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Haltung oder Gleichmut?

Eingereicht on 16. Februar 2023 – 10:24

Lorenza Colzato und Bernhard Hommel. Eines wissen wir ganz sicher: Die Chinesen werden überwacht, haben Angst vor der Staatsmacht und leiden. Ist das wirklich so?

Vielleicht war das ein ganz großer Fehler! Das schoss uns durch den Kopf, als wir im Oktober 2022 in Shanghai landeten, um die kommenden vier Jahre an der Shandong Normal University in Jinan zu arbeiten. Im Zuge der Olympischen Winterspiele hatte sich die Berichterstattung über China vervielfacht und niemand ließ auch nur ein einziges gutes Haar an dem Land. Von schätzungsweise zwölf Dokumentarsendungen über China in der ARD-Mediathek waren alle, ohne jede Ausnahme kritisch über die allgemeine Lage im Lande, die Organisation der Spiele, den Umgang mit der Corona-Pandemie, mit den Athleten und Berichterstattern und vieles, vieles mehr.

Als einzigen positiven Aspekt in einer der Sendungen blieb uns die Bemerkung eines Athleten in Erinnerung, dass die freiwilligen Helfer doch eigentlich ganz nett zu ihnen gewesen wären. Im Zusammenhang mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine und dessen Auswirkungen auf die weltweite Wirtschaft wurden weitere Berichte über die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen in China gedruckt und gesendet—positive Meldungen irgendwelcher Art sind uns allerdings nicht in Erinnerung.

Deutsche Berichterstattung mit dem Facebook-Daumen

Ganz anders der chinesische Umgang mit anderen Ländern. Des Chinesischen noch nicht mächtig, müssen wir uns zunächst auf englischsprachige Veröffentlichungen der chinesischen Seite beschränken; aber in China lebende chinesisch sprechende europäische Freunde konnten unsere Beobachtungen bislang unabhängig bestätigen. Chinesen sind sowohl privat als auch in der öffentlichen Kommunikation zunächst einmal mit sich selbst beschäftigt. China liegt Ihnen am Herzen, andere Länder interessieren sie in der Regel weniger.

Obwohl sie beispielsweise Deutschland wegen ihrer Wissenschaft, ihrer Technologie, ihrer Produkte und, kurioserweise, ihrer Eisenbahn besonders schätzen und bewundern. Vor allem haben sie keine Ratschläge parat, wie andere Länder sich verhalten und wofür sie sich interessieren sollten. Einige wichtige Sendungen befassen sich sehr wohl mit der Frage, wie andere Länder China einschätzen, welche Tipps für die Entwicklung des Landes sie haben und wie sie die wirtschaftliche Entwicklung des Landes prognostizieren. In diesem Zusammenhang wurde zum Beispiel Rudolf Scharping, von dem wir seit Jahren nichts mehr gehört haben, in einem ausführlichen englischen Interview zurate gezogen. Aber Ratschläge für andere haben Chinesen in der Regel nicht anzubieten. Sie halten das für deren Sache, so unser Eindruck.

Für viele Deutsche und die deutschen Medien ist es dagegen von immenser Bedeutung, „Haltung zu zeigen“—immer, überall und zu jedem Thema. Jede zweite Äußerung deutscher Außenpolitiker befasst sich mit der Frage, wie andere Länder sich verhalten sollten, was sie alles falsch machen, warum das eine sehr schlechte Sache sei und wie Deutschland darauf reagieren müsse. Auch die Berichterstattung operiert unentwegt mit dem Facebook-Daumen, der allerdings in Bezug auf andere Länder in der Regel nach unten zeigt. Dabei stellen sich uns als Psychologen die folgenden drei Fragen.

Zeitlich verzögerte Bilder aus Katar?

Die erste Frage betrifft den Wahrheitsgehalt des deutschen Umgangs mit anderen. Schließlich könnte es sein, dass tatsächlich in Deutschland alles super läuft und in fast allen anderen Ländern eben nicht. Dann wäre eine gewisse Asymmetrie in der Berichterstattung unvermeidlich, weil sie schlichtweg die Realität abbilden würde. Spätestens seit den folgenden zwei Beobachtung haben wir daran allerdings erhebliche Zweifel.

Während der Männer-Fußball-Weltmeisterschaft in Katar verfolgten wir eine Reihe von Spielen im chinesischen Fernsehen. Gleichzeitig unternahmen wir den Versuch, deutschsprachige Kommentare der Spiele im Internet ausfindig zu machen, um etwas mehr Hintergrundinformationen zu bekommen. Wobei wir in der ARD-App und anderswo auf die offenbar hochrangige Meldung stießen, dass die chinesische Regierung die Übertragung aus Katar zeitlich verzögern würde, um Bilder mit Zuschauern ohne Maske herauszuschneiden (um Kritik an ihrer Coronapolitik zu vermeiden).

Wenn man auch nur eine grobe Ahnung hätte, wie zeitaufwändig eine derartige Zensurmaßnahme schon rein technisch wäre, was man bei Angestellten der ARD eigentlich voraussetzen sollte, hätte diese Meldung eigentlich Skepsis auslösen müssen. Auch kann man sich fragen, auf welchen zwei unabhängigen Quellen eine derartige Nachricht beruhen könnte. Noch schwerwiegender war jedoch die Tatsache, dass die Übertragungen im chinesischen Fernsehen und in der ARD-Mediathek praktisch synchron liefen und, natürlich, in beiden jede Menge unmaskierte Fans zu sehen waren. Von der vermeintlichen Zensur also keine Spur.Die andere Beobachtung bezieht sich auf die Berichte über Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen in China.

Bei näherem Nachlesen war lediglich von „hunderten“ von Demonstranten die Rede, und dies offenbar nur in Peking und Shanghai, was bei einer Bevölkerung von knapp anderthalb Milliarden nicht unbedingt so beeindruckend klingt, als dass sich eine chinesische Regierung davon einschüchtern lassen würde. Zudem waren die Demonstranten ausschließlich im Dunkeln und von hinten abgebildet, in Gruppen von ungefähr 15 Personen. Wenig später war dann in mehreren Medien davon die Rede, dass die chinesische Regierung „nach Protesten“ die Coronamaßnahmen eingestellt hätte, was ohne jeden Beleg eine kausale Beziehung zwischen diesen zwei Beobachtungen suggeriert. Und, so befürchten wir, auch durchaus suggerieren soll. Mit der Wahrheit hat auch die Frage zu tun, was eigentlich nicht berichtet wird –damit werden wir uns in weiteren Beiträgen noch detailliert beschäftigen.

Ausgerechnet Deutschland!

Die zweite unserer Fragen ist schwerer zu beantworten: warum machen deutsche Medien das? Woher haben sie das Mandat zur Empörung über andere? England hätte sich aufgrund seiner jahrhundertealten demokratischen Tradition ein gewisses Recht verdient, und auch Frankreich und die Vereinigten Staaten haben sich historische Verdienste in diesem Bereich erworben (und durch ihre kolonialen Machenschaften auch wieder verspielt).

Aber Deutschland, das sich vor historisch noch nicht allzu langer Zeit ohne eigenes Bemühen durch Andere in eine demokratische Verfassung hat zwingen lassen müssen? Ausgerechnet wir sind jetzt wieder diejenigen, die ganz genau wissen, an welchem Wesen die Welt zu genesen hat?

Ausgerechnet Deutschland, das sich vor gut 100 Jahren die politische Schwäche der chinesischen Regierung dadurch zu Nutze machte, dass es ihr das Kiautschou-Gebiet abpresste? Erst plündern wir andere Länder aus, und dann erklären wir ihnen, wie sie mit durch uns mitverschuldetem Hunger und wirtschaftlicher Not umzugehen haben? Warum Politiker und Medienschaffende das für eine angemessene Idee halten, ist schwer zu verstehen. Es scheint, als ob wir unsere frühere, erst obrigkeitsgläubige und dann offen faschistische Gesinnung nachträglich musterschülerhaft überkompensieren wollen. Das ist verständlich, und auch ein bisschen sympathisch, aber dass andere Länder dafür nicht büßen wollen, kann man irgendwie auch verstehen.

Noch wichtiger erscheint uns allerdings die dritte Frage: was macht das alles mit uns? Auch hinsichtlich dieser Frage haben uns zwei Beobachtungen weitergeholfen. Zum einen ist es für einen Europäer auffällig, wie ruhig, gleichmütig und besonnen Chinesen im Alltag agieren. Und dies selbst unter extremen Bedingungen, wie während der Coronamaßnahmen. In Jinan stiegen die Fallzahlen im November hinreichend an, um drastischere Maßnahmen auszulösen. Teile der Stadt und das universitäre Gebiet wurden abgesperrt, Restaurants geschlossen, und nur wenige Geschäfte für den alltäglichen Bedarf blieben geöffnet. Für die nun täglichen PCR-Tests standen die Leute in unserem Viertel oft 1-2 Stunden an, manchmal bei -10°. Dies ohne irgendwelche Entgleisungen, bei freundlichen Gesprächen auf der Straße, mit spontan auftauchenden Händlern, die Wartende mit frisch zubereitetem Popcorn und Nüssen versorgten, und dass man ältere Leute vorließ, die nicht gut zu Fuß waren, war selbstverständlich.

Gleichmut aus Fernost

Es ist dieser scheinbar unendliche Gleichmut, diese Geduld und diese enorme Anpassungsfähigkeit, die uns zunehmend auffiel. Zunächst im Gegensatz, im offensichtlichen Kontrast zu unserer eigenen Art, unserer eigenen Ungeduld, unserer Zielstrebigkeit, auch in Situationen, in denen sie gar keine Funktion haben kann, weil die Umstände es nicht zulassen. Zunächst konnten wir kaum verstehen, warum sich eigentlich niemand aufregt, sich wenigstens beklagt, die Umstände anprangert, auf seinem Recht besteht. Die in deutschen Medien vielfach unterstellten Überwachungsmaßnahmen schienen es nicht zu sein, die die Menschen von all dem abhielten, denn bis heute haben wir noch keine Kameras, polizeilichen Maßnahmen, Regelkontrollen o. ä. mehr in der Öffentlichkeit ausfindig machen können.

Weder Aufruhr, noch Demonstrationen haben wir wahrgenommen, und die paar Ordnungskräfte, denen wir habhaft werden konnten, waren mit Einlasskontrolle beschäftigt. Aber dann machten wir unsere zweite Beobachtung: diese Einstellung ist offenbar ansteckend. Nach einigen Wochen, manchmal schon nach einigen Tagen im Land merkt man nämlich selbst als Europäer, wie der eigene Gleichmut beinah täglich zunimmt. Wie man ruhiger wird, geduldiger, mit sich selbst und mit anderen.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Selbstbeobachtung nicht unplausibel. Im Vergleich zu anderen Primaten verfügen Menschen über gut funktionierende Fähigkeiten zur Selbstkontrolle. Wir können uns langfristig Dinge vornehmen, Pläne entwickeln und diese Pläne auch langfristig verfolgen. Weil wir uns auf das Wesentliche konzentrieren und alles andere ausblenden können, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Es gibt allerdings eine Ausnahme: Emotionen auslösende Reize. Emotionale Reize können sich alte, fest verdrahtete Hirnstrukturen zu Nutze machen, wie die Amygdala, die ursprünglich zur besonders schnellen und effektiven Vermeidung von natürlichen Gefahren, wie zum Beispiel Schlangen oder Spinnen, gedient haben.

Durch das richtige „Framing“ braucht es dafür gar nicht mal Reize, die selbst emotionalen Gehalt haben. Denn Reize werden in der Regel nicht objektiv, nicht ausschließlich in Bezug auf ihren tatsächlichen Informationsgehalt verarbeitet, sondern in Bezug auf und relativ zu unseren Erwartungen. So wird der Gewinn eines Geldbetrags dann von einem positiven zu einem negativen emotionalen Erlebnis, wenn wir eigentlich einen höheren Betrag erwartet haben. Je weniger wir also erwarten, je bescheidener wir sind, desto glücklicher und zufriedener kann uns eine Erfahrung machen. Und umgekehrt: je mehr wir erwarten, je höher unsere Ansprüche sind, desto mehr Enttäuschungen werden wir notwendigerweise erfahren, desto unglücklicher und unzufriedener werden wir.

Bis zehn zählen?

Eine Binsenweisheit, in der Tat, aber vielleicht auch eine Perspektive für eine schönere, gesündere Zukunft. Denn je mehr wir uns anmaßen, ungeachtet unseres Wissens und unserer Kompetenz zu allem eine Haltung zu haben, eine Haltung haben zu müssen, ein gewissermaßen natürliches Recht zur Beurteilung von allem und jedem zu haben, je höher unsere Ansprüche an andere, deren Einhaltung wir weder kontrollieren noch beeinflussen können, desto unglücklicher, desto empörter, wütender müssen wir werden.

Warum sollten wir das für eine gute Idee halten? Welches Mandat, welches Verdienst gibt uns das Recht, andere selbstbestimmte Völker mit unseren eigenen, erst relativ kurzfristig erworbenen moralischen Einsichten zu behelligen und uns unentwegt in die Art und Weise einzumischen, wie sie ihre zum Teil gewaltigen Probleme lösen. Probleme, die wir oft mitverschuldet haben und für deren Lösung wir noch keinerlei Kompetenz haben nachweisen können?

Wir verstehen schon, dass dieser Gedanke im Endeffekt auch zur völligen Gleichgültigkeit, zur Amoralität führen kann—mit fatalen Folgen. Das ist bei den Chinesen aber keineswegs der Fall, also muss es auch Mittelwege geben. Vielleicht haben sie ja gelernt, das bekannte (wahlweise Franz von Assisi oder Reinhold Niebuhr zugeschriebene) Gelassenheitsgebet in ihren Alltag zu integrieren, in dem man um die Gelassenheit bittet, Dinge hinzunehmen, die man nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die man ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Ganz im Gegensatz zu uns. Lassen Sie uns damit experimentieren: wenn wir das nächste Mal das Bedürfnis haben, anderen zu erklären, was und wie sie es tun sollen, und uns empören wollen, wenn sie das nicht tun, wollen wir dann alle zunächst mal bis zehn zählen?

Quelle: overton-magazin.de… vom 15. Februar 2023

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