Hongkong: Proteste, Randale, Perspektiven?
Lena Spix. Seit Juni diesen Jahres gibt es massive Proteste in Hongkong, eine politische Einordnung und Positionierung fällt vielen Aktivist*innen hierzulande schwer. Ralf Ruckus beschäftigt sich seit anderthalb Jahrzehnten mit den Klassenauseinandersetzungen in China, hat dazu an mehreren Büchern mitgearbeitet und ist mit chinesischen linken Zusammenhängen vernetzt. Er war auch schon bei früheren Protesten in Hongkong – wie der Regenschirmbewegung 2014 – dabei und ist seit dem Anfang der aktuellen Bewegung mehrmals in Hongkong gewesen (seine Berichte sind hier zu finden). Wir sprachen mit ihm, um uns seine Eindrücke von vor Ort schildern zu lassen und einen groben Überblick über die Motivation und Form der Proteste zu bekommen.
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Zuerst ein paar Worte zu Dir. Zu welcher Zeit und mit welcher Motivation warst Du in Hongkong und mit welchen Zusammenhängen hattest Du vor Ort zu tun?
Hongkong stand für mich nie im Mittelpunkt, aber im Sommer diesen Jahres wurde mir klar, dass dort eine große Sache vor sich geht. Ich war zu der Zeit in Europa, und hier wurden viele Infos gestreut, von denen ich wusste, dass sie so nicht stimmen können, zum Beispiel die Behauptung, dass dort vor allem „Rechte“ oder „Amerika-Freunde“ demonstrieren würden. Um die Proteste genauer zu verstehen und zu dokumentieren, entschied ich mich im Sommer, für ein paar Wochen hinzufahren, und auch im Herbst war ich nochmal dort.
Warum und wie haben die Proteste begonnen, und in welche Richtung gehen sie? Für was gehen die Menschen auf die Straßen?
Hongkong ist eine Sonderverwaltungszone Chinas, und letztendlich ist die Stadtregierung direkt abhängig vom Regime der Kommunistischen Partei Chinas in Peking. Die Stadt spielt auch eine besondere Rolle für den chinesischen Kapitalismus. Das ist wichtig, wenn man die Bedeutung der Proteste verstehen will. Die begannen mit dem Vorschlag eines Auslieferungsgesetzes, welches die Hongkonger Regierung durchs Parlament bringen wollte. Das Gesetz hätte es möglich gemacht, Personen aus Hongkong in die Volksrepublik China auszuliefern. Einzelne Menschen wurden schon zuvor in Hongkong gekidnappt und über die Grenze nach China verschleppt – und das sollte jetzt quasi legalisiert werden. Das haben viele in Hongkong, darunter auch Linke, als Bedrohung wahrgenommen. Wenn zum Beispiel ein Verfahren gegen Aktivist*innen aus Hongkong liefe, etwa wegen Unterstützung eines Streiks in China, hätten die direkt ausgeliefert werden können.
Ab Juni gab es die ersten Demonstrationen, welche auch relativ schnell größer geworden sind. Zu dem Zeitpunkt waren die Proteste noch relativ friedlich. Mitte Juni hat die Stadtregierung das Gesetz dann auf Eis gelegt, was die Bewegung jedoch nicht stoppte. Einschneidend war dann der 21. Juli, als Protestierende auf dem Rückweg von einer Demo von Mitgliedern der Triaden, mafiösen Strukturen, auf dem U-Bahnhof im Vorort Yuen Long angegriffen wurden. Die anwesende Polizei verließ bewusst den U-Bahnhof und überließ den Schlägern der Triaden das Feld. Etliche Leute wurden krankenhausreif geschlagen. Das war ein Bruch. Der Ruf der Polizei hatte in Hongkong schon vorher gelitten, aber spätestens seit diesem Tag ist ein großer Teil der Bevölkerung gegen die Polizei. Durch deren brutales Vorgehen gegen junge Protestierende auf den Demos wächst der Hass gegen sie zusätzlich. Und eben dieser Hass ist einer der Motoren der Bewegung, denn die Polizei steht für die Stadtregierung und damit auch für das autoritäre Regime der Kommunistischen Partei Chinas in Peking. Vier der fünf Forderungen beziehen sich direkt auf Repression: die Rücknahme des Auslieferungsgesetzes, was im September passiert ist; dass die Demos im Juni nicht als Landfriedensbruch gewertet werden, denn darauf drohen zehn Jahre Haft; die Freilassung der Gefangenen; und eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt. Die fünfte Forderung betrifft freie Wahlen.
Ab Anfang August gab es dann erste größere Streik- und Blockadeaktionen, zum Beispiel am Flughafen. Gleichzeitig haben sich in dem Monat die Kämpfe von der Innenstadt in die verschiedenen Stadtviertel verlagert. Es gab Tage, da wurden gleich in mehreren Vierteln Polizeistationen angegriffen, Straßen blockiert, Barrikaden gebaut, Ampelanlagen und Bahneinrichtungen angegriffen und so weiter. Der nächste wichtige Termin war der 1. Oktober, der 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China. In Peking gab es eine riesige Militärparade, und die Regierung hatte die Bewegung bis dahin eigentlich zum Stillstand bringen wollen. Randale am Feiertag sieht eben doch blöde aus. Die gab es dann jedoch, und die Polizei feuerte auch das erste Mal mit Schusswaffen.
Im November eskalierte die Situation erneut. Am 8. November starb eine Protestierender im Zusammenhang mit einem Polizeieinsatz, und am 11. November wurde ein anderer von der Polizei angeschossen. In jener Woche wurde täglich der Berufsverkehr massiv blockiert, in der Innenstadt gab es mittags Straßenproteste, abends kam es in mehreren Vierteln zu Straßenschlachten und Universitäten wurden besetzt. Die Polytechnische Universität wurde dann von der Polizei umstellt, und nach harten Auseinandersetzungen ergaben sich die meisten der über 1.000 Besetzer*innen schließlich, aber vorher hatten viele Tausende andere von außen versucht, die Polizeilinien um die Universität zu durchbrechen, einer der größten militanten Auseinandersetzungen bisher.
Die großen Demonstrationen Anfang Dezember zeigen schließlich, wie viel Unterstützung die Bewegung immer noch hat. Trotz der Straßenschlachten, der brutalen Polizeigewalt und der über 6.000 Festnahmen ist die Bewegung weiterhin am Leben und wird von großen Teilen der Hongkonger Bevölkerung unterstützt.
Hier in Deutschland sind sich viele nicht sicher, wie sie die Proteste politisch einordnen und ob sie sie dementsprechend unterstützen sollen. Wie würdest du die Bewegung beschreiben?
Es ist sicher keine antikapitalistische Mobilisierung oder Klassenbewegung, sondern eine klassenübergreifende Bewegung, bei der es darum geht, einen bestimmten Status Quo zu verteidigen und mehr „demokratische Rechte“ durchzusetzen. Das ist natürlich defensiv und zieht Probleme nach sich. Dennoch halte ich es für fatal, die Bewegung pauschal zu verurteilen, weil sie sich nicht gegen den Kapitalismus richtet, schließlich kämpft sie gegen die drohende Diktatur.
Die kapitalistischen Lebensbedingungen spielen im Hintergrund eine entscheidende Rolle. In Hongkong ist das Verhältnis zwischen Mieten und Löhnen sehr schlecht. Viele Leute bekommen nach einer Berufsausbildung keinen festen Job und können sich keine Wohnung leisten. Leute mit proletarischen Jobs arbeiten unter schlechten Arbeitsbedingungen, und wer sich am Arbeitsplatz organisiert oder Kritik äußert, wird schnell entlassen. Vor allem junge Leute wollen jetzt was ändern, weil ihre Zukunft wenig vielversprechend aussieht.
Dass die Bewegung unter anderem keine direkte Kritik am Kapitalismus formuliert, sondern sich auf die fünf gemeinsamen Forderungen konzentriert, hat auch mit der Regenschirmbewegung 2014 zu tun. Damals wurden viele Einzelinteressen formuliert, was die Schlagkraft der Bewegung schwächte. Die Lokalisten, also Rechte, spielten eine treibende Rolle, spalteten die Bewegung und agitierten massiv gegen Linke. So etwas will man nicht noch einmal. Heute gibt es auch keine Anführer wie bei der Regenschirmbewegung, da diese damals Spaltungen forcierten und viele von ihnen nach dem Ende der Bewegung zu Haftstrafen verurteilt wurden. All dies wird heute eher praktisch diskutiert und entschieden, nicht ideologisch: Die Bewegung hat keine Zentrale, keine Sprecher, bildet keine Institutionen, und sie legt großen Wert darauf, dass es keine offenen Spaltungen gibt.
Wie positionieren sich linke und rechte Kräfte zur Bewegung? Haben sie Einfluss?
Der Charakter der Bewegung in Hongkong ist weder links noch rechts, aber Kräfte beider Richtungen mischen mit. Auch haben sich rechte Lokalisten beteiligt, aber – anders als es zum Teil dargestellt wird – dominieren sie die Bewegung nicht und bekommen auch viel Kritik. Problematisch bleibt der starke Bezug großer Teile der Bewegung auf eine „Hongkonger Identität“. Viele beziehen sich damit zwar nur auf die Vorstellung eines Hongkonger „way of life“, also zum Beispiel den Umgang mit dem Internet, das anders als in der Volksrepublik China nicht zensiert wird, es existiert jedoch auch die lokalistische Vorstellung einer nationalen Identität „als Hongkonger“.
Auch viele Linke sind Teil der Bewegung, von Sozialist*innen bis zu Anarchist*innen, und sie sagen ganz deutlich: Wir kämpfen hier gegen die Diktatur, wir wollen nicht unter so einem System leben wie in China, wir stehen hinter der Bewegung, weil sie für bessere Bedingungen kämpft, dafür, dass wir uns weiter organisieren und auf die Straße gehen können. Linke Aktivist*innen sind beteiligt an den politischen und strategischen Debatten, am Erhalt der Kommunikationskanäle, an solidarischen Strukturen, und in letzter Zeit auch an den zunehmenden Versuchen, Gewerkschaftsgruppen aufzubauen und Streiks zu organisieren. Allerdings bezeichnen sich etliche von ihnen weiterhin nicht offen als Linke, was zum einen mit den Spaltungserfahrungen aus der Regenschirmbewegung zu tun hat, zum anderen auch damit, dass die Kommunistische Partei Chinas von vielen in Hongkong immer noch als „links“ bezeichnet wird, auch wenn sie nach Meinung linker Aktivist*innen in Hongkong und China eindeutig für ein rechtes Regime und einen autoritären Kapitalismus steht.
Welche Perspektive haben, in Anbetracht dessen, deiner Meinung nach die Proteste?
Die Perspektive ist weiterhin unklar. Hongkong ist Teil Chinas und der Hongkonger Kapitalismus ist funktional für die chinesische Wirtschaft. Wenn es um eine Perspektive jenseits „demokratischer Rechte“ und den Kampf gegen den Kapitalismus gehen soll, müssen die Proteste auf China überschwappen oder sich mit den sozialen Kämpfen dort verbinden, um erfolgreich zu sein. Das sehe ich gerade nicht, auch wenn einige Linke versuchen, genau das innerhalb der Bewegung zu thematisieren. Die Bewegung bleibt – trotz der selbstorganisierten Kommunikation und Entscheidungsfindung über soziale Medien – auch fragmentiert, und es braucht sicher weitere Formen von Organisierung und Koordination, sonst wird sie sich kaum gegen die Regierung durchsetzen können. Von Anfang an hat die Bewegung jedoch immer wieder überrascht, sich neu erfunden, weitere Mobilisierungen und neue Kampfformen hervorgebracht, und sie hält schon lange durch. Lassen wir uns also weiter überraschen.
Wir sollten auch die mittelfristigen Auswirkungen der Bewegung nicht unterschätzen. Sie wird von vielen jungen Leuten getragen, die sich innerhalb eines halben Jahres radikalisiert und angefangen haben, zu kämpfen und ihr Leben zu ändern. Das lässt sich nicht einfach zurückdrehen und könnte die chinesische Regierung noch vor große Probleme stellen. In Hongkong sehen heute viel mehr Menschen die Kommunistische Partei Chinas kritisch und nehmen enorme Risiken auf sich, indem sie gegen deren Einfluss und Herrschaft vorgehen. Zudem hat die Bewegung eine Praxis entwickelt, die kapitalistischen Beziehungen zum Teil zuwiderläuft. Leute, denen Repression droht, werden versteckt oder außer Landes gebracht, es gibt solidarische Unterstützung, „safe houses“, eine selbstorganisierte medizinische Versorgung, und anderes mehr, alles in allem eine Art alternative solidarische Ökonomie. Verbunden mit der Abwesenheit und Ablehnung zentraler Anführer könnten hier Ansätze einer neuen Gesellschaftlichkeit entstehen.
Linksradikale Kräfte mischen bei der Bewegung mit, aber ist das genug? Sollten internationale linke Perspektiven stärker einfließen?
Zunächst mal denke ich, dass die Bewegung in Hongkong auch keine linken Kader als Anführer braucht, die ihr erklären, wie sie zu machen hat. Auch unter deutschen Linken herrscht ja oft die Haltung vor, dass proletarische oder sich nicht eindeutig links oder linksradikal einzuordnende Kämpfe eh beschränkt sind und die Beteiligten nicht wissen, wo es langgeht. Diese übliche linke Arroganz ist nicht nur hier fehl am Platz.
Es ist leicht festzustellen, dass „die in Hongkong ja nur Demokratie wollen.“ Ich werde jedoch niemandem, der konkret bedroht ist von massiver Unterdrückung und Zensur wie in China, vorwerfen, dass sie oder er „nur“ gegen die Diktatur kämpft. Wir sollten schauen, wie die Leute sich dort organisieren und kämpfen, was wir davon lernen können und wo die Grenzen der Bewegung sind. Wichtig ist, dass viele Leute ihre ersten Erfahrungen in größeren sozialen Kämpfen machen und sich dadurch weitere politische Perspektiven öffnen können. Die Linke Hongkongs mischt in der Bewegung mit, und meiner Meinung nach ist eine ihrer Aufgaben, Bezüge herzustellen zu anderen Aufstandsbewegungen wie in Chile, im Irak und anderswo. Wir sollten sie dabei unterstützen.
Quelle: lowerclassmag.com… vom 26. Dezember 2019
Tags: Arbeitswelt, China, Neoliberalismus, Widerstand
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