Frankreich vor Weihnachten
Bernard Schmid. Mit Streikkassen gegen die Renten„reform“ zum nächsten zentralen Aktionstag am 09. Januar. Organisationsunabhängige Streikkassen gewinnen zunehmend an Bedeutung – Als erste Gewerkschaftsvereinigung steigt die UNSA offiziell in die „Weihnachtspause“ ein – Die CGT ergreift die Initiative zu einem neuen zentralen Aktionstag am 09. Januar 20 – Eigenständige feministische Kampagne gegen die Renten„reform“
Inzwischen haben auch bürgerliche Medien das Thema entdeckt: Ja, es gibt Streikkassen in Frankreich, um den Teilnehmer/inne/n an den aktuellen Arbeitskämpfen zu ermöglichen, ökonomisch über die Runden und in die bzw. über die Feiertage (ggf. mit ihren Familien) zu kommen. Inzwischen sogar mehrere Dutzende von ihnen, in welche man zum Gutteil auch on-line einspenden kann.
Historisch ist das Phänomen in Frankreich relativ neu; denn in der Vergangenheit verhielt es sich so, dass die Teilnehmenden an Arbeitskämpfen entweder stolz darauf waren, ihren Arbeitskampf auf eigener Tasche zu bezahlen – in den 1970er Jahren war dies unzweifelhaft so, doch damals stand den Lohnabhängigen das Wasser i.d.R. nicht derart bis zum Hals wie mitunter heutzutage – oder aber in einem „Nachstreik“ um die Bezahlung eines Teils der Streiktage durch den Arbeitgeber kämpften. Beides ist heute wesentlich schwieriger geworden als früher. Gewerkschafliche Streikgelder gibt es in Frankreich in aller Regel nicht, denn Erstens sind die Mehrzahl der Gewerkschaften dazu materiell zu arm, und zum Zweiten kontrollieren französische (anders als deutsche) Gewerkschaftsapparate die Ausübung des Streikrechts durch Lohnabhängige nicht:. Letztere ist auch unabhängig von jeglicher gewerkschaftlicher Unterstützung legal möglich.
Die [an der Spitze rechtssozialdemokratisch geführte] CFDT – derzeit zweitstärkster Gewerkschaftsdachverband in Frankreich von den Mitgliederzahlen, doch stärkster von den betrieblichen Wahlergebnissen [zuletzt landesweit für die Periode 2013 bis 2017 amtlich gemessen] her – hat ihrerseits freilich eigene Streikkassen für ihre Mitglieder eingerichtet. Darüber war auf ihrem Kongress in Lille im Dezember 1998 diskutiert worden, was aber damals zugleich mit Überlegungen über eine stärkere Kontrolle und Einschränkung seiner Ausübung einherging. (Vgl. vom Autor dieser Zeilen dazu: jungle.world…)
Heute befinden sich in den Kassen der CFDT dafür 132 Millionen Euro (vgl.nouvelobs.com…). Allerdings sind ihre Mitgliedsgewerkschaften nicht eben als die streikfreundlichsten oder -freudigsten bekannt, von einigen Basisverbänden in ihrem lokalen Kontext sicherlich abgesehen. Derzeit nimmt die CFDT (auf nationaler Ebene) nur bei der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF am Streik teil, bei dem sie keine herausragende Rolle spielt. Und zahlt ihren Mitgliedern ab dem zweiten Streiktag 7,32 Euro pro Stunde aus.
Die meisten streikenden Lohnabhängigen werden sicherlich keine Streikgelder just von der CFDT bekommen, sind aber oft – mit zunehmender Streikdauer verstärkt – auf eine gewisse materielle Unterstützung angewiesen. Dafür gibt es nun inzwischen eine Reihe von Streikkassen, die auch organisationsunabhängig an Teilnehmer/innen am Arbeitskampf Mittel ausschütten, und die durch Spendensammlungen am Rande von Protestzügen oder auch [verstärkt] im Internet aufgefüllt werden.
Dies haben inzwischen auch die bürgerlichen Medien, mehr oder minder fasziniert davon, mitbekommen. Am Abend des gestrigen Donnerstag, den 19. Dezember 19 wurde dazu etwa ein Beitrag bei dem – im Kern wirtschaftsliberalen – Privatfernsehsender BFM TV ausgestrahlt, mitsamt Interview mit Romain Altmann (vgl. über ihn und die Streikkassen auch: liberation.fr…) von der besonders aktiven Mediengewerkschaft CGT Info’Com. Also von jener Gewerkschaft, welche 2016 anlässlich der Kämpfe gegen die damalige Arbeitsrechts„reform“ eine Schlüsselrolle bei der Einführung von Streikkassen in Frankreich – die Teilnehmer/innen unabhängig von ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit unterstützten – spielte, unterstützt übrigens u.a. auch aus der GEW in Hessen.
Inzwischen berichteten bereits mehrere bürgerliche Medien darüber (vgl. u.a. leparisien.fr… und bfmtv.com… oder bfmtv.com… sowie bfmtv.com…). Und für basisnähere Informationen aus einer linken/linksradikalen, mit den aktuellen Sozialkämpfen verbundenen Quelle sowie mit einer Auflistung der bestehenden Streikkassen mitsamt Internetadressen, vgl. bitte: paris-luttes.info…
Aktionstage usw.: Fortgang der Ereignisse
Unterdessen hat als erste, an den derzeitigen Arbeitskämpfen beteiligte Gewerkschaft die UNSA (offiziell „unpolitische und unabhängige“ Gewerkschaftsvereinigung, seit 1996 durch die Krise des Dachverbands FO erstarkt, oft CFDT-nahe in seinen Positionen) am gestrigen Tag ihren Einstieg in eine „Weihnachtspause“ im Transportstreik angekündigt. (Vgl. bspw. france24.com…)
Die übrigen Gewerkschaften, vor allem die in der inter-syndicale zusammengeschlossenen (das sind v.a. CGT, Union syndicale Solidaires, FO sowie die Bildungsgewerkschaften des Zusammenschlusses FSU plus Studierenden- und Jugendverbände) haben bislang keine solche Ankündigung getätigt. Ihnen ist einerseits bewusst, dass ein Hineinragen der Streiks in die Feiertagsperiode ein reales Popularitätshemmnis werden könnte, andererseits die Regierung jedoch nur begierig darauf wartet, dass die Dynamik in sich zusammenfällt. Seit dem gestrigen, schwach befolgten „dezentralen Aktionstag“ vom 19. Dezember mit nur lokal beschlossenen und durchgeführten Aktivitäten wurde vorläufig kein weiterer zentraler Aktionstag bis zum Jahresende 2019 anberaumt.
Nun ergriff allerdings die CGT (ihr Dachverband) die Initiative dazu, zu einem neuen zentralen Aktionstag am 09. Januar 20 aufzurufen (vgl. bspw.: nouvelobs.com…) Dafür hat sich nun auch die intersyndicale, also das Aktionsbündnis mehrerer Gewerkschaftsverbände und -zusammenschlüsse, gewinnen lassen (vgl. bspw.: challenges.fr…).
Dieser Aufruf betrifft nicht die CFDT, deren Spitze nach den Gesprächen bzw. Verhandlungsrunden mit der Regierung vom Mittwoch, den 18.12.19 (in Einzelrunden mit den unterschiedlichen Organisationen: zwanzig Minuten mit der CGT, doch eine Stunde und zwanzig Minuten mit der CFDT) sowie vom Donnerstag, den 19.12.19 (in gemeinsamer Runde) eine „konstruktive (Gesprächs-)Atmosphäre“ begrüßt.
Die Regierung ihrerseits scheint zugleich fest entschlossen bzw. dazu bereit, den Massenprotest auszusitzen, um auf die Weihnachtspause zu warten. Nachdem mehrere Gewerkschafter wie etwa die Eisenbahner-Branche der CGT klar zu erkennen gaben, dass sie notfalls „keinen Weihnachtsfrieden einhalten“ würde, versucht nun die Regierung, daran zu appellieren, dass relevante Teile der Gesellschaft mit einem Ausfall des Familienreiseverkehrs um die Feierwege unzufrieden könnten. In dieser Perspektive riefen etwa Premierminister Edouard Philippe und Transportministerin Elisabeth Borne, taktisch nicht ungeschickt zu einer Streikpause auf – im Januar 20 könnten die Beteiligten ja weiterstreiken, fügten sie in vertrauenseinflößendem Tonfall hinzu. Natürlich auch in der Hoffnung auf ein Einschläfern bzw. einen Einbruch der Mobilisierungsdynamik.
Vielleicht war es ja ein Timingfehler, dass die Gewerkschaften – die Initiative dazu war seit Ende September 19 von ihrer Basis in den Transportbetrieben ausgegangen – ihren ersten Streiktag auf den 05. Dezember dieses Jahres terminierten. Das Datum war symbolisch gewählt worden. Im Streikherbst 1995, mit dem die inzwischen vor-, vor-, vor-vorletzten Renten„reform“ in Frankreich durch Massenproteste verhindert werden konnte (die jetzige „Reform“ versucht viele ihrer Inhalte nachzuholen), hatten Demonstrationen und Streiks am 24. November j.J. begonnen. Erstmals wurde damals auf den Straße die Millionengrenze am 05. Dezember 95 überschritten. Ein absolut positives Symbol und ein Tag, an welchen sich der Verfasser dieser Zeilen – damals genau halb so alt wie heute – erinnert, als sei es gestern gewesen. Nur, vielleicht fiel das Datum ein wenig spät im diesjährigen Kalender: Nun wird die Auseinandersetzung in die Weihnachtsferienzeit hineinragen. Die Regierung versucht, dies zu nutzen, um den Streik unpopulär werden zu lassen, und setzt auf sein Abbröckeln. Die nächste Zukunft wird weisen, ob sie mit dieser Rechnung durchkommt oder nicht.
Hoffen wir auf den nächsten zentralen Aktionstag im Januar 2020, welcher dann auch zeitlich an die offizielle Vorstellung des Gesetzentwurfs zur „Reform“ (nun auf den 22. Januar 20 terminiert) heranrückt.
Zur feministischen Kampagne gegen die Renten„reform“
Zu den Hauptverliererinnen der „Reform“ werden die weiblichen Beschäftigten zählen. Deswegen gibt es auch aktuell eine gemeinsame Kampagne von Frauenrechtsgruppen zu den geschlechtsspezifischen Auswirkungen der regressiven „Reform“. (Vgl. lemonde.fr…)
Aufgrund von größeren „Lücken“ in den Erwerbsbiographien durch Kinderziehungs-, Aus- und Untebrechungszeiten sowie schlechter entlohnter Teilzeitarbeit werden die Frauen besonders benachteiligt. Nun man kann sich auf eine Berufung auf eine abstrakte Rechtsgleichheit zwischen Frauen und Männern zurückziehen, würde sich dabei jedoch offenkundig in die Tasche lügen, da die derzeitige gesellschaftliche Realität bekanntlich anders aussieht, als die offiziellen Beschwörungen betreffend Rechts- und Lohngleichheit er ausmalen.
Bislang erhielten weibliche Beschäftigte zwei Beitragsjahre pro Kind angerechnet, eine Regelung, die mit der „Reform“ verschwinden wird; ab drei Kindern wurde die Rente sowohl beim Vater als auch bei der Mutter um zehn Prozent angehoben. Diese Regeln werden nun voraussichtlich beseitigt. Stattdessen soll es eine neue Kompensationsregel geben, aufgrund derer die Regierung fälschlich behauptet, Frauen zählten zu den „Gewinnerinnen der Reform“: Künftig wird es den vorliegenden Plänen zufolge eine Erhöhung der zu erwartenden Rente pro Kind um 5 %, ab dem dritten Kind um je 7 % geben. (Vgl. lesinrocks.com…) Allerdings nur entweder beim Vater oder für die Mutter. Beide müssen sich bis zum vierten Lebensjahr des Kindes dafür entscheiden, wem die künftigen Rentenpunkte angerechnet werden. Viele Beobachter/innen rechnen damit, dies könne häufiger dem Vater zugutekommen (jedenfalls bei gemeinsam lebenden Eltern), da in der sozialen Realität die Einkommen der Männer zwar nicht immer, doch oft höher ausfallen.
Und was, wenn später eine Trennung der Eltern oder ihre Scheidung erfolgt und also keine gemeinsame Einkommensverwaltung mehr besteht? Pech für die Mütter?
Delevoyes Nachfolger hat auch bereits wieder Problemchen
Auch Emmanuel Macrons Neuer hat schon wieder Probleme. Soeben erst wurde der Sonderbeauftragte der amtierenden Regierung für die Renten„reform“ – der frühere konservative Spitzenpolitiker Jean-Paul Delevoye – am Montag dieser Woche geschasst. Am Mittwoch früh war er durch seinen Nachfolger ersetzt worden. (Wir berichteten an dieser Stelle)
Zunächst war ruchbar geworden, dass Delevoye seit circa drei Jahren 5.300 Euro monatliche Nebenbezüge seitens einer Allianz von Versicherungskonzernen bezogen hat – angeblich bloß für einen symbolischen „Ehrenvorsitz“ eines Instituts für berufliche Fortbildung im Versicherungswesen, IFPASS -, und dies neben anderen Einkünften und Rentenansprüchen, die er aufweist. Da Delevoye den Status eines Regierungsmitglieds innehatte, war ihm dies verboten, und er verstieß überdies gegen eine gesetzliche Offenlegungspflicht. Inzwischen wurde deswegen auch die Justiz eingeschaltet. (Vgl. dazu bspw. francetvinfo.fr…)
Großzügig erklärte der Mann sich daraufhin bereit, 140.000 Euro unerlaubter Nebeneinkünfte aus dieser Quelle mal eben zurückzuzahlen. Dies ging freilich am tatsächlichen Problem vorbei, denn die Affäre machte ungewollt darauf aufmerksam, welche Interessen durch die „Reform“pläne bedient werden. Im Laufe des vorigen Wochenendes kamen dann überdies noch weitere unerklärte Nebeneinkünfte ans Licht. Delevoye bezog solche aus insgesamt dreizehn Quellen.
Am Mittwoch wurde sein Nachfolger ins Amt eingeführt, der Abgeordnete der Regierungspartei LREM Laurent Pietraszewksi (vgl. orange.fr…). Anders als der Sonderbeauftragte Delevoye, der den offiziellen Titel eines „Hochkommissars“ trug, bekleidet Pietraszewski nunmehr den Posten eines Staatssekretärs. Er war ein Macron-Mann der ersten Stunde, der dessen neugegründeter Partei LREM – damals noch lediglich EM, wie „En marche“ (oder wie die Initialien Emmanuel Macrons) bereits am ersten Tag ihres Bestehens im April 2016 beitrat. Der neue Mann Macrons für die Renten„reform“ war in seinem vorherigen Berufsleben Leiter der Personalabteilung der Supermarktkette Auchan, ihm unterstanden 46.000 Lohnabhängige, also ein hoher Kapitalfunktionär. Er war aber auch parlamentarischer rapporteur („Berichterstatter“, also jener Abgeordneter des Regierungslagers, der einen Gesetzentwurf im Namen der Mehrheitsfraktion ins Plenum einbrachte und in den Debatten verteidigte) bei der, inhaltlich aus Lohnabhängigensicht katrastrophalen, Arbeitsrechts„reform“ 2016/17. Also ein vielversprechendes Profil… in den Augen des organisierten Kapitals.
Allerneuersten Informationen zufolge hat aber auch er bereits ein Problem mit außerordentlich stattlichen Nebeneinkünften als Politiker, von seinem ehemaligen Arbeitgeber… (Vgl. ladepeche.fr…) Überdies stellte sich heraus, dass er als Leiter der Personalabteilung bei Auchan – zunächst auf lokaler, später auf zentraler Ebene – teilweise wie ein Psychopath agierte. Bei der Supermarktkette hinterließ er jedenfalls laut Presseberichten „schlechte Erinnerungen“. So veranlasste er zu Anfang der 2000er Jahre, dass eine gewerkschaftliche Vertrauensfrau in „seiner“ damaligen Filiale in Polizeigewahrsam genommen wurde, weil sie ein zu stark gebackenes und unverkäufliches Croissant einer hungrigen Kollegin zum Essen gegeben hatte. Nur mit Mühe und Not konnten die gewerkschaftlich organisierten Kolleginnen und Kollegen ihre Kündigung verhindern. Ferner wird ihm eine „Hexenjagd“ auf Gewerkschaftsmitglieder im Laufe seiner dortigen Karriere vorgeworfen. (Vgl. etwa orange.fr…)
Pietrazewski erklärte bei der Amtseinführung am Mittwoch ausdrücklich, inhaltliche Kontinuität zu seinem Vorgänger wahren zu wollen. Jener war’s zufrieden: Seine politische Linie in Sachen „Reform“ wird unangetastet bleiben. Nur er selbst war im Angesicht des Skandals politisch untragbar geworden.
Auf politisch unerwünschte Weise hatte Delevoyes Agieren ein Augenmerk auf die Interesselage hinter den Regierungsplänen gelenkt.
Längst sitzen nämlich just die Versicherungskonzerne und andere finanzkapitalistische Akteure in den Startlöchern, um endlich, endlich auch in Frankreich einen „Markt“ für private, kapitalgedeckte Rentenversicherungen oder Zusatzabsicherungen zu eröffnen. Bereits bislang sind laut einer gewerkschaftlichen Quelle am Pariser Ostbahnhof dort 14,2 Milliarden Euro in privaten Rentenfonds angelegt, dies entspricht jedoch „nur“ 0,2 Prozent des BIP. Andere Quellen, die etwas umfassender zu rechnen scheinen, sprechen hingegen von 0,7 Prozent (vgl. bastamag.net…). Das ist aus Sicht fnanzkapitalistischer Akteure in jedem Falle absolut ausbaubar, im Vergleich zur Entwicklung in den USA, den Niederlanden oder auch Deutschland. Mit allen Risiken, die dies beinhaltet, wenn die künftigen Renten dann an den Finanzmärkten, auf einen Gewinn spekulierend, angelegt werden – aber eben auch Verluste verzeichnen können.
Unterdessen wurde auch bekannt, dass einer der grössten Kapitalmarktakteure des Planeten, das US-Unternehmen Blackrock (vgl. mediapart.fr…), die französische Regierung im Vorfeld betreffend „Reform“pläne für die Rentensystem „beriet“ – und zu den zu erwartenden Gewinnern der „Reform“ zählt. (Vgl. bspw. auch bfmtv.com…) Aus dem Regierungslager wird dies, man möchte sagen: wie üblich, als „verschwörungstheoretische Kasperei“ abgetan (Vgl. capital.fr…) Im Unterschied zu diversen Verschwörungstheorien fußt der Hinweis auf die Gewinnaussichten von Blackrock und ähnlich gelagerte Interessen jedoch auf einer rational begründbaren, aus materiellen Fakten hergeleiteten Realität.
Delevoye, so lange er als Sonderbeauftragter der Regierung im Amt war, hatte eine Werbegraphik für die Renten„reform“ enthüllt. Anhand von neun Beispielfällen wird darin geschildert, dass es bei dieser – erstaunlich, erstaunlich – nur „Gewinner“ gebe. Nun, wenn in einem abgekarteten Spiel alle zu gewinnen glauben, dann ist mindestens ein/e Teilnehmer/in angeschmiert worden.
Delevoyes Kalkül hatte natürlich die Profile sorgsam, jedoch auf unrepräsentative Art und Weise ausgewählt. Überdies legte er ihnen eine Beitragsdauer von 44,3 Jahren zur Rentenkasse zugrunde. Heute erfordert das Gesetz (seit der vorletzten Renten„reform“ von 2010, die seit 2017 voll in Kraft getreten ist) mindestens 41,5 Beitragsjahre für eine Rente ohne Abzüge, infolge der bisher letzten „Reform“ – jener von 2013/14 unter dem Sozialdemokraten François Hollande – werden es bis in fünfzehn Jahren, nach sukzessiver Steigerung ab dem kommenden Jahr, dann 43 Beitragsjahre sein.
Andere Berechnungen (vgl. anschaulich: leparisien.fr…) kommen da zu ziemlich anderen Schlüssen. Demnach kann „Mathieu“, Jahrgang 1961, im derzeitigen System mit einer Rente (berufsgruppenbezogene Zusatzpensionen eingerechnet) in Höhe von 72,5 % seines letzten Einkommens aufs Altenteil gehen; sein Sohn „Mathias“, geboren 1980, wird dies nach den künftigen Regeln jedoch nur noch mit 55,8 % des letzten Einkommens können. Und bei der Staatsbediensteten „Marie“, Jahrgang 1961, sind es derzeit 64,1 %; für ihre Tochter „Maryam“; Jahrgang 1990, werden es nur noch 54,4 % sein.
Diese Absenkung ist mathematisch zwingend, aufgrund der neuen Kalkulationsregeln. Bislang wurde eine gewisse Anzahl von Berufsjahren zur Bemessungsgrundlage genommen, um die Rentenhöhe zu errechnen. In der Privatwirtschaft waren dies vor der „Balladur-Reform“ vom Hochsommer 1993 – damals unter einer seit erst drei Monaten amtierenden Rechtsregierung mitten im Sommerloch verabschiedet, um nur ja nichts anbrennen zu lassen – in der Privatwirtschaft die zehn besten Berufsjahre. Historisch war dies so vereinbart und damit begründet worden, dass (a.) der Verdienst in aller Regel am Ende eines Erwerbslebens höher ausfällt als beim Berufseinstieg, und (b.) ein zu brutaler Abfall des Lebensstandards mit der Pensionierung vermieden werden solle.
Infolge der „Balladur-Reform“ von 1993 wurde dieser Zeitraum auf 25 Jahre, statt auf zehn, als Bemessungsgrundlage gestreckt. In den öffentlichen Diensten, wo die Einkommen in Frankreich durchschnittlich niedriger liegen als in der Privatwirtschaft (und auch als in Deutschland: Lehrergehälter sind in Frankreich circa halb so hoch wie in der Bundesrepublik), wird die Rente auf der Basis der letzten sechs Monate in der beruflichen Laufbahn angerechnet. In beiden Fällen wird diese Bemessungsgrundlage künftig durch eine Kalkulation auf der Basis des gesamten Berufslebens, also künftig gesetzlich vorgesehenen 43 Jahren, erfolgen. Dies kann nur mit einer Absenkung einhergehen. Was die Regierung auch kaum leugnen kann, auch wenn sie es durch positiv klingende Formulierungen wie „Honorierung der Lebensleistung“ zu verschleiern versucht. Auf eine gezielte journalistische Nachfrage in einem Interview an die Arbeits- und Sozialministerin Murielle Pénicaud, wie eine solche Streckung der Bemessungsgrundlage etwas Anderes als eine Senkung zur Auswirkung haben könne, kam als Antwort denn auch wirklich nur wirres Gestammel. (Vgl. facebook.com…)
Quelle: labournet.de… vom 20. Dezember 2019
Tags: Altersvorsorge, Arbeiterbewegung, Frankreich, Gewerkschaften, Service Public, Sozialdemokratie, Widerstand
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