Klassenzusammensetzung
Kolinko. Der Begriff der Klassenzusammensetzung ist Teil unserer Suche nach der Möglichkeit der Revolution. Wir fragen uns, worin die Macht für eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung besteht. Uns ist einleuchtend, dass nur die Ausgebeuteten selbst die Ausbeutung abschaffen können. Aber diese Antwort scheint recht allgemein und sagt uns wenig über die Art und Weise, wie dieser Prozess der Befreiung ablaufen soll. Die Vorstellung des Marxismus- Leninismus können wir nicht mit unseren Erfahrungen zusammenbringen: weder ist die „Arbeiterklasse“ ein einheitliches Gebilde, noch sehen wir die Möglichkeit, dass eine Partei die Spaltungen überwinden und den Kämpfen eine revolutionäre Richtung geben könnte. Die Analyse der „Klassenzusammensetzung“ hilft uns genauer zu verstehen, wodurch ArbeiterInnenkämpfe bestimmt werden, wie aus ihnen eine Klassenbewegung entstehen kann und wie wir aktiver Teil in diesem Prozess sein können.
Wir sehen diesen Work-Shop über „Klassenzusammensetzung“ daher als einen Einstieg in die Diskussion über unsere „Rolle als RevolutionärInnen“ und unsere politischen Strategien: welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Aufbau eines „ArbeiterInnennetzes“ des CRO, dem Untersuchungsprojekt von Kolinko, dem Zeitungsprojekt aus Schweden etc., wo bestehen unterschiedliche politische Einschätzungen und worin die Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit? Wir wollen die Schritte unserer Diskussion über Klassenzusammensetzung nachvollziehen, in dem wir mit den Ausgangsfragen nach der „Rolle von RevolutionärInnen“ und des „Klassenbegriffs“ einsteigen.
- Der Frage nach der Rolle von RevolutionärInnen geht die Frage nach ihrem Verhältnis zur und ihrem Verständnis von Arbeiterklasse voraus
In der Diskussion über die Rolle von RevolutionärInnen werden oft nur die unterschiedlichen Vorstellungen der verschiedenen politische Strömungen (Leninismus, Syndikalismus, Rätekommunismus etc.) gegeneinander gehalten. Wir müssen uns genauer ansehen, aus welchem Verständnis von Arbeiterklasse und aus welchem materiellen Verhältnis zu ihr die unterschiedlichen Vorstellungen über Rolle und Organisierung von RevolutionärInnen entstehen.
- Die unterschiedlichen kommunistischen Strömungen (Leninismus, Räte- Kommunismus etc.) verbindet ein formaler Begriff von Kapital und Arbeiterklasse
Kapital wird von den verschiedenen Strömungen im allgemeinen nur als formales Ausbeutungsverhältnis gesehen: die Mehrarbeitszeit der ProduzentInnen wird sich von privater (oder staatlicher) Hand angeeignet. Auf den besonderen Arbeitsprozess, der diese Abtrennung von Produktionsmitteln und Produkt hervorbringt, wird nicht eingegangen. Daraus folgt ein formales Verständnis von Arbeiterklasse: eine Masse von Ausgebeuteten, die aufgrund ihrer Besitzlosigkeit an Produktionsmitteln ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Aus diesem ähnlichen Verständnis von Arbeiterklasse folgern unterschiedliche politische Schlüsse: die LeninistInnen sehen die Notwendigkeit, dass die Masse von Ausgebeuteten, deren Zusammenhang nur ihre formale Gleichheit ist, durch eine Partei zusammengehalten werden muss. Die Partei muss den spontanen Kämpfen der Ausgebeuteten eine strategische Richtung geben; die RätekommunistInnen gehen von der „Spontaneität“ aus, mit denen sich Kämpfe aus der Masse der ArbeiterInnen entwickeln. Sie fragen weniger nach dem Grund der „Spontaneität“, noch nach einer strategischen Richtung, sondern sehen ihre Aufgabe in erster Linie darin, die Erfahrungen von „Selbstaktivität“ der ArbeiterInnen zu verbreiten
- Ein formaler Begriff von Arbeiterklasse kann die Selbstemanzipation der ArbeiterInnen nicht erklären bzw. sie nicht unterstützen
Der formale Begriff von Ausbeutung (enteignete Mehrarbeitszeit) macht nicht erkennbar, welche Möglichkeiten der Selbstorganisierung die ArbeiterInnen entwickeln können. Als „NichtbesitzerInnen“ von Produktionsmitteln haben sie keine Macht und die bloße Tatsache, dass sie alle ausgebeutet werden, schafft keinen wirklichen Zusammenhang zwischen ihnen. Die Möglichkeit der Selbstorganisierung ergibt sich nur aus der Tatsache, dass die ArbeiterInnen in einem praktischen Verhältnis zu sich selbst und zum Kapital stehen: sie arbeiten im Produktionsprozess zusammen und sind Teil der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Als ProduzentInnen stehen sie dem Kapital nicht als formale „Lohnabhängige“ gegenüber, sondern durch ihre praktische Tätigkeit produzieren sie das Kapital. Nur in diesem Verhältnis können ArbeiterInnenkämpfe eine eigene Stärke entwickeln. Die Isolation der ArbeiterInnen in einzelne Betriebe, Branchen etc. und die darauf basierende Beschränkung von Kämpfen lässt sich nicht „künstlich“ aufheben, in dem die Gemeinsamkeit der ArbeiterInnen als „ausgebeutete Lohnabhängige“ als Grundlage der Organisierung genommen wird. In diesem Versuch besteht der Kern jeder gewerkschaftlichen Organisierung: es werden immer äußerliche Organisationen und Vertreterinstanzen notwendig sein, um den „formalen Zusammenhang“ der Lohnabhängigkeit organisatorisch zusammenzuhalten. Der Leninismus erkennt diesen tieferliegenden Grund für die „gewerkschaftlichen Formen“ des Arbeiterkampfs nicht. Er sieht das Ganze als eine reine Frage der Führung: wird der äußere Zusammenhang durch die Gewerkschaft oder durch die kommunistische Partei hergestellt? Die Kritik am Leninismus begrenzt sich meist darauf, die Form dieses äußeren Zusammenhangs zu kritisieren: „undemokratisch“, „nicht von den ArbeiterInnen selbst geschaffen“. In seltenen Fällen analysieren die linken KritikerInnen den Produktionsprozess als Grundlage für Formen und Zusammenhang von ArbeiterInnenkämpfen. Daher auch ihr Hang, der Spontaneität der ArbeiterInnenkämpfe nur zu folgen und keine strategische Richtungen in ihnen zu sehen und voranzutreiben. Warum entwickeln sich trotz ähnlichem Klassenbegriffs unterschiedliche politische Strömungen.
- Der Grund für unterschiedliche „politische Vorstellungen“ von Leninismus und anderen Strömungen besteht in der Tatsache, dass sie unterschiedliche Entwicklungsstufen der Ausbeutung und des Klassenkampfs reflektieren
Die RätekommunistInnen und andere kritisieren am Leninismus vor allem den bevormundenden und undemokratischen Charakter der Partei. Die tiefergehende Kritik besteht unserer Ansicht nach aber in der Analyse, dass das bolschewistische Parteimodell aus einer besonderen materiellen Situation in Russland Ende des 19. Jahrhunderts entstand. Eine Agrargesellschaft mit verstreuten, isolierten Bauerndörfern, hoher Analphabetenrate und nur kleinen Kernen industrialisierter Zonen ließ sich nur durch eine äusserliche Massenorganisation politisch vereinheitlichen. Diese äußerliche Organisierung war für die industrialisierten Staaten Westeuropas der 1920er nicht mehr erforderlich, da die Fabriken die ArbeiterInnen vereinheitlichen und die ArbeiterInnen dies auf politischer Ebene mit Bildung von Räten nachvollziehen. Heute reflektieren die wenigsten der linken KritikerInnen des Leninismus den materiellen Kern dieser Kritik. Sie kritisieren den Leninismus nur auf politischer Ebene, ohne nach seinen materiellen Wurzeln zu fragen. Wir müssen diese Kritik wieder auf die Füße stellen, in dem wir die Änderungen der Organisation der Ausbeutung und des ArbeiterInnenkampfs analysieren, um davon ausgehend unsere politischen Strategien zu entwickeln. Dabei ist der Begriff der Klassenzusammensetzung hilfreich.
- Kern des Begriffs der Klassenzusammensetzung ist die Erkenntnis, dass Produktionsweise und Rebellionsweise der ArbeiterInnen zusammenhängen
ArbeiterInnen kämpfen nicht aufgrund des „Bewusstseins“ zusammen, das sie alle Ausgebeutete sind. ArbeiterInnenkämpfe entstehen aus konkreten Arbeitsbedingungen, aus konkreten Situationen der Ausbeutung. ArbeiterInnenkämpfe nehmen unterschiedliche Formen an (in der Geschichte, in verschiedenen Regionen, Branchen etc.), da sich der konkrete Arbeitsprozess und somit die materielle Form der Ausbeutung unterscheidet. Die Produktionsweise und die Position innerhalb der gesellschaftlichen Produktion bestimmt Form und Möglichkeiten eines Kampfs: Kampfformen von LKW-FahrerInnen und BauarbeiterInnen unterscheiden sich, Streiks in Fabriken, die für den Weltmarkt produzieren haben andere Auswirkungen als die in Call Centern. Wir unterscheiden bei der Analyse des Zusammenhangs von Produktionsweise und ArbeiterInnenkämpfe zwei Begriffe von Klassenzusammensetzung:
* die „technische Klassenzusammensetzung“ beschreibt die Bedingungen, unter denen das Kapital die ArbeiterInnen zusammenbringt; hierzu gehören sowohl die Bedingungen im unmittelbaren Produktionsprozess (z.B. Arbeitsteilung in versch. Abteilungen, Trennung von „Produktion“ und Planung, Einsatz von bestimmten Maschinen etc.) als auch die Form der Reproduktion (Wohnzusammenhang, Familienstruktur etc.)
* die „politische Klassenzusammensetzung“ beschreibt den Prozess, wie ArbeiterInnen die „technische Zusammensetzung“ gegen das Kapital wenden und ihren Zusammenhang als Arbeitskräfte als organisatorischen Ausgangspunkt ihres Kampfes nutzen; es gibt auch in unseren Reihen viel Diskussion darüber, an welchem Punkt wir von einer „politischen Klassenzusammensetzung“ reden können: Die eine Position spricht von „politischer Klassenzusammensetzung“, sobald ArbeiterInnen eines Betriebs oder Sektors ihren Kampf aus den Produktionsbedingungen heraus selbst organisieren. Die andere Position sieht als Voraussetzung für eine „politische Klassenzusammensetzung“ eine Welle von ArbeiterInnenkämpfen, die sich entlang von Kämpfen in bestimmten zentralen Sektoren des gesellschaftlichen Produktionsprozesses als „Klassenbewegung“ vereinheitlichen, als Beispiel sei die Rolle der Kämpfe im Automobilsektor für die Klassenbewegung der 60er/70er genannt.
Im Folgenden wollen wir an einzelnen Fragen anreißen, wie die besondere Form des Produktionsprozesses die ArbeiterInnenkämpfe bestimmt.
- a) unmittelbare Organisierung
Ob ArbeiterInnen Konflikte individuell oder kollektiv ausfechten hängt im Wesentlichen davon ab, wie sie sich im Produktionsprozess aufeinander beziehen müssen. Ist die Arbeit eher Ausdruck individuellen Geschicks (Handwerk), werden Konflikte auch eher individuell gelöst. Besteht durch arbeitsteilige Produktionsweise eine Abhängigkeit und enge Kontakte zwischen den ProduzentInnen, besteht eher die Notwendigkeit von kollektivem Verhalten. Ob sich ArbeiterInnen ihre Kämpfe selbst organisieren hängt des Weiteren davon ab, ob sie durch den Arbeitsprozess in die Lage versetzt werden, miteinander zu kommunizieren (hoher Grad an Kooperation, Konzentration von vielen ArbeiterInnen im Betrieb/Wohnzusammenhang etc.).
- b) unmittelbare Macht
Grundlage für Entstehung, Inhalt und Perspektive von ArbeiterInnenkämpfen ist die Frage, ob sie eine Macht gegenüber dem Kapital entwickeln können. Das hängt von verschiedenen Bedingungen ab: z.B. ob sich die ArbeiterInnen an Punkten konzentrieren sich, die für den Produktions- und Akkumulationsprozess von besonderer Bedeutung sind; ob der Kampf in einer Konjunkturphase (Boom, hohe Auftragslage etc.) oder unter einer Kapitalzusammensetzung (hoher Grad an Maschinisierung zwingt zu hohen Maschinenlaufzeiten) stattfindet, in der erhöhte Abhängigkeit von der Arbeitskraft besteht;
- c) politischer Inhalt
„Politisches Bewusstsein“, also das Bewusstsein als Klasse dem Kapital gegenüberzustehen, muss den ArbeiterInnen nicht von außen herangetragen werden, sondern entsteht in den Kämpfen selbst. Das in den Kämpfen entstehende „Bewusstsein“ hängt aber ebenfalls vom materiellen Verhältnis der ProduzentInnen untereinander und zu den Produktionsmitteln ab. Die kapitalistische Produktionsweise ist eine Massenproduktion, die sich auf Arbeitsteilung und Maschinerie stützt. Ob ArbeiterInnen die Ausbeutung bloß gewerkschaftlich als individuellen Raub durch einen Chef oder als ungleiche Verteilung begreifen oder politisch als ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis mit eigenen Gesetzen, hängt von den Bedingungen ab, unter denen sie arbeiten müssen. Es ist keine Frage des „falschen Bewusstseins“, wie es die LeninistInnen behaupten, sondern die Frage, in wie weit die Ausbeutung nicht nur formal kapitalistisch (Lohnarbeit), sondern auch materiell/inhaltlich (Maschinerie, hierarchische Arbeitsteilung etc.) abläuft. Wie die besonderen Produktionsbedingungen den politischen Inhalt von ArbeiterInnenkämpfen beeinflussen, wollen wir an ein paar Beispielen aufzeigen:
Verhältnis zum Lohn:
Im Kapitalismus soll der Lohn als „individueller Tausch gegen Arbeit“ verschleiern, dass sich das Kapital die kollektive Arbeitskraft aneignet. Einer ArbeiterIn, die zusammen mit hundert anderen ArbeiterInnen eingestellt wird und die gleiche Arbeit machen muss, wird eher deutlich werden, dass „individuelle Vertragsverhältnisse“ eine Verkehrung der Tatsachen sind, als einem Handwerker, der aufgrund seiner speziellen Qualifikation eine „besondere“ Arbeit macht.
Verhältnis zur Arbeit:
Die Arbeit im Kapitalismus ist abstrakt, d.h. es kommt nicht auf ihre Besonderheit an, sie muss sich nur als Mehrarbeit im Produkt ausdrücken. Eine ArbeiterIn, die zusammen mit anderen eine „unqualifizierte“ Arbeit machen muss, wird ein anderes Verhältnis zur Arbeit haben, als einE spezialisierteR ArbeiterIn. Ihr wird die Arbeit an sich abstrakt und austauschbar vorkommen, sie wird weniger zu einem „Standesbewusstsein“ oder Berufsstolz neigen.
Verhältnis zu anderen ArbeiterInnen:
Dass wir mit einem „formalen Klassenbegriff“ nicht viel weiterkommen, zeigt sich, wenn wir uns die Zusammensetzung der Arbeitskraft z.B. in einem Betrieb anschauen. Wir können zwar feststellen, dass auch VorarbeiterInnen, Meister, Abteilungsleiter und Manager „Lohnabhängige“ und somit formal Ausgebeutete sind, aber auch, dass sich ein konkreter Kampf von ArbeiterInnen meist gegen diese „kleinen Chefs“ durchsetzen muss. Die (hierarchische) Arbeitsteilung des gesellschaftlichen Produktionsprozess ist die Grundlage für rassistische und sexistische Spaltungen der Arbeiterklasse. Das Kapital spaltet also auf der einen Seite die ArbeiterInnen, es bringt innerhalb des Produktionsprozesses gleichzeitig ArbeiterInnen unterschiedlichen Geschlechts, Hautfarbe, „Nationalität“, Essverhaltens zusammen. Besonders in „bunt zusammengesetzten“ Bereichen der Ausbeutung entscheidet sich, ob diese Identitäten in den Kämpfen aufgebrochen oder gefestigt werden.
Verhältnis zu den Produktionsmitteln:
Das Kapital ist eine Produktionsweise, in der die tote Arbeit die lebendige kommandiert. Eine ArbeiterIn, die im Takt der Maschine arbeiten muss und merkt, dass sich ihre Situation auch durch modernere Technologie etc. nicht verbessert, wird diese Besonderheit kapitalistischer Ausbeutung eher be- und angreifen. ArbeiterInnen in einem handwerklichen Arbeitsprozess, die noch „HerrInnen ihrer Werkzeuge“ sind, wird das Ausbeutungsverhältnis eher durch ihren Chef symbolisiert.
Verhältnis zum Produkt:
ArbeiterInnen, die Massenprodukte herstellen wird schon durch die Arbeit deutlich, dass im Kapitalismus der Gebrauchswert zweitrangig ist, das die Quantität im Vordergrund steht. Oft stellt sich kein Verhältnis zum Gebrauchswert des Produkts ein, weil nur ein kleiner Teilschritt in seiner Herstellung geleistet wird. Viele ArbeiterInnen arbeiten heute nicht mehr an einem materiellen Produkt, sondern sie arbeiten unter industriellen Verhältnissen, um „Dienstleistungen“ zu produzieren. Wir müssen auch diskutieren, welchen Einfluss die „Immaterialität“ des Arbeitsgegenstands auf ArbeiterInnenkämpfe hat.
Es bleibt für uns eine offene Frage, in wie weit Kämpfe von „HandwerkerInnen“, LandarbeiterInnen und anderen ProletarierInnen, die nicht unter „industriellen“, d.h. spezifisch kapitalistischen Bedingungen arbeiten müssen, einen antikapitalistischen Charakter annehmen können. Es ist eine entscheidende Frage, wie sich diese Kämpfe ohne äußerliche Vereinigung (Stichwort „Anti-Globalisierungsbewegung“, „Peoples Global Action“ etc.) mit den Kämpfen des „industriellen Proletariats“ trotz unterschiedlicher Bedingungen vereinigen können.
- d) Ausweitung
Ob sich Kämpfe ausweiten hängt zwar auch von der „Spontaneität“, der gesellschaftlichen Stimmung und dem Zufall ab. für eine politische Strategie ist aber die materielle Grundlage wichtig: in welchem Verhältnis steht der einzelne Kampf zur gesellschaftlichen Produktion? Betriebe sind mehr oder weniger eingebunden in die gesellschaftliche Arbeitsteilung: internationale Zulieferketten, Transport, Verbindung zur „wissenschaftlichen Arbeit“ in Instituten und Universitäten, Verbindung zu „Dienstleistungen“ und Distribution. Demnach gibt es Unterschiede, welche Auswirkungen ein ArbeiterInnenkampf hat: beeinflusst z.B. ein Streik das alltägliche Leben von einer Masse von ArbeiterInnen? Bemerken die ArbeiterInnen die Auswirkungen des Streiks als ProduzentInnen, weil z.B. Teile für die Produktion fehlen, oder als KonsumentInnen, weil sie z.B. keine Zeitung mehr bekommen. für die Ausweitung ist also wichtig, dass andere ArbeiterInnen nicht nur durch „die Medien“ von dem Streik mitbekommen, sondern dass er materiell ihren (Arbeits-) Alltag beeinflusst. So wird die gesellschaftliche Dimension der Produktion deutlich, kann die eigene Isolation als „künstlich“ und die direkten Verbindungen zu anderen ArbeiterInnen erkannt werden.
Auch die gesellschaftliche Qualifikation, die ArbeiterInnen als Arbeitskraft erworben haben, beeinflusst ihre Fähigkeit, die Isolation ihres Kampfs durch eigene Maßnahmen zu durchbrechen: z.B. ihre organisatorischen Fähigkeiten, Umgang mit Kommunikationsmitteln, Improvisationskunst, Erfahrungen als ArbeitsmigrantInnen etc.
- e) politische Verallgemeinerung
In der Geschichte des Klassenkampfs gab es nie einen „Massenaufstand“, es war nie die „Mehrheit“ die sich „wie ein Mann“ erhoben hat. Es waren immer kleine Teile des Proletariats (einer bestimmten Fabrik, Sektors, Region etc.), die Kämpfe starteten, vorantrieben oder die als Symbol bzw. Fokus einer Bewegung galten. Diese „Kerne“ ergeben sich nicht durch „höheres Bewusstsein“, aber auch nicht durch Zufall. In den 70ern waren es vor allem die AutomobilarbeiterInnen, die diese Rolle spielten. Der Automobilsektor war das Rückgrat des kapitalistischen Boom der Nachkriegszeit, er zog Tausende von ArbeiterInnen in die Metropolen, er vereinheitlichte Erfahrungen der ArbeiterInnen durch Technologie und Arbeitsorganisation, er war Zentrum einer internationalen und sektorübergreifenden Arbeitsteilung. Auch das Produkt selbst war gesellschaftliches Symbol für einen gesteigerten Reichtum, an dem mensch als ArbeiterIn allerdings nur durch die Unterwerfung unters Fabrikkommando teilhaben konnte.
In anderen Zeiten oder Orten waren es bestimmte Regionen, die eine Streikwelle bestimmten. Weniger aufgrund von „Tradition“, eher aufgrund ihrer Bedeutung im gesellschaftlichen Produktionsprozess (Hafenstädte, Bergbaugebiete etc.). In Entwicklungszentren wird meist der Zusammenhang von Staat und Kapital (Infrastruktur, Arbeitsmarktpolitik, Sondergesetze etc.) und die Globalität dieser Gesellschaft („ausländische Investoren“, Migration) besonders deutlich. Als Beispiele können Städte wie Turin in den 50/60ern oder Maquilladoras in Lateinamerika oder Sonderentwicklungszonen in China heute genannt werden. Auch in Europa gibt es besondere „Entwicklungsinseln“ (z.B. Westgrenze Polens, Raum Dresden im kriselnden Osten, Piemont), die durch Subventionen, besondere Arbeitsmarktpolitik, Binnenmigration etc. geprägt sind.
Hier soll nicht behauptet werden, dass es ohne diese „Zentren“ keine Ausweitung von Streikbewegungen geben könne. Aber die Niederlage von Streikbewegungen hängt oft damit zusammen, dass diese „Zentren“ entweder nicht beteiligt waren oder aber besiegt wurden. Die Frage der „politischen Verallgemeinerung“ ist also weniger eine Frage der „politischen führung“, als die Frage danach, in wie weit es den Kämpfen gelingt, die Vergesellschaftung der Produktion nachzuvollziehen und das Kapital an seinen zentralen Punkten zu treffen.
- f) kommunistische Tendenz
Es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen über die „kommunistischen Tendenzen“. Auf der einen Seite die Vorstellung, dass die Menschen einen quasi menschlichen Drang nach einer besseren Gesellschaft haben und dass sie dies in den Kämpfen ausdrücken. Auf der anderen Seite die klassische orthodoxe Vorstellung, dass die Entwicklung der Produktivkräfte den Kapitalismus überwinden und den Kommunismus möglich machen. Sowohl Leninismus als auch die meisten linken kommunistischen Strömungen haben dabei eine sehr mechanische Vorstellung von Produktivkraft: sich aus der Konkurrenz entwickelnde Technologie und Ausweitung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. In der Möglichkeit, dass durch die gesteigerten Produktivkräfte die Produktion von Reichtum nicht mehr an die individuelle Maloche gebunden ist, sehen sie die Grundlage des Kommunismus. Sie gehen nicht auf den Widerspruch ein, dass sich die „Produktivkräfte“ nicht einfach in der „falschen Hand“ befinden, sondern dass es eben die konkrete Anwendung der Technologie (Fliessband), der Wissenschaft (Taylorismus) und die Form der Vergesellschaftung („Globalisierung“) ist, die das Kommando des Kapitals über die ArbeiterInnen ausmacht. Lösung dieses Widerspruch kann sich nur in den Kämpfen der ArbeiterInnen ergeben, die sich und damit ihre Produktivkraft auf eigene Weise vergesellschaften/globalisieren und dabei auch die Produktionsbedingungen materiell verändern. So weit, so allgemein.
Kämpfe müssen sich also auf den bestehenden Widerspruch zwischen gesellschaftlichen Möglichkeiten (enorme Reichtumsproduktion, gesellschaftliches Wissen, Technologie) und Realität (Maloche und relative Armut) praktisch beziehen. Ein zentrales Problem spielt dabei die ungleiche Entwicklung. Die Produktivkräfte existieren nicht einfach als „ein Stand der gesellschaftliche Produktivkräfte“. Der Stand der Technologie, der angewandten Wissenschaft, der Grad der Vergesellschaftung/gesellschaftlichen Arbeitsteilung etc. unterscheidet sich nach Sektor, Region etc. ArbeiterInnen arbeiten in unterschiedlich „entwickelten“ bereichen, sie beziehen sich in ihren Kämpfen daher unterschiedlich auf die Widersprüche und Möglichkeiten, die in den gesellschaftlichen Produktivkräften liegen. In Zonen der Unterentwicklung (wenig Investitionen, Investitionen in „arbeitsintensive“ Produktion) wird sich die „Notwendigkeit des Kommunismus“ in erster Linie darin ausdrücken, dass die ArbeiterInnen den Mangel und die arbeitsintensive Produktion als Konsequenz der kapitalistischen Produktionsweise angreifen. In den Zentren der Entwicklung drückt sich der Widerspruch vor allem darin aus, dass für die ArbeiterInnen trotz „moderner Technologie“ und „Überfluss“ das Leben weiterhin durch relative Armut und Maloche bestimmt wird. Eine kommunistische Revolution wird die vom Kapitalismus geschaffene Trennung von „Entwicklung- und Unterentwicklung“ überwinden müssen. Wir müssen uns fragen, von welchen Punkten der unterschiedlichen Entwicklung aus dieser Prozess beginnen und sich entwickeln kann. Welche Kämpfe können sich als eine neue „Produktivkraft“ vergesellschaften und aufgrund ihres materiellen Rahmens (Stand der Technologie, Wissens etc.) die Hoffnung auf eine andere Art und Weise der Produktion ausdrücken?
Es ist nicht einfach, Beispiele dafür zu finden: Es bestand in den ArbeiterInnenkämpfen der Geschichte immer ein Zusammenhang zwischen „Stand der Produktivkräfte“ und Utopie. Die Bauernrevolten hatten weniger eine „gesellschaftliche Utopie“, eher die Utopie, das Land in eigener „anarchistischer“ Regie zu bebauen. Die Fabrikkämpfe am Anfang des Jahrhunderts hatten die gesellschaftliche Utopie des Sozialismus, in der die Betriebe von den ArbeiterInnen kontrolliert werden. Die Kämpfe der 60/70er Jahre drückten die zunehmende „Verwissenschaftlichung“ der Produktion, den Terror durch Maschinerie und die Entfremdung vom Produkt aus. Die Grenzen von „Arbeiterkampf“ und anderen Bewegungen verschwammen aufgrund der zunehmenden Vergesellschaftung der Produktion. Die Zentren der Bewegung (Grossfabriken und Universitäten) eignete sich viele „produktive Möglichkeiten“ an. Die Arbeitsteilung und das Fliessband in der Fabrik wurde in den Abteilungsstreiks genutzt, Fabrikbesetzungen schufen Raum, moderne Kommunikationsmittel wurden eingesetzt, Universitätsstrukturen angeeignet etc. Die Bewegung wurde dadurch selbst „produktiver und kreativer“ und trug so die entwickelten Möglichkeiten in andere Bereiche der Gesellschaft. Sie reflektierte den „Stand der Produktivkräfte“ in ihren Forderungen und Hoffnungen: Im Vordergrund der Kämpfe stand weniger die „Übernahme“, als die Ablehnung der gesamten Produktionsweise, die Kritik an der Arbeit. Utopie war weniger die „Aneignung der Fabrik“, als ihre vollständige Automatisierung.
- Klassenzusammensetzung drückt den inneren Zusammenhang und die Tendenz der Klassenkämpfe aus
Die oben beschriebenen Probleme stellen die Frage nach einer Strategie innerhalb des Klassenkampfs. Eine Strategie muss sich auf die Tendenzen des Kapitalismus beziehen:
Im gesellschaftlichen Produktionsprozess schafft und verbindet der Kapitalismus aufgrund des Klassenkonflikts Bereiche von Entwicklung und Unterentwicklung, darin besteht das Wesen seiner Dynamik. Innerhalb von High-Tech Fabriken gibt es Abteilungen, die sich auf unterschiedlichem „technischem“ Niveau befinden. Diese Fabriken sind wiederum verbunden mit Zulieferbetrieben unterschiedlichster Entwicklung bis hin zur „3.Welt-Klitsche“ etc. Diese unterschiedlichen Stufen der Entwicklung sind die materielle Grundlage für die Ungleichmäßigkeit und Spaltungen im Klassenkampf. Gelingt es den Kämpfen der ArbeiterInnen, sich entlang diesen Linien der ungleichen Entwicklung zu generalisieren, verbinden sich also Kämpfe unterschiedlicher Entwicklungsstufen, so führt dies zu einer Angleichung der Produktionsbedingungen. Die Kämpfe der AutomobilarbeiterInnen der 60er B 80er haben dazu geführt, dass die sich Bedingungen in den Kernfabriken weltweit angeglichen haben, sowohl technisch, als auch „für“ die ArbeiterInnen (ähnliche Lohnhöhe im Bezug auf das Produkt), und das bis hin in die ehemaligen Zonen der Unterentwicklung (Brasilien, Mexiko etc.). Das Kapital antwortet auf die „politische Klassenzusammensetzung“ (Vereinheitlichung des Klassenkampfs) mit einer „technischen Neuzusammensetzung“, mit der Neuschaffung der ungleichen Entwicklung auf höherer Stufe: Regionen werden „de-industrialisiert“, in anderen setzt ein technologischer Sprung nach vorn ein. Die alten Kernfabriken der 70er werden zerlegt, Ketten von Zulieferbetrieben geschaffen, die Produktion „globalisiert“ etc. Das Kapital schafft neue Zentren, von denen die Generalisierung zukünftiger Kämpfe abhängt, seien es Entwicklungszonen in Asien oder Lateinamerika oder einzelne Projekte wie z.B. die Smart-Fabrik. Die materielle Grundlage für den inneren Zusammenhang zukünftiger Kämpfe ist damit vorweggenommen. Die Strategie befindet sich somit nicht getrennt in den Köpfen von RevolutionärInnen, sondern sie liegt im Prozess der materiellen Entwicklung (Arbeitsteilung, angewandte Wissenschaft, Maschinerie etc.) selbst.
- Aufgabe von RevolutionärInnen ist die Analyse der kapitalistischen Entwicklung, um den Kämpfen ihre Möglichkeiten offen zu legen
Die besondere Rolle von RevolutionärInnen ergibt sich nicht aus einem „politischen Bewusstsein“, dass den Klassenkämpfen fehlt. Sie ergibt sich aus dem Überblick und der Interpretation dessen, was materiell vor sich geht. Die Möglichkeit der Selbstorganisierung von Kämpfen, ihre Macht und die Punkte an denen sie sich ausweiten und generalisieren lassen sind durch die Produktionsbedingungen gegeben. Aufgabe von RevolutionärInnen besteht darin, den Kämpfen mit ihrem materiellen Rahmen auch ihre gesamten Möglichkeiten aufzuzeigen. Dabei geht es nicht nur um einzelne Kämpfe, sondern besonders um Klassenbewegungen, die innerhalb des Netzes von Entwicklung und Unterentwicklung stattfinden. Hier besteht unsere Aufgabe darin, die Verbindungen zwischen verschiedenen Bereichen und die politischen Gründe für ihre Ungleichheit klarzustellen. Die Analyse der materiellen Grundlage von ArbeiterInnenkämpfen bestimmt auch, wo wir als RevolutionärInnen intervenieren. Es reicht nicht, einfach den spontanen Mustern der Klassenkämpfe zu folgen und die Kämpfe nur zu dokumentieren. Wir müssen die Punkte erkennen, die für zukünftige Kämpfe von strategischer Bedeutung sind. Diese Punkte sind nicht zwangsläufig die „entwickeltsten“, oft sind es die Verbindungspunkte zwischen verschiedenen Stufen der Entwicklung (Transport zwischen verschiedenen Produktionsstätten, Datenverarbeitung zwischen Produktion und Verteilung) von denen eine Generalisierung von Kämpfen abhängt. für diese Aufgaben brauchen wir mehr als nur einen Austausch, wir brauchen eine gemeinsam organisierte Diskussion und Praxis.
- Struktur/Vorschlag für die Diskussion
- a) Verständnisfragen
- b) Besteht ein Zusammenhang von Produktionsweise und Formen des Arbeiterkampfs? Worin unterscheiden sich z.B. Call Center und Fabrik, welche Bedeutungen für mögliche Kämpfe haben diese Unterschiede?
- c) Ist der „unmittelbare Produktionsprozess“ der zentrale Ort des Klassenkampfs? Welche Rolle spielen andere „gesellschaftliche Bereiche“ (Stadtteil etc.)?
- d) Gibt es „zentrale Punkte“ in Kampfzyklen und wodurch ergeben sie sich?
- e) Welche politische Konsequenzen hat die Vorstellung von Klassenzusammensetzung, welche politischen Gefahren bestehen (Reduzierung des Blickwinkels auf bestimmte Bereiche der Ausbeutung etc.)?
- f) Welche Tendenzen für eine „neue Klassenzusammensetzung“ sehen wir? Wo entstehen Punkte, an denen zukünftige Kämpfe eine Macht entwickeln und sich verallgemeinern können?
- Zusammenfassung der Diskussion zu „Klassenzusammensetzung“ auf dem April-Treffen in Oberhausen
1) Zusammenfassung der Diskussion
2) Kritik an der Diskussion
3) Texthinweise
1) Zusammenfassung der Diskussion
Da nicht alle den Text in den „Materialien“ gelesen hatten, gab es eine mündliche Präsentation der kürzeren Version. Die anschliessende Diskussion verlief in erster Linie frei, d.h. nicht entlang des Papiers. Die Diskussion lässt sich grob in vier Frageblöcke zusammenfassen:
- a) Ist der Begriff der Klassenzusammensetzung und seine Entstehung nicht an eine besondere historische Situation gebunden und lässt sich von daher nicht ohne weiteres auf jede bzw. die aktuelle Situation anwenden?
- b) führt die Vorstellung von Klassenzusammensetzung nicht zu einer Klassifizierung der Klasse in unterschiedliche Kategorien von ArbeiterInnen? Wird den „objektiven Bedingungen“ nicht zu viel Bedeutung eingeräumt und die Spontanität, Erfahrungen und Beispielhaftigkeit von konkreten ArbeiterInnenkämpfen unterschätzt?
- c) Geht es um die Ermittlung eines zentralen Subjekts oder eines Bereichs der eine zentrale Rolle im Klassenkampf spielt – oder um die Erfahrungen von allen Ausgebeuteten?
- d) führt die Strategie von Klassenzusammensetzung nicht zu einer Trennung von RevolutionärInnen und den wirklichen Ausbeutungsbedingungen und somit zu einem soziologischen Verständnis von und Verhältnis zum Klassenkampf?
zu a)
Wir waren uns nicht einig, wie wichtig die Diskussion über den Ursprung des Begriffs der Klassenzusammensetzung für unsere Debatte ist. Es gab im Groben zwei Linien:
Erstens:
Der Begriff der Klassenzusammensetzung hat seinen Ursprung in einer konkreten historischen Situation. Er wurde in Italien in den frühen 60er Jahren innerhalb der marxistischen Diskussion entwickelt. Die damalige Situation war nicht durch heftige ArbeiterInnenkämpfe geprägt. Es gab erst minoritäre Anzeichen neuer Konflikte. Der Begriff der Klassenzusammensetzung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Entwicklung zentraler Sektoren in dieser historischen Situation: des Metall bzw. Automobilsektors. Mit Hilfe dieses Begriffs sollte der Zusammenhang zwischen den materiellen Veränderungen innerhalb dieser Sektoren und der Entwicklung von ArbeiterInnenmacht erklärt werden. Der Begriff lässt sich daher nicht ohne weiteres auf andere historische Situationen anwenden, wie es seit dem oft geschehen ist. In den letzten zwanzig bis dreissig Jahren hat das Kapital keine zentralen Sektoren mehr hervorgebracht, daher hat auch der Begriff der Klassenzusammensetzung seine wesentliche Grundlage verloren (Hinweis auf den Artikel von Battagia – siehe Texthinweis)
Zweitens:
Der Begriff der Klassenzusammensetzung beschreibt eher eine Methode: aus den materiellen Bedingungen und der Entwicklung des Kapitalverhältnisses die Möglichkeiten für ArbeiterInnenmacht und -subjektivität erklären. Das vorliegende Papier zu „Klassenzusammensetzung“ hätte auch geschrieben werden können, ohne den Begriff Klassenzusammensetzung zu benutzen. Bereits vor der Diskussion in Italien in den frühen 60ern, vor der Einführung des Begriffs „Klassenzusammensetzung“ wurde über den engen Zusammenhang von Produktionsweise und Form des ArbeiterInnenkampfs diskutiert. (Hinweis auf Artikel von Lewis „Sozialismus und Proletariat“ – siehe Texthinweise)
Dass das Kapital momentan keinen zentralen, länder- und branchenübergreifenden Sektor hervorbringt ist tatsächlich ein Problem. Das Problem besteht weniger darin, dass wir unsere Begriffe nicht mehr anwenden können, als dahingehend, dass die Klasse keine gemeinsamen Bezugspunkte mehr findet, an denen sie ihre Kämpfe verallgemeinern kann.
zu b)
In der Diskussion wurde versucht, die unterschiedlichen Anwendungen des Begriffs der Klassenzusammensetzung zusammenzufassen:
- als Instrument, um ArbeiterInnen zu klassifizieren, z.B. im Sinne der marxistisch-leninistischen Linken, die der ArbeiterInnenklasse ein statisches Raster unterschiedlichen Klassenbewusstseins überstülpt und somit neue Kategorien schafft; ArbeiterInnen können aus diesem Blickwinkel nur als Objekte erscheinen
- als Analysewerkzeug auf unserer Suche nach Bedingungen, unter denen sich kollektive Auseinandersetzungen entwickeln, nach Orten, an denen wir an der Diskussion und an Kämpfen gegen die Ausbeutung teilnehmen können; wir selbst sehen uns als Teil der Klassensubjektivität
- als Methode, um das dialektische Verhältnis von Entwicklung des Kapitalverhältnisses und Klassensubjektivität zu verstehen; der Begriff der Klassenzusammensetzung ist an den Begriff der organischen Zusammensetzung des Kapitals angelehnt; er beschreibt den Zusammenhang zwischen der Anhäufung von toter Arbeit (Maschinerie) gegenüber der lebendigen Arbeit, der den ArbeiterInnen zum einen als Kapitalkommando gegenübertritt (Kontrolle durch Maschinerie, Kooperation), zum anderen aber die kommunistische Tendenz innerhalb des Kapitalismus ausdrückt (Vergesellschaftung, Reduzierung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit)
Die Diskussion kreiste dann mehr oder weniger um die Frage: welches Verhältnis besteht zwischen objektiven Bedingungen und Subjektivität von ArbeiterInnen?
Klassifizierung
Es besteht die Gefahr, dem alten ML-Schema zu verfallen und die ArbeiterInnen in verschiedene Kategorien zu packen. Andererseits müssen wir uns dem Problem stellen, dass die ArbeiterInnen durch den kapitalistischen Produktionsprozess klassifiziert und in verschiedene Kategorien gepackt werden. Diese „Klassifizierung“ (z.B. gelernte Facharbeiterin in einem Kleinbetrieb für Gartenzwergproduktion) muss „von innen“ her aufgebrochen werden. Die Analyse der besonderen Bedingungen darf nicht statisch erfolgen. Sie muss versuchen, vom konkreten (besondere Bedingungen der ArbeiterIn) zum allgemeinen (globaler Klassenkonflikt) zu kommen. Ähnlich verhält es sich mit dem dritten Punkt in der Einordnung der Anwendung des Begriffs der Klassenzusammensetzung: das Verhältnis von ArbeiterIn zur organischen Zusammensetzung des Kapitals als Grad der Unterwerfung und Möglichkeit der Befreiung. Hier sehen sich ArbeiterInnen in einem sehr unterschiedlichen Verhältnis gegenüber den „Produktivkräften“ (indische Soft-Warebude neben Teppich-Sweat-Shop). Wir müssen uns dem Problem stellen, wie diese Unterschiede im Kampf überwunden werden können.
Spontanität und Erfahrungen
Es wurde hinterfragt, in wie weit sich aus den „objektiven Bedingungen“ ablesen lässt, ob und wie ArbeiterInnen kämpfen werden. Es wurde betont, dass wir uns die konkreten Kämpfe anschauen müssen. Auch Kämpfe in unbedeutenden Bereichen der Ausbeutung (Gartenzwergproduktion) können Beispielcharakter für andere Kämpfe haben. Dazu wurde angemerkt, dass es natürlich immer eine Spontanität von ArbeiterInnenkämpfe gibt und dass dadurch auch Kämpfe in unbedeutenderen Sektoren eine große Bedeutung erlangen können, dass wir aber in unserer politischen Analyse diese Spontanität nicht als Grundlage nehmen können. Es ist gut, dass es diese Spontanität gibt und nicht alles nach einem Schema verläuft. Neben der Analyse von konkreten Kämpfen müssen wir aber auch versuchen, die materielle Grundlage für die momentane Krise im Klassenkampf und die Bedingungen für kommende Kämpfe zu verstehen. Dabei können wir uns nur auf die besonderen und unterschiedlichen Bedingungen innerhalb der Ausbeutung beziehen.
zu c)
Es wurde kritisiert, dass mit dem Begriff der Klassenzusammensetzung versucht würde, ein zentrales Subjekt innerhalb des Klassenkampfs herauszufiltern. Wichtig seien die „proletarischen Erfahrungen“ von allen ArbeiterInnen, nicht nur innerhalb der Betriebe, sondern auch im Wohnbereich, als MigrantInnen etc. Der Begriff der Klassenzusammensetzung könne uns nur helfen, konkrete Situationen von ArbeiterInnen genauer zu verstehen, zum Beispiel, warum bestimmte Spaltungen innerhalb eines Betriebes auftauchen.
Wir haben uns dann gefragt, in wie weit wir alle zwar nicht so sehr nach einem „besonderen Subjekt“, sondern nach „besonderen“ Bedingungen innerhalb der Ausbeutung suchen, weil wir sie politisch für besonders wichtig halten. Auch CRO, die immer wieder die unmittelbare Erfahrung aller ArbeiterInnen in den Vordergrund stellen, betonen die Bedeutung der industriellen Produktion, der wissenschaftlichen Betriebsführung usw. Wir waren uns einig, dass wir, wenn wir die Chance haben, eher in einer Großfabrik arbeiten würden, als in einer Pommesbude. Andererseits ist klar, dass wir Erfahrungen/Kämpfe von anderen ArbeiterInnen nicht ausblenden sollten.
zu d)
Schließt an die Diskussion über unser eigenes Verhältnis zum Kampf gegen die Ausbeutung an. Die Analyse der Klassenzusammensetzung wurde oft von Funktionären der politischen Parteien und Gewerkschaften als Mittel eingesetzt, um ihren Organisationen trotz Abgetrenntheit von den Klassenauseinandersetzungen mehr Einfluss zu verschaffen. Nur sie oder andere „Wissenschaftler“ konnten diese Analyse durchführen, weil sie Mittel und Zeit dazu besaßen, die ArbeiterInnen nicht. Eine Untersuchung ist nur revolutionär, wenn sie von den ArbeiterInnen selbst durchgeführt wird – Selbstuntersuchung. Wir können diese Selbstuntersuchung durch Flugblätter etc. unterstützen. Die Analyse der Klassenzusammensetzung muss so aus der konkreten Intervention, aus den konkreten Erfahrungen erfolgen, nicht als getrennte Analyse, um dann daraufhin in einem bestimmten Bereich zu intervenieren.
Dem wurde entgegengehalten, dass wir uns als RevolutionärInnen nicht einfach nur zufällig in der Ausbeutung bewegen, bzw. diese nur dann analysieren, wenn wir auf bestimmte Kämpfe stoßen. Wir müssen fähig sein, besondere Tendenzen im Klassenkampf zu verstehen und zu fördern.
Bei dieser Diskussion wurde deutlich, dass wir sehr abstrakt zwei Begriffe gegeneinanderhalten: „Klassenzusammensetzung“ und „proletarische Erfahrungen“. Es geht nicht um diese Gegenüberstellung, sondern um das Verhältnis von konkreten Erfahrungen und Aktivitäten innerhalb der Ausbeutung und die Analyse der besonderen Entwicklung in bestimmten Bereichen. Hier müssen wir auch unsere unterschiedlichen Bedingungen (Situation der Gruppen, Situation in unterschiedlichen Regionen etc.) berücksichtigen.
2) Kritik an der Diskussion
Es gab zwei Kritiken an der Diskussion:
- a) Die Diskussion blieb zu allgemein. Wir hätten den Begriff der Klassenzusammensetzung konkreter in Hinblick auf die Situation und Untersuchung der Call Center oder einer anderen konkreten Erfahrung diskutieren sollen.
- b) In der Diskussion wurden die Begriffe „Klassenzusammensetzung“ und „proletarische Erfahrungen“ nur ideologisch verwendet und gegeneinander gehalten. Was die einzelnen nun genau unter Klassenkampf verstehen und was sie wirklich tun ist so nicht auf den Tisch gekommen.
3) Texthinweise
„Massenarbeiter und gesellschaftlicher Arbeiter – einige Bemerkungen über die ’neue Klassenzusammensetzung'“ – Roberto Battaggia, wildcat-Zirkular Nr.36/37 bzw. Primo Maggio Nr.14 (Winter 1980/81)
„Zusammensetzung der Arbeiterklasse und Organisationsfrage“ – Sergio Bologna, Internationale Marxistische Diskussion 35, Merve Verlag Berlin
„Composizione di classe e teoria del partito alle origine del movimento consiliare“ – Operai e Stato, Milano 1972
„Organische Zusammensetzung des Kapitals und Arbeitskraft bei Olivetti“ – Romano Alquati, TheKla5
„Composizioni del capitale e forza-lavoro alla Olivetti“ – Quaderni Rossi nr. 2, 3
„The Militant Proletariat“ – Austin Lewis, Chicago 1911
dtsch. Übersetzung; „Das militante Proletariat“ – Austin Lewis, in: Karlsruher Stadtzeitung (wildcat) (Hrsg.): Die Wobblies, Band 2, Karlsruhe 1984
„Forcing the Lock? The Problem of Class Composition in Italian Workerism“ – Steve Wright, Monash Phil.Diss. 1988
„Der Kommunismus“ – Jean Barrot, Weltcommune, Wissenschaftliche Zeitschrift der kommunistischen Bewegung, 1/94
Quelle: kolinko | 4/2001… vom 5. März 2019
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitswelt, Widerstand
Neueste Kommentare