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Linke Perspektiven auf die Hongkonger Protestbewegung

Eingereicht on 31. Juli 2020 – 17:09

Interview mit Ralf Ruckus zum Verhältnis der Linken zur Protestbewegung in Hongkong im Rahmen einer Sendung von Radio Corax vom 15. Juli 2020. Das Interview könnt Ihr hier anhören, das Transkript ist unten dokumentiert. Ein weiteres Interview aus der Sendung mit einer Aktivistin aus Hongkong könnt ihr hier finden.

Die Proteste in Hongkong werden nicht so viel debattiert in der politischen Linken in Deutschland. Warum sollte sich die deutsche Linke Deiner Meinung nach mehr für Hongkong interessieren?

Zum einen, denke ich, schon allein weil es dort eine geopolitische Zuspitzung gibt und Hongkong der Schauplatz dieser Zuspitzung ist zwischen der Regierung der USA und der der Volksrepublik China. Die Protestbewegung [in Hongkong] bezieht sich ja auf diese Auseinandersetzung, diese Konfrontation. Sie bekämpft das Regime in Beijing, und zumindest in Teilen fordert sie auch die Unterstützung der US-Regierung. Insofern könnten die Auseinandersetzungen in Hongkong tatsächlich der Anfang von so was wie einem ‚Kalten Krieg‘ sein oder diesen befeuern, und das wird sich weltweit auswirken. Ich denke, damit sollte sich eine Linke in Deutschland und Europa sich eh schon mal beschäftigen, weil das auch hier Folgen haben wird.

Zum Zweiten denke ich, dass die [hiesige] Linke auch an den Protesten interessiert sein sollte, weil sie eine breite Verankerung in Hongkongs Bevölkerung haben und weil die Proteste sich die Unterdrückung durch die Regierung in Beijing und in Hongkong wenden. Auch wenn Teile der Bewegung problematische Forderungen stellen und sich zum Beispiel auf so was wie eine ‚Nation von Hongkongern‘ beziehen, geht es doch gegen Polizeirepression, Überwachung, die Einschränkung der Meinungsfreiheit – also Themen, die auch die Linke hier interessieren und gegen die sie auch hier mobilisiert.

Zum Dritten – und das ist für mich auch ein wichtiger Bezug – sollten wir sehen, was die Linke in Hongkong für Bezüge hat zu dieser Bewegung. In großen Teilen, das ist meine Beobachtung, beteiligt sie sich an den Protesten, wenn auch kritisch.[1]

Wenn wir Bewegungen in anderen Ländern anschauen und unterstützen, ist das auch ein wichtiger Punkt – halt zu sehen, wie die Linken dort agieren und wie sie sich auf die Kämpfe beziehen.

In der deutschen Zeitschrift Konkret, die dem linken Spektrum zugeordnet wird, wurde die Bewegung als „Pegida Hongkongs“ bezeichnet. Damit wird ein Bezug hergestellt zu den ‚lokalistischen‘ bzw. nationalistischen Strömungen innerhalb der Bewegung. Es gab in der Vergangenheit auch immer wieder Berichte über fremdenfeindliche Angriffe auf Festlandschines*innen, die von den Protestierenden ausgingen. Kannst Du was zu diesem Vorwurf sagen?

Ja, zunächst mal gibt es ja diese Phänomene. Das ist auch wichtig herauszustreichen. Es gibt diese Fremdenfeindlichkeit gegen Festlandschines*innen, es gibt einen rechten ‚Lokalismus‘ oder eine Form von Nationalismus, und das kritisieren ja auch die Linken in Hongkong immer wieder. Es gibt in der Bewegung rechte und rechtsradikale Gruppen, wichtig ist jedoch, die führen diese Bewegung nicht an, und sie bekommen auch aus der Bewegung heraus immer wieder heftigen Gegenwind. Deswegen ist es falsch, die ganze Bewegung mit diesen ‚lokalistischen‘ Gruppen zum Beispiel in eins zu setzen.

Wenn die Konkret die Bewegung als „Pegida Hongkongs“ bezeichnet, blendet sie dann bewusst andere Teile – also auch linke Teile – der Bewegung aus und reduziert sie auf diese rechten Gruppen und Forderungen. Ich glaube, dass hinter dem Artikel der Konkret noch andere Punkte stehen. Vor allem ging es der Konkret bzw. dem Journalisten, der den Artikel damals geschrieben hat, [wohl] auch um die Verteidigung der Volksrepublik China und des dort herrschenden Regimes der Kommunistischen Partei. [Es] mutet für viele Aktivist*innen in China und Hongkong, also Linke dort, geradezu grotesk an, wenn Leute die Volksrepublik China immer noch für ‚sozialistisch‘ halten und gegen Angriffe verteidigen, weil sie denken, dass die Volksrepublik China ein Bollwerk gegen den US-Imperialismus [wäre].

Dazu muss man nochmal ganz klar sagen, die Volksrepublik ist kapitalistisch, das KP-Regime unterdrückt im eigenen Land soziale Bewegungen und linke Initiativen ‚von unten‘ – auch feministischen Widerstand, Bauernbewegungen, Streiks usw. Wir sollten uns auf die Seite dieser [sozialen] Bewegungen und linken Gruppen in China stellen. Und wir sollten uns auch an die Seite von linken Gruppen in Hongkong stellen, die im Rahmen der Protestbewegung gegen die zunehmende Unterdrückung in Hongkong kämpfen.

Wie würdest Du erklären, dass sich die ‚orthodoxe‘ Linke in Deutschland und Europa in diesem Konflikt auf der chinesischen Seite positioniert?

Wenn sich jetzt führende Vertreter der [früheren] SED-Führung hinter die Kommunistische Partei und das Regime stellen, hat das sicher was mit ihrer eigenen Geschichte als Teil eines autoritären ‚sozialistischen‘ Regimes [in der DDR] zu tun. Sie verkennen, dass die Volksrepublik China heute kapitalistisch organisiert ist und die [Führung der] Kommunistischen Partei selbst Teil der neuen herrschenden Klasse aus staatlichen und privaten Kapitalisten ist und Hunderte Millionen Arbeiter*innen ausbeutet, darunter auch viele, die zudem noch als inländische Migrant*innen diskriminiert werden.

Das wird von diesen Leuten gerne ignoriert, oder – und das finde ich noch abstruser – sie sehen die jetzige Entwicklung in der Volksrepublik als Teil des Übergangs zum ‚Kommunismus‘, was auch die KPCh selbst [weiter] behauptet. Aber davon kann keine Rede sein.

Es hat einen Übergang vom Realsozialismus zum Kapitalismus gegeben, von den 1970ern bis in die 1990er Jahre, [als] der weitgehend abgeschlossen war. Wenn Leute aus der hiesigen [früheren] SED-Führung das leugnen, sollte uns das nicht weiter irritieren. Wir sollten einfach nur weiter präzise gucken, was in China aktuell passiert und wie sich Leute gegen das Regime in China und auch in Hongkong organisieren und wie sie ihren Widerstand vorantreiben.

Hongkong wird oftmals als „neoliberales Paradies“ bezeichnet. Die soziale Ungleichheit ist da sehr groß, Unternehmen zahlen kaum Steuern. Dabei sind die Mieten oftmals höher als in New York, und der Mindestlohn liegt unter 5 US-Dollar. Es gibt oft Medienberichte über die sogenannten „cage homes“, also Wohnungen, die wie Käfige sind. Ich würde Dich gerne fragen, wie solche Fragen sozialer Ungleichheit in der Bewegung aufgegriffen werden und ob es kapitalismus-kritische Positionen auch innerhalb der Hongkonger Protestbewegung gibt?

Diese Fragen werden schon von kleinen Teilen der Bewegung aufgegriffen, halt von Linken hauptsächlich. Aber die große Mehrheit der Bewegung thematisiert die [Fragen] nicht oder nur am Rande, sondern spricht von Demokratie, wendet sich gegen Polizeigewalt usw.

Auch andere Probleme, die Du nicht genannt hast, wie zum Beispiel die Situation der Hunderttausende Hausangestellten von den Philippinen und aus Indonesien, die in Hongkonger Haushalten ausgebeutet werden, stehen überhaupt nicht auf der Agenda der Bewegung – obwohl zum Beispiel auch einige dieser Frauen* selbst an der Bewegung teilnehmen.[2][3]

Insofern ist diese Bewegung auch nicht ‚anti-kapitalistisch‘, und das ist auch ein Problem, und auch ein Problem, das wiederum die Linken in Hongkong natürlich aufgreifen und thematisieren.

Aber wir sollten sehen, dass es ja nicht notwendigerweise so ist, dass wir nur Bewegungen unterstützen sollten, die explizit ‚anti-kapitalistisch‘ sind. Zum Beispiel die jetzigen Massenmobilisierungen in den USA gegen Rassismus oder auch viele feministische Kämpfe sind ja auch nicht explizit [‚anti-kapitalistisch‘], und trotzdem unterstützen wir diese natürlich.

Wie ich schon sagte, der Kampf in Hongkong geht auch gegen staatliche Unterdrückung, gegen Polizeigewalt, auch gegen die Einschränkung der Organisationsfreiheit, die es linken Aktivist*innen in Hongkong ermöglicht, sowohl soziale Kämpfe in der Volksrepublik als auch in Hongkong zu unterstützen. Dagegen wendet sich diese Bewegung auch, gegen diese Einschränkungen, gegen diese Unterdrückung, und das sollten wir sicherlich unterstützen.

Du hast letzten September schon mit Radio Corax über die Entwicklung der Proteste im Jahr 2019 gesprochen.[4] Und Du hast danach in einem Artikel und einem Interview auch den Prozess nachgezeichnet, wie sich die Bewegung entwickelt hat von anfänglich ‚friedlichen‘ Protesten zu dann immer gewaltsameren Aktionsformen und wie sich diese Strategie verschoben hat. Glaubst Du, dass mit der Verabschiedung des neuen „Sicherheitsgesetzes“ jetzt eine neue Phase des Widerstands begonnen hat?

Ja, auf jeden Fall. Das von der KP beschlossene „Sicherheitsgesetz“ für Hongkong ist ja gemeint als entscheidender, letzter Versuch, die Protestbewegung mundtot zu machen und ihre Aktivist*innen zu kriminalisieren. Insofern ist das in jedem Fall so eine Art ‚game changer‘, und damit beginnt eine neue Phase.[5]

Wobei ich noch dazu sagen will, dass es nach dieser Zuspitzung auch der Straßenschlachten usw. im November noch zwei anderen Phasen gegeben hat, nämlich eine Phase, in der die Demonstrationen wieder etwas ‚ruhiger‘ gewesen sind und es dann eher Versuche gegeben hat, die „gelbe Ökonomie“, also Läden zu unterstützen, die sich auf Seiten der Proteste engagieren, und dann auch in Betrieben zu organisieren. Diese Phase [dauerte] bis Anfang des Jahres an. Und dann [begann] mit ‚Corona‘ eine Phase, in der auch die Bewegung im Prinzip nur eingeschränkt [agieren] konnte.

Jetzt, mit dem „Sicherheitsgesetz“, gibt es noch einmal eine neue Situation. Das Gesetz ist erst seit [etwas über] einer Woche in Kraft, und man sieht schon, dass es die Leute einschüchtert, dass es Fälle von Selbstzensur gibt, dass sich Leute fragen, was sie überhaupt noch sagen können öffentlich und fordern dürfen usw. Allerdings halte ich es noch für zu früh, jetzt schon diese neue Phase zu beschreiben oder einzuschätzen, weil dafür die Zeit einfach noch zu kurz ist.

Was ist Deine Einschätzung der Ereignisse der letzten Woche, jetzt seitdem das Gesetz verabschiedet wurde oder in Kraft getreten ist? Wie wird es jetzt weitergehen mit der Protestbewegung?

Ehrlich gesagt, keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen wird. Was ich interessant finde, in meinem Austausch mit linken Aktivist*innen in Hongkong in den letzten Tagen ging es zum Beispiel um die Frage wie die, welche Folgen das „Sicherheitsgesetz“ und die Repression jetzt für diese [linken] Initiativen hat, und dann darum, ob die Gruppen in Hongkong von den Erfahrungen linker Aktivist*innen in der Volksrepublik lernen können, weil die sich schon länger mit harter Repression, Überwachung, Spitzeln usw. auseinandersetzen müssen.

Ich bin gespannt, was aus diesen Debatten herauskommt, ob es möglicherweise auch Vernetzungen über die Grenze [hinweg] geben wird. Aber ob und wann und in welcher Form die Protestbewegung in Hongkong wieder angreifen kann, das ist kaum vorherzusagen momentan.

Quelle: nqch.org… vom 31. Juli 2020

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