räte sieht, die „die Frage der Macht stellen“. Neben der Spontaneität steckt dahinter viel Militanz, ebenso wie in den Kämpfen gegen die Reglementierung durch KP und FA in den Bürger*innenversammlungen. Genauso in den Erfahrungen des Kampfes wie um das Krankenhaus Barros Luco in Santiago, oder die Einheit der Studierenden mit den Hafenarbeiter*innen in Valparaíso, etc. Die reine Spontaneität, die sich Altamira vorzustellen scheint, ist ein Mythos, wie Rosa Luxemburg in ihrem klassischen Text Massenstreik, Partei und Gewerkschaften zeigt. Aber natürlich kann sie ein beruhigendes Element sein, um zu rechtfertigen, dass man sich auf Kommentare beschränkt, angesichts eines Prozesses vom Ausmaß des chilenischen, der direkt auf der anderen Seite der Anden stattfindet.

Verfassungsgebende Versammlung und die Frage der Arbeiter*innenmacht

Schließlich weist Altamira darauf hin, dass im chilenischen Prozess:

…eine Losung der Macht existiert. Und diese Losung der Macht, die die Massen selbst in den Kampf verwoben haben, ist nicht auf die Macht übertragbar, zum Beispiel eine Verfassungsversammlung.

Dann stellt er den Vorschlag der Verfassungsgebenden Versammlung zu Recht den verschiedenen Versionen des „Verfassungsprozesses“ innerhalb des Regimes gegenüber. In diesem Punkt sind wir uns einig. Derzeit führen unsere Genoss*innen der PTR einen harten politischen Kampf gegen die Versuche der Abweichung des Regimes.

Aber was bedeutet Altamiras Behauptung, dass die Verfassungsversammlung eine “Losung der Macht” ist? Und wenn es sich um eine „Losung der Macht“ handelt, in welchem Verhältnis steht sie dann zum Vorschlag einer „Regierung der Arbeiter*innen“: Kombinieren sie sich, ersetzen sie sich gegenseitig, sind sie gleich? Man weiß es nicht. Um die Verwirrung noch zu vergrößern, behauptet er in einem kürzlich erschienenen Artikel über Chile, dass wir für „eine souveräne Verfassungsgebende Versammlung kämpfen müssen, die die politische Richtung des Staates übernimmt“. Aber welcher Staat? Ein bürgerlicher Staat, ein Arbeiter*innenstaat? Es scheint, dass es nicht relevant genug ist, um es zu erklären. So wirft Altamira mehr als eineinhalb Jahrhunderte Diskussionen über den revolutionären Marxismus, in diesem Fall über den Staat, über Bord.

Wenn wir mit „Losung der Macht“ meinen, dass keine Institution des bürgerlichen Regimes die Entscheidungen der Verfassungsgebenden Versammlung einschränken, überarbeiten oder ein Veto einlegen darf, was den Sturz von Piñera voraussetzt und dass diese Versammlung auf den Ruinen des derzeitigen Regimes aufgebaut wird und die volle Freiheit haben muss, alle großen Probleme des Landes anzugehen und zu lösen, können wir uns einigen. Aber etwas ganz anderes ist, dass eine Verfassungsgebende Versammlung die Macht hat, ihre Resolutionen wirksam durchzusetzen, d.h. den Widerstand (der Repressionskräfte und halbstaatlichen Banden) zu überwinden, den die Bourgeoisie gegen jede Maßnahme einsetzen wird, die ihren grundlegenden Interessen widerspricht. Mit der derzeitigen Rückkehr der Armeen zu einem direkten Eingreifen gegen die Massen in verschiedenen Ländern der Region dürfte das eigentlich nicht erklärungsbedürftig sein. Um diesen (bewaffneten) Angriffen zu begegnen, bedarf es einer alternativen Macht, die auch die Selbstverteidigung der Massenbewegung gewährleisten kann.

Der Kampf für eine freie und souveräne Verfassungsgebende Versammlung, die, wie Trotzki betonte, „die demokratischste Form der parlamentarischen Vertretung“ ist, kann eine fundamentale Rolle spielen. Denn gerade im Kampf, sie auf die Beine zu stellen, und, wenn sie umgesetzt wird, im Kampf, ihre Resolutionen gegen den Widerstand der Kapitalist*innen durchzusetzen, können immer breitere Teile der arbeitenden Massen bis zum Ende ihre Erfahrungen mit der repräsentativen Demokratie machen. Dort können sie die Notwendigkeit erkennen, die Stellung als atomisierte „Bürger*innen“ zu überwinden und sich in den Betrieben, Fabriken, dem Verkehr, den Schulen, den Universitäten usw. bis zum Ende zu organisieren – mit gewählten Delegierten, um ihre eigenen demokratischen Machtorgane (Räte oder Sowjets) und ihre eigenen Selbstverteidigungsorganisationen aufzubauen. Das sind übrigens die Grundpfeiler der Arbeiter*innenregierung, für die wir kämpfen.

Altamiras Vorschlag einer „souveränen verfassungsgebenden Versammlung, die die politische Führung des Staates übernimmt“, ohne anzugeben, um welche Art von Staat es sich handelt – unabhängig davon, wie sehr er mit dem Slogan für „Cordones Industriales“ [die Fabrikkoordinierungen Anfang der 1970er Jahre in Chile, A.d.Ü.] oder Organismen dieser Art verbunden ist – lässt eine grundlegende strategische Leerstelle offen, nicht weniger als die Frage nach dem Klassencharakter der Macht, für die man kämpft[1]. Wir wissen nicht genau, was der Unterschied zwischen Altamiras Ansatz und solchen wie dem „kombinierten Staat“ ist, nach dem Räte (Sowjets) einfach nur Instanzen sind, die an einen Staat gebunden sind (dessen Klasseninhalt nicht bekannt ist), und sich einfach nur „Arbeiter*innenangelegenheiten“ widmen. Eine solche Theorie steht offensichtlich dem Kampf für eine reale Macht entgegen, mit der die Arbeiter*innen regieren können und so den politischen Kurs der Gesellschaft sowie die rationale Planung der wirtschaftlichen Ressourcen auf der Grundlage des staatlichen Eigentums an den Produktionsmitteln definieren können.

Illusion der Revolte und politischer Kampf

Wenn nun, wie Altamira sagt, die massiven Mobilisierungen, auch wenn sie staatsbürgerlichen Charakter haben, ausreichen, um den Staat lahmzulegen, warum sollte dann der Kampf gegen die Bürokratie des Tisches der Sozialen Einheit für die Perspektive eines politischen Generalstreiks so wichtig sein? Warum sollte man sich bemühen, eine Arbeiter*inneneinheitsfront durchzusetzen? Wenn die Bürger*innenversammlungen, die Petitionen ausarbeiten, „in gewisser Weise“ Organe der Macht sind, warum sollte der politische Kampf gegen KP und FA so unerlässlich sein, um echte Organe der Selbstorganisation zu entwickeln? Wenn eine parlamentarische Institution — wenn auch so demokratisch wie möglich — wie eine Verfassungsgebende Versammlung an sich eine „Losung der Macht“ ist, warum sollte dann die Hegemonie der Arbeiter*innenklasse so unersetzlich sein?

Sicher ist, dass die drei von Altamira aufgezeigten Elemente des Prozesses in Chile zu der gleichen Konsequenz führen: den Kampf der Parteien mit dem Reformismus und der Gewerkschaftsbürokratie zu verwässern. Diese Herangehensweise kann dazu dienen, die Illusion zu erwecken, dass es nicht so unerlässlich ist, starke revolutionäre Organisationen aufzubauen — weder national noch international. Aber die Realität, die die Prozesse des letzten Jahrzehnts gezeigt haben, ist ganz anders: Es gab wichtige Prozesse, die in Abweichungen „nach links“ endeten, wie in Griechenland mit Syriza — zu deren Wahl Altamira damals aufrief -, die schließlich die Kürzungsprogramme der Troika durchsetzte und die Rückkehr der konservativen Nea Dimokratia vorbereitete, oder Podemos in Bezug auf die spanische 15M-Bewegung, die gerade in eine gemeinsame Regierung mit der PSOE eintritt. Es gab auch Prozesse, die schließlich von der Rechten politisch kapitalisiert wurden, wie es zum Teil in Frankreich bei den letzten Europawahlen geschah, als Le Pen die „nützliche Stimme“ gegen Macron kanalisierte; oder wie im Juni 2013 in Brasilien, wo angesichts der Angriffe der PT und dem Fehlen einer alternativen Linken schließlich die Proteste abebbten und den Mobilisierungen der Rechten den Platz überließen, auf die sich die Amtsenthebung von Dilma und dann der institutionelle Putsch stützte. So könnten wir etliche weitere Beispiele nennen.

Anstelle von den fortgeschrittensten Elementen der spontanen Bewegung auszugehen, um ihre Grenzen zu überwinden, verwandelt Altamira letztere in Tugenden, um den Kampf gegen Reformismus und Bürokratie zu verwässern. Er ist nicht der Erste und wird auch nicht der Letzte sein, der dies tut. Zu seiner Zeit hatte der argentinische Trotzkist Nahuel Moreno bereits vorgeschlagen, dass die Revolution ein unaufhaltsamer „Zug“ sei, der aus eigenem Antrieb über die Absichten der Führungen der Massenbewegung hinausging, seien sie kleinbürgerlich oder gar bürgerlich. In Übereinstimmung damit kam er zu dem Schluss, dass „es nicht zwingend die Arbeiter*innenklasse und eine revolutionäre marxistische Partei sein müssen, die den Prozess der demokratischen Revolution in Richtung der sozialistischer Revolution führen…“[2]. Diese Theorie scheiterte kläglich. Altamira, der seine Gegner*innen in der Regel als „Morenist*innen“ bezeichnet, sollte dies bedenken[3].

Lenin hatte Recht

Altamiras Herangehensweise an den chilenischen Prozess, die wir in diesem Artikel kritisiert haben, unterscheidet sich nicht von der, die er in einem anderen Kontext in den Debatten über die argentinische Situation zum Ausdruck gebracht hat. In diesem Fall versuchte er, die Bedeutung des politischen Kampfes mit dem Kirchnerismus und der Gewerkschaftsbürokratie zu verwässern. Die Verantwortung beider, jeglichen Aufruf zu einem minimal ernsthaften Kampf nach den Massenprotesten gegen die Rentenreform im Dezember 2017 aufzugeben und stattdessen alle Angriffe geschehen zu lassen, nach dem Motto „2019 gibt es Wahlen“, scheint für die Gestaltung der aktuellen Situation keine Bedeutung gehabt zu haben.

In der Welt von Altamira wird die Politik als eine Ansammlung von “unbestatteten Leichen” dargestellt. Nämlich: a) „Die Ergebnisse der Wahlen vom Sonntag, den 27. Oktober, haben die lange unbestattete Leiche des Macrismus begraben“; b) „Die Vorstellung des Peronismus als ‘unbestattete Leiche’ ist Teil der Geschichte der PO“; c) „Bei dieser Wahl fand ein — nennen wir es ehrenhaftes — Begräbnis eines Regimes statt, das eine Leiche war“; dies sind einige der traurigen Sätze aus jüngeren Artikeln, mit denen die Tendenz der PO die politische Realität zu betrachten scheint.

In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass sich für Altamira das Problem der Linken (und der Massenbewegung) in Argentinien mehr oder weniger darauf reduzierte, die Zauberformel „raus mit Macri und für eine Verfassungsgebende Versammlung“ zu übernehmen. Dass die Front der Linken und der Arbeiter*innen – Einheit (FIT‑U) diesen Ansatz nicht übernommen hat, habe sie zu einer „politisch erschöpften Kraft“ gemacht (glücklicherweise ist sie noch nicht in die Kategorie der „unbestatteten Leichen“ eingetreten). Am anschaulichsten ist die Grundlage, auf der er diesen Slogan als Schlüssel zur Agitation der FIT vorgeschlagen hat.

Laut Altamira war der Vorschlag von “Macri raus, souveräne verfassungsgebende Versammlung, Arbieter*innenregierung”:

…die Methode der Differenzierung vom Kirchnerismus, weil sie zwei Programme und zwei Handlungsmethode in Opposition zur macristischen Regierung gegenüberstellt. Das Differenzierungsverfahren, das darin besteht, alle Protagonist*innen der Politik (Macri, den Kirchnerismus, Massa, die Gouverneure, die Bürgermeister, den Papst, Lavagna usw.) zu verurteilen, markiert einen groben Grad der Entpolitisierung und fungiert als Selbstverkündung einer Linken, die nach wie vor die extreme Minderheit des gesamten politischen Bogens ist[4].

Dieses „Differenzierungsverfahren“, das Altamira für „grobe Entpolitisierung“ hält, betrachtete Lenin jedoch als das Hauptziel der Wahlintervention. So sagte er 1912 gegenüber der Menschewiki, die sich nicht mit den fortschrittlichen Liberalen auseinandersetzen wollten, dass:

… für die Marxisten, die Hauptaufgabe der Wahlkampagne darin [besteht], das Volk darüber aufzuklären, worin das Wesen der verschiedenen politischen Parteien beschlossen liegt, wer wofür eintritt, von welchen wirklichen Interessen sich diese oder jene Partei leiten läßt, welche Klassen der Gesellschaft sich hinter diesem oder jenem Aushängeschild verbergen[5].

Die FIT-U-Kampagne ist diesem zweiten Weg gefolgt und hat versucht, in der Agitation der Massen über das „Wesen“ sowohl des Macrismus als direkter Vertretung des Finanzkapitals, als auch des Kirchnerismus als Vertretung der „nationalen“ Bourgeoisie aufzuklären. Das heißt, nicht, dass man sie gleichsetzt, sondern dass man sagt, was jeder einzelne wirklich ist. Indem die FIT eine kompromisslose Haltung gegen den Kirchenismus beibehalten hatte, versuchte sie, diejenigen anzusprechen, die Erwartungen an ihn hatten. All dies spiegelte sich in der Agitation, den Wahlwerbespots und den Wahldebatten wider. Dies hat es uns ermöglicht – trotz des Rückgangs an Wähler*innenstimmen im Rahmen der Polarisierung –, unser Publikum, den Respekt und das Wissen über unsere Ideen (politischer Einfluss) zu erweitern.

Nun gehen diese Kämpfe, die Altamira offenbar nicht führen will, weit über die Wahlen hinaus, denn es bleibt nichts anderes übrig, als sich den „unbestatteten Leichen“ zu stellen. Im Falle der akutesten Prozesse des Klassenkampfes, wie wir im Falle Chiles gesehen haben, wird Altamiras Ansatz viel schädlicher, da er den Kampf um die Hegemonie der Arbeiter*innen aufgibt, der für den Triumph der revolutionären Prozesse grundlegend ist. Leider gibt es keinen unaufhaltsamen Zug, der uns aus eigenem Antrieb zum Sieg der sozialistischen Revolution führt. Obwohl der Kapitalismus seine eigenen Totengräber hervorbringt, gibt es keine andere Wahl, als revolutionäre Parteien aufzubauen.

Dieser Text erschien zuerst auf Spanisch in Ideas de Izquierda am 17.11.2019.

Quelle: klassegegenklasse.org… vom 5. Dezember 2019


[1] Wie Trotzki in Bezug auf die Politik, die er mit Lenin in der Russischen Revolution entwickelte, anmerkt: “Wir stellten das Problem eines Aufstands, der die Macht durch die Sowjets auf das Proletariat übertragen würde. Auf die Frage, was wir in einem solchen Fall mit der Verfassungsgebenden Versammlung tun würden, antworteten wir: ‘Wir werden sehen, vielleicht werden wir sie mit den Sowjets kombinieren’. Für uns bedeutete das eine Verfassungsgebende Versammlung, die unter einem Sowjetregime versammelt war, in dem die Sowjets die Mehrheit hatten. Und da es nicht dazu kam, liquidierten die Sowjets die Verfassungsgebende Versammlung. Mit anderen Worten, es ging darum, die Möglichkeit zu klären, die Verfassungsgebende Versammlung und die Sowjets in Organisationen derselben Klasse zu verwandeln, niemals jedoch darum, eine bürgerliche Verfassungsgebende Versammlung mit den proletarischen Sowjets zu verbinden. (“Problemas de la revolución italiana”, eigene Übersetzung.)

[2] Moreno, Nahuel, „Escuela de cuadros — Argentinien, 1984. Crítica a las Tesis de la Revolución Permanente“. Eigene Übersetzung.

[3] Dem tiefgreifenden Objektivismus von Altamira, in dem der Kampf um die Hegemonie der Arbeiter*innen keine größere Bedeutung hat, steht eine zutiefst normativistische und subjektivistische Analyse der Revolutionen gegenüber, wie in seinen Texten über Kuba sichtbar ist. In ihnen definiert er den Staat, der aus der Revolution hervorgegangen ist, mit der seltsamen Formel – aus der Sicht von Marxist*innen — des „kleinbürgerlichen bürokratischen Staates“. Die Grundlage nach Altamira ist, dass „die Enteignung des Kapitals durch die Kubanische Revolution im Gegensatz zur Russischen Revolution eine Zwischengesellschaft geschaffen hat, die nicht mehr richtig kapitalistisch, aber noch weniger sozialistisch ist“ (Altamira, Jorge, „Die Kubanische Revolution: eine beklagenswerte Rückkehr zum Morenismus“). Trotzki kämpfte gegen die Visionen, die die UdSSR als sozialistische Gesellschaft darstellten, und leugnete dennoch nicht den „Arbeiter*innencharakter“ des Staates. Trotzki debattierte damals gegen subjektivistische Visionen wie die von Altamira. Im Streit mit Burnham und Carter und angesichts der brutalen Degeneration des von Stalin geführten russischen Arbeiter*innnestaates stellt Trotzki fest: „Heißt das jedoch, dass der Arbeiterstaat, der in Gegensatz zu den Forderungen unseres Programms geriet, damit aufhört ein Arbeiterstaat zu sein? Eine rattenverseuchte Leber entspricht nicht mehr dem normalen Typus der Leber. Doch deswegen hört sie nicht auf eine Leber zu sein. [.…] Der Klassencharakter des Staates ist durch sein Verhältnis zu den Formen des Eigentums an den Produktionsmitteln bestimmt.“ Und er fügte hinzu: „Solange jedoch dieser Widerspruch nicht aus dem Gebiet der Verteilung in das der Produktion umgeschlagen ist und das nationalisierte Eigentum und die Planwirtschaft nicht gesprengt hat, solange bleibt der Staat ein proletarischer.“ Insbesondere gegen die Definition von Burnham und Carter heißt es: „ihre unmarxistische Auffassung von der UdSSR als einem nichtproletarischen und nichtbürgerlichen Staat öffnet allen möglichen Schlussfolgerungen Tür und Tor, Darum muss diese Auffassung kategorisch zurückgewiesen werden.“ (Leo Trotzki: Nichtproletarischer und Nichtbürgerlicher Staat? [Nach: Der einzige Weg, Zeitschrift für die Vierte Internationale, Nr. 2 (Januar 1938), S. 38–43]). Einen sehr ähnlichen „antimarxistischen“ Charakter hat die von Altamira skizzierte Definition für den Staat, der aus der Kubanischen Revolution hervorging.

[4] Altamira, Jorge, „Por qué una fracción pública del Partido Obrero“. Eigene Übersetzung.

[5] Lenin, W.I., „Liberalismus und Demokratie“, Werke Band 17.

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