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Kämpfe in Frankreich. Welche Lehren aus einem Rückschlag?

Eingereicht on 24. Januar 2020 – 17:06

Alain Bihr. Die Aussetzung des Streiks bei der SNCF und der RATP (Pariser Verkehrsbetriebe), die das Epizentrum des Streiks waren, bildet den Abschluss der ersten Runde der Anfang Dezember einsetzenden Bewegung gegen den Plan der Regierung, die derzeitigen Rentensysteme in Frankreich zu zerschlagen. Es geht hier nicht darum, sich als Besserwisser aufzuspielen, vor allem nicht angesichts von Lohnabhängigen, die zum Teil seit mehr als sieben Wochen streiken, was selbst in Frankreich ungewöhnlich lang ist: Das wäre ungebührlich und zudem völlig kontraproduktiv. Es ist jedoch notwendig, aus diesem Rückschlag zu lernen, um die Voraussetzungen für einen Erfolg in den kommenden Kämpfen, die sich bereits abzeichnen, vorzubereiten. Auch sollten die Lehren, die wir hier zu ziehen versuchen, nicht als «Worte des Evangeliums» betrachtet werden: Es sind einfach Vorschläge, die wir in die kollektive Diskussion einbringen möchten, die die Bewegung ständig und natürlicherweise begleitet hat.

Eine zu schmale Basis

Obwohl die Bewegung die Straßen der wichtigsten Städte Frankreichs mehrmals hintereinander mit Hunderttausenden von Demonstranten füllte, war ihre Basis nie so umfassend, wie dies möglich gewesen wäre. Und vor allem so, wie dies notwendig gewesen wäre, um eine Regierung zum Einlenken zu bringen, die fest entschlossen ist, ihre Politik der sozialen Regression im Dienst des Kapitals durchzuziehen.

Seit dem Tag, an dem die Bewegung am 5. Dezember auftauchte, schien ihr Schwerpunkt bei der SNCF und der RATP zu liegen; dort war der Streik massiv und er wurde von diesem Tag an unbefristet fortgesetzt, zumindest unter den gesetzlich oder «garantiert» Beschäftigten. In der Folge baute die Bewegung auf diesen beiden Ankerpunkten auf und versuchte sporadisch, den Streik auf Häfen, Ölraffinerien und im weiteren Sinne auf die chemische und pharmazeutische Industrie (Dunlop, Sanofi), den Energiesektor (EDF und Enédis, ehemals EFRE) auszuweiten, wie auch auf die Hausmüllsammlung, die öffentlichen Verkehrsmittel in verschiedenen Städten, die nationalen Bildungsinstitutionen (hauptsächlich Sekundarschulbildung) und die Kultur (mit der spektakulären Aktion der Pariser Oper, aber auch dem Streik bei Radio France).

Die größte Abwesenheit in der gesamten Bewegung war jedoch, abgesehen von den wenigen eben erwähnten Ausnahmen, der gesamte Privatsektor. Diese Abwesenheit war in zweierlei Hinsicht schädlich: Abgesehen davon, dass der Bewegung so viele Waffen, Stimmen und Gehirne entzogen wurden (was niemals durch die Beteiligung an Streikfonds kompensiert werden kann, die als sogenannter «Stellvertreterstreik» fungieren konnte), wurde ihr ein Mittel des direkten Drucks auf die Unternehmer genommen. Im Laufe der Bewegung machte der Medef [französischer Unternehmerverband] jedoch deutlich, dass er das Projekt der Regierung zwar voll und ganz billigt, aber keineswegs als Priorität betrachtet. Man kann sich also vorstellen, dass die Bewegung, wenn sie ihre Unternehmen durch die Beeinträchtigung ihrer Umsätze und Gewinne dauerhaft beeinträchtigt hätte, die Unternehmer sich schließlich selbst im Matignon [Sitz der Regierung] und in dem Elysée-Palast [Sitz des Präsidenten Macron] eingemischt hätten, um die Regierung, wenn schon nicht zum Rückzug des Projektes zu bewegen, so doch zumindest substanziellere Zugeständnisse erreichen konnte als die irreführenden, die Anfang Januar beschlossen wurden. Denn wenn die Regierung gegenüber den Forderungen der Straße taub ist, wissen die Unternehmer sehr wohl, wie sie sich Gehör verschaffen können.

Die Gründe für die mangelnde Mobilisierung des Privatsektors sind bekannt und wurden an anderer Stelle eingehend analysiert. Die Schwerfälligkeit dieses Sektors lässt sich in erster Linie durch die stille, aber manchmal auch direkt von der Unternehmensleitung herumgeschwungene Drohung erklären, die das Fortbestehen einer hohen Arbeitslosenquote für die Lohnabhängigen darstellt. Die neoliberale Reorganisation der Unternehmen seit den 1970er Jahren mit Verlagerungen und Zersplitterung in mehrere Standorte, Rückgriff auf Tochtergesellschaften und Subunternehmen hat ebenfalls dazu beigetragen, dass die während der Zeit des blühenden Fordismus aufgebauten «Arbeiterfestungen» zerschlagen wurden, mit dem Effekt, dass sich das kapitalistische Management noch mehr von der Basis ihrer Beschäftigten entfernt; diesen wurden somit die Mittel zur direkten Druckausübung auf jenes entzogen. Der Vormarsch «atypischer» Arbeitsformen (befristete Arbeitsverträge, Zeitarbeit, Teilzeitarbeit) führte zur Auflösung von Arbeitskollektiven innerhalb der Betriebe und erschwerte die kollektive Organisierung und Mobilisierung der Lohnabhängigen innerhalb oder außerhalb der Gewerkschaften. Und schließlich, wenn auch die sogenannten Repräsentationsorgane des Personals (die Personalvertretung, der Ausschuss für Gesundheit, Sicherheit und Arbeitsbedingungen, der Betriebsrat) dazu beigetragen haben, die Machtverhältnisse in den Privatunternehmen zu verbessern (ohne die es keine Erklärung für die häufigen Repressionen gegen die Beschäftigten gäbe, die diese Aufgabe wahrnehmen), so haben diese Organe einen großen Teil der Zeit und Energie von Gewerkschaftsaktivisten beansprucht, sehr zum Nachteil ihrer Möglichkeiten für direkte Kontakte, der gegenseitigen Information, der Diskussionen, der formellen oder informellen Treffen mit dem Rest der Arbeiter und Arbeiterinnen.

Auch ohne eine sofortige Ausweitung des Streiks in der Privatwirtschaft wäre es jedoch möglich gewesen, Verbindungen und eine Koordinierung mit Sektoren aufzubauen, die seit Monaten oder sogar Jahren über das hinausgehen, was nun punktuell möglich wurde. Zu ihnen gehört in erster Linie der Krankenhaussektor, insbesondere die Notfalldienste, die dem finanziellen Würgegriff durch die Gebührenordnung (T2A) [1] zum Opfer fallen, aber auch die Laxheit der Regierung gegenüber der Stadtmedizin, die immer weniger ihren öffentlichen Auftrag erfüllt, aber weiterhin von der sozialisierten Finanzierung profitiert. Das Personal der EHPAD könnte ebenfalls mobilisiert werden, Opfer der gleichen Politik der öffentlichen Ausgabenkürzungen und ganz allgemein der Nachlässigkeit der Regierung im Umgang mit dem Problem der sozialisierten Betreuung abhängiger älterer Menschen, das sich mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung nur noch verschlimmern kann. Das nationale Bildungspersonal seinerseits ist stark von den ständigen «Reformen» betroffen, die seine Hauptaufgaben verwischen und seine administrativen Aufgaben erschweren, während sich seine Lehrbedingungen so verschlechtern, dass einige seiner Mitglieder am Arbeitsplatz Selbstmord begehen, weil sie von ihren Vorgesetzten nicht angehört werden. Sie sollten auch eine der Speerspitzen der Bewegung sein, weit über den kleinen Raum hinaus, den sie in dieser einnahmen, schon allein deshalb, weil sie zu den Hauptopfern des von der Regierung geplanten neuen Altersvorsorgesystems gehören werden [2].

Es ist auch zu bedauern, dass es keine massive Mobilisierung junger Schüler und Studenten gegeben hat, deren Kampfpotenzial bekannt ist, und insbesondere die Auswirkungen, die dies auf die öffentliche Meinung und auf die Regierung haben kann. Zweifellos scheint der Ruhestand ein sehr ferner Horizont zu sein, wenn man zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahre alt ist und viele andere Sorgen und Wünsche im Kopf hat als die Sicherung des Alters. Gleichzeitig aber wären diese jungen Leute zweifellos nicht gleichgültig geblieben, wenn sie über dieses Thema richtig informiert worden wären, was für sie unmittelbar auf dem Spiel steht, denn ihre Generation wird die Hauptlast des universellen Punktesystems tragen müssen, mit dem die Regierung die derzeitigen Rentensysteme ersetzen will: sie sind das Herzstück des Projektes. Es war daher zwingend notwendig, sie zu mobilisieren, was ihre eigenen Organisationen (Unef, Fidel usw.) ohne großen Erfolg versuchten. Infolgedessen waren die Schüler und Studenten kaum bei den Demonstrationen und noch weniger bei den manchmal stattfindenden Generalversammlungen anwesend.

Schließlich, bewusst oder unbewusst, griff über die vergangenen Wochen eine andere Bewegung ein, die ein Jahr zuvor begonnen hatte und die in den ersten Monaten des vergangenen Jahres an der Spitze der sozialen Mobilisierung stand, nämlich die der «Gelbwesten» (GJ). Damals verfügte sie über ein erhebliches Mobilisierungspotential, mehr als heute, aber dieses hätte genutzt werden können, wenn in ihrer Richtung Brücken gebaut worden wären. Denn die Plattformen der Forderungen, die aus der GJ-Bewegung, insbesondere aus den «Versammlungen der Versammlungen» in Commercy (Ende Januar 2019), Saint-Nazaire (Anfang April), Montceau-les-Mines (Ende Juni) und Montpellier (Anfang November) hervorgingen, boten diese Chance in Form von vielversprechenden Elementen der Konvergenz [3]. Es wäre weiterhin notwendig gewesen, den anfänglich feindseligen Reflex der Gewerkschaftsverbände (einschließlich der CGT und Solidaires) gegenüber den GJs zu überwinden, der danach nicht völlig verschwand und in einem Teil der Gewerkschaftsapparate immer noch fortbesteht [4]. Mit anderen Worten: Obwohl die GJs bei den Demonstrationen nicht völlig abwesend waren, insbesondere bei den Samstagsdemos, die unter anderem gerade als Einladung zur Konvergenz organisiert wurden, haben die Gelbwesten dabei nicht den ihnen zustehenden Raum ausgenutzt.

Ein methodischer Fehler: Demonstration statt Streik

Diese ungenügende allgemeine Mobilisierung liegt selbst teilweise in einem methodischen Fehler begründet – einem Fehler bei der Wahl des bevorzugten Mittels, mit dem die Regierung in die Knie gezwungen werden soll. Diese Entscheidung wurde zugunsten von Demonstrationen, genauer gesagt, wiederholten Demonstrationen, und nicht zugunsten eines Streiks getroffen.

Natürlich wurde der Streik bei weitem nicht vernachlässigt. Verwurzelte und ausgedehnte Streiks sind ein ständig präsentes und erklärtes Ziel der Bewegung, mit den uns bekannten Einschränkungen hinsichtlich der erzielten Ergebnisse. Die Tage der Demonstration waren alle als «Aktionstage» konzipiert, an denen alle Arbeiter und Arbeiterinnen von den Gewerkschaftszentralen (mit Ausnahme der CFDT) aufgefordert wurden, die Arbeit niederzulegen… um die Reihen der Demonstranten zu vergrößern. Zwischen den beiden, Streik und Demonstration, lag der Schwerpunkt also eher auf den letzteren als auf den ersteren.

Es wurde vergessen, dass die Hauptwaffe der Arbeiterklasse immer der Streik war und weiterhin bleiben wird. Dies ist einfach aufgrund der spezifischen Natur der kapitalistischen Produktionsbeziehungen, die in der Enteignung der Arbeiter und der daraus resultierenden Umwandlung der Arbeitskraft in eine Ware besteht. Als alleinige Eigentümer ihrer Arbeitskraft haben die Lohnabhängigen daher immer noch die Möglichkeit, diese der Ausbeutung und der Herrschaft zu entziehen. Diese Fähigkeit können sie jederzeit nutzen, um das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu kippen, um ihre Beschäftigungs-, Arbeits- und Einkommensverhältnisse zu verbessern, sofern sie dies mehr und besser verstehen.

Setzen wir jedoch voraus, dass der Streik so vorbereitet und durchgeführt wird, dass er hinsichtlich der Herstellung eines günstigen und dauerhaften Kräfteverhältnisse so effektiv wie möglich ist. Dies setzt u.a. voraus, dass über seine Durchführung und seinen Verlauf die Lohnabhängigen selbst entscheiden und sie dabei auf die Hilfe ihrer Gewerkschaftsorganisationen zählen können: tägliche Vollversammlungen von Streikenden und Nichtstreikenden, Besetzung der Arbeitsplätze, wann immer möglich, Einrichtung eines Streikkomitees (am Arbeitsplatz) und eines Unterstützungskomitees (außerhalb des Arbeitsplatzes, dessen anfänglicher Kern aus allen Angehörigen der Streikenden bestehen kann): Verwandte, Freunde, Nachbarn, die vor den Unternehmen darum kämpfen, möglichst viele Beschäftigte (vor allem Zeitarbeitskräfte und solche, die als Subunternehmer tätig sind) in die Bewegung zu locken, Streikposten organisieren und auf dieser Grundlage sofort versuchen, den Streik auf andere Betriebe desselben Unternehmens, aber auch auf Unternehmen in derselben geographischen Zone auszuweiten, die Popularisierung des Streiks an Orten, die von den Lohnabhängigen, die sich mit ihm identifizieren können, frequentiert werden (Einkaufszentren, Arbeiterviertel), Schaffung eines Solidaritätsfonds zur Unterstützung der Streikenden, Hauptversammlungen der Streikenden und der mobilisierten Arbeiter und Arbeiterinnen in derselben Gegend oder an demselben Ort usw. Diese in den 60er und 70er Jahren weit verbreiteten Praktiken gingen leider durch das Nachlassen der Kämpfe in den folgenden zwei Jahrzehnten und dem damit einhergehenden Generationenwechsel innerhalb des kämpferischen Milieus verloren; und es wird notwendig sein, sie sich in einem heute weniger günstigen Kontext, der durch den Zerfall der oben genannten Unternehmen und Arbeitskollektive gekennzeichnet ist, wieder anzueignen. Denn nur durch solche Praktiken kann der Streik sowohl dort Fuß fassen, wo er bereits Wurzeln geschlagen hat, als auch dort, wo er sich noch nicht ausgebreitet hat.

Bedeutet dies, dass Demonstrationen unnötig werden würden? Sicherlich nicht, aber sie würden ihre Bedeutung ändern, in jedem Sinne des Wortes. Sie würden mit dem Ziel organisiert und durchgeführt, den Streik zu verstärken, indem sie ihn populär machen, indem sie sich an die Beschäftigten der wichtigsten Unternehmen des Ortes wenden, um sie in die Bewegung einzubeziehen, und indem sie durch die – wenn auch peripheren – Arbeiterviertel ziehen und die Gelegenheit nutzen, (durch Transparente, verteilte Flugblätter und Parolen) Fragen zu allen Lebensbedingungen in ihren Vierteln (Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, Löhne und Lebensstandard, Wohnverhältnisse, Zustand der Gemeinschaftseinrichtungen und öffentlichen Dienste usw.) anzusprechen. Anstatt in die Stadtzentren vorzudringen, deren Bevölkerung hauptsächlich aus sozialen Kategorien außerhalb der Bewegung besteht und ihr sogar feindlich gesinnt ist.

Wenn man im Gegenteil die Demonstration dem Streik vorzog, so war dies sicherlich in erster Linie ein Versuch, die Schwierigkeiten bei der Ausweitung des Streiks zu überwinden, wobei man sich die Tatsache zunutze machte, dass die Bewegung gegen das Regierungsprojekt zu Beginn die mehrheitliche Unterstützung der öffentlichen Meinung genoss und die weiterhin besteht – dies trotz der intensiven Desinformationskampagne der Regierung, die darauf abzielt, die Bewegung zu diffamieren oder «unsichtbar zu machen». Aber es gibt vielleicht einen tieferen Grund. Die von der Bewegung implizit angenommene Wette, wie dies teilweise auch von einigen ihrer Sprechern erklärt wird, besteht darin, dass es ausreichen würde, den Umfang der Opposition gegen das Projekt der Regierung aufzuzeigen, und diese so zum Rückzug zu zwingen.

Eine Wette, die verloren ging, weil sie auf einer falschen Einschätzung der Natur dieser Regierung und der Absichten hinter ihren Projekten beruht. Die Regierung von Macron-Philippe weiß, dass sie sich in der öffentlichen Meinung in einer Minderheitsposition befindet [5]. Dies aber kümmert sie nicht, weil sie sich auf eine parlamentarische Mehrheit verlassen kann, die ihrerseits eine große Minderheit im Land darstellt [6], und indem sie weiß, dass sie von den Regierungen anderer wichtiger Staaten, den Institutionen der Europäischen Union, den französischen und ausländischen Kapitalisten, den Ratingagenturen für öffentliche Schulden usw. unterstützt, aber auch überwacht wird [7]. Denn sie hält sich allein diesen Organen gegenüber verantwortlich und nicht gegenüber dem französischen Volk (der Gesamtheit der Bürger, was eh eine juristische und politische Fiktion darstellt); und ihre politische Agenda (die «Reformen», die sie durchführt, ihre relative Bedeutung, ihr Zeitplan) wird in erster Linie, wenn nicht ausschließlich, nach deren Forderungen und Erwartungen bestimmt. Dies erklärt auch den zunehmend autoritären und repressiven Charakter eines Regimes, das heute nur noch den Anschein einer Demokratie hat, auch wenn es auf seine parlamentarische Formel reduziert wird: Als Beweis dafür verhandelt es nicht mehr mit den «Sozialpartnern», sondern fordert sie auf, seine «Reformen» zu erklären, die sie offensichtlich nur schwer verstehen, da sie so bleiben, wie sie sind! Unter diesen Bedingungen war der Versuch, den Minderheitencharakter des Regierungsprojekts aufzuzeigen, um es zu diskreditieren, ein Versuch, bereits offene Türen einzutreten.

Eine schlecht oder unzureichend vorbereitete Bewegung

Der Zeitpunkt dieser Bewegung ist schließlich zu bedauern. Vorbereitet durch den Weckruf des Aktionstages vom 24. September, wird sie erst am 5. Dezember, fast zweieinhalb Monate später, ausgelöst. Außerdem ist ihr Auftakt nur zwei Wochen vom traditionellen «Waffenstillstand der Weihnachtspause» entfernt; so war leicht abzusehen, dass dies die Bewegung unterbrechen oder zumindest schwächen könnte. Zudem standen die Schüler und Studenten kurz vor dem Eintritt in eine Prüfungsphase, die per definitionem ihrer Mobilisierung nicht förderlich war.

Diese Verzögerung wurde von den Gewerkschaftsdachverbänden damit gerechtfertigt, dass man abwarten müsse, bis die Regierung den Inhalt ihrer «Reform» präzisiert und Zeit für die von Jean-Paul Delevoye organisierten Verhandlungen einräumt. Erstere tat jedoch nichts dergleichen (was von ihrer Seite taktisch klug war), während letzterer seine Rolle perfekt erfüllt hat, indem er «die Sozialpartner» zappeln liess, bevor er das Handtuch werfen musste, als seine wiederholten Verstöße gegen die Regeln der Transparenz im öffentlichen Leben aufgedeckt wurden, wobei er weiterhin das «volle Vertrauen» der Regierung genoss…

Diese Latenzzeit hätte noch zur Vorbereitung des Streiks genutzt werden können, und zwar nach einigen der zuvor vorgeschlagenen Methoden: umfassende Information der Lohnabhängigen über den Umfang der «Reform», systematisches Entgegnen auf die Argumente der Regierung; Beginn einer Tour in die Unternehmen und Betriebe durch diejenigen, für die ein Streik bereits feststand; Schaffung der Grundlagen für die Bildung künftiger Unterstützungskomitees; Einleitung des Aufbaus von Streikfonds usw. Diese Aktionen wurden zwar vor Ort in Erwartung des Auftakts der Bewegung durchgeführt, aber nicht in der systematischen Weise, die wünschenswert gewesen wäre. Und als sie schließlich Anfang Januar durchgeführt wurden, war es bereits zu spät.

Zu bedauern ist insbesondere der Mangel an Informationen für die Lohnabhängigen, gemessen daran, dass ein großer Teil von ihnen nach wie vor davon überzeugt ist, dass die so genannte «Reform» in Wirklichkeit auf die Abschaffung der Sonderregelungen und ihrer angeblichen Privilegien reduziert wurde, was sie nur aus der Bewegung heraushalten konnte. Das zu entwickelnde Argument wäre jedoch einfach gewesen: «Es stimmt, dass die Regierung alle zukünftigen Rentner dem gleichen Regime unterwerfen will: dem der Suppenküche!» Und natürlich hätte diese Information mit dem Beweis einhergehen müssen, dass eine weitere Gegenreform möglich ist: An Argumenten und Zahlen zu diesem Thema mangelt es nicht [7].

In diesem Herbst hätten auch Kontakte geknüpft und Informations- und Mobilisierungsaktivitäten für die potenziell mobilisierbaren Sektoren außerhalb des öffentlichen und privaten Sektors durchgeführt werden sollen, insbesondere für junge Schüler und Studenten und die Gelbwesten. In Bezug auf letztere wäre dies neben der gemeinsamen Sache der Verteidigung eines umlagefinanzierten Rentensystems, das jedem Rentner und jeder Rentnerin ein hohes Rentenniveau garantiert, eine Gelegenheit gewesen, den Umfang und die Ziele des Kampfes zu erweitern, wenn man bedenkt, dass die derzeitige «Reform» der Regierung Teil einer viel umfassenderen Offensive ist, die auf die Reduzierung aller öffentlichen Ausgaben, einschließlich der für die soziale Absicherung, abzielt und gegen deren Auswirkungen gerade die GJs genauestens vorgegangen sind [8]. Dies hätte es auch einfacher gemacht, sie mit den laufenden Kämpfen in Krankenhäusern, EHPADs, dem nationalen Bildungssystem usw. zu verbinden [9].

Was nun: Vorbereitung der Gegenoffensive

Bedeutet dies, dass die Bewegung endgültig besiegt ist? Natürlich nicht. Die Tatsache, dass der Streik dort, wo er sich trotz seiner Beschränkungen durchgesetzt hat, anderthalb Monate gedauert hat, spricht Bände. Und dass sich die Straßen nach fast fünfzehn Aktionstagen immer wieder füllen, spricht für die Entschlossenheit der Teilnehmer der Bewegung, ob Streikende oder nicht; sie wollen nicht aufgeben.

Es werden bereits neue Taktiken geprüft, die die allgemeine Offensive durch einen Guerillakrieg ersetzen. Während die Aktionstage und die sporadischen Streiks weitergehen werden, werden die Behörden ständig schikaniert, mit Stromausfällen, Blockaden von Handelsanlässen, «Begrüßungsausschüssen» für umherziehende Minister usw.

Aber auch wenn Zeit gewonnen werden kann, um unsere Kräfte wiederaufzubauen und gleichzeitig den Druck auf die Bosse und die Regierung aufrechtzuerhalten, kann diese soziale Guerillataktik letztlich die Vorbereitung einer neuen Gegenoffensive nicht ersetzen. Alle bisherigen Ausführungen haben den alleinigen Zweck, Vorschläge zu formulieren, um den Erfolg dieses Mal sicherzustellen. (23. Januar 2020)

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1] Vgl. https://fr.wikipedia.org/wiki/Tarification_%C3%A0_l%27activit%C3%A9

2] In all diesen Fällen wirkt die Unterordnung dieser ansonsten sehr unterschiedlichen Akteure unter eine Politik der Beschränkung der öffentlichen Ausgaben, die den aktuellen Anforderungen der Reproduktion des Kapitals unterworfen ist, wie eine Enteignung im Hinblick auf die Kontrolle ihrer Arbeitsbedingungen, die gleichbedeutend ist mit der Degradierung ihres Status und sie in Richtung des Abhangs der Proletarisierung treibt. Das ist es, was Krankenhausärzte gemeint haben und wogegen Krankenhausärzte protestieren wollten, indem sie z.B. ihre Kittel wegwerfen und Anwälte ihre Roben wegwerfen.

3] Vgl. https://giletsjaunes-coordination.fr/outils/espace-ada

4] Diesmal mit der bemerkenswerten Ausnahme von Solidaires. Siehe «Gelbe Westen, über eine soziale Revolte», Les Utopiques, Nr. 11, Sommer 2019.

5] Es sei daran erinnert, dass bei den Präsidentschaftswahlen 2017 die abgegebenen Stimmen für Macron im ersten Wahlgang nur 18,19% und im zweiten Wahlgang 43,61% der in die Wählerlisten eingetragenen Bürger ausmachten. Und jedes Mal noch deutlich weniger, wenn man sie mit der gesamten erwachsenen Bevölkerung vergleicht, einschließlich der nicht registrierten und der Ausländer.

6] Die von Macrons La République en marche aufgestellten Kandidaten erhielten in der ersten und zweiten Runde der Parlamentswahlen 2017 nur 13,44% bzw. 16,55% der registrierten Wähler. Die Tatsache, dass sie auf einer so schmalen Basis die absolute Mehrheit der Sitze erringen konnten, erklärt sich aus der Kombination einer Zweirunden-Mehrheit, der Streuung der konkurrierenden Kräfte, sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite, und einer hohen Enthaltungsrate (51,30 Prozent bzw. 57,36 Prozent).

7] Vgl. zum Beispiel Christiane Marty und Daniel Rallet, Renten, die verborgene Alternative, Syllepse, 2013.

8] Siehe «Gelbeesten: Ein Volksaufstand gegen den zweiten Akt der neoliberalen Offensive», online auf der Website A l’encontre: http://alencontre.org/europe/france/les-gilets-jaunes-un-soulevement-populaire-contre-lacte-ii-de-loffensive-neoliberale.html.

Quelle: alencontre.org… vom 24. Januar 2020; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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